Es ist eine kleine Sensation, dass beim Deutschen Reporterpreis, der alljährlich von Journalisten für Journalisten vergeben wird, David Schraven und Jan Feindt für ihre gezeichnete Neonazi-Studie „Weiße Wölfe“ ausgezeichnet wurden. Der Comic zeige wegweisend, „auf wie vielen Kanälen man eine gute Geschichte erzählen könne“, begründete die Jury Anfang Dezember.
„Comic Journalism“ wurde viele Jahre ignoriert; der maltesisch-amerikanische Comickünstler Joe Sacco (dem das Cartoonmuseum in Basel bis April 2016 eine Retrospektive widmet) hat ihn salonfähig gemacht. Er ist der Pionier der gezeichneten Berichterstattung. Wie „New Journalism“-Begründer Hunter S. Thompson setzt er sich dabei immer wieder selbst in Szene, um Authentizität und Faktentreue zu belegen. Comic-Journalisten wie Patrick Chapatte oder Dan Archer nennen diesen visuellen Ansatz „transparente Subjektivität“.
Sacco, Chapatte und Archer wühlen bei ihren Recherchen im Schatten des medialen Blitzlichtgewitters in den gesellschaftlichen Wunden, um die oft verschwiegenen Parallelgeschichten zu erzählen. Reporter sollten „ohne Vorurteile auf der Seite der Leidenden stehen“, erklärt Sacco in seinem Manifest“zum Comic-Journalismus. Kein Wunder also, dass Comicjournalisten von der Gefahr nicht explodierter Streubomben im Libanon (Chapatte), den Folgen des Menschenschmuggels in Nepal (Archer) oder den Kriegsfolgen in „Bosnien“, „Palästina“ und „Gaza“ (Sacco) erzählen. Von Sacco stammen auch die „Reportagen“ über die tschetschenischen Flüchtlinge in Inguschetien oder die afrikanischen Boat-People auf Malta.
Nun ist „Sarajevo“ erschienen: drei seiner frühen Erzählungen aus der bosnischen Hauptstadt kurz nach Kriegsende 1995. Die Berichte des großspurigen Kriegsveteranen und Mittlers Neven, des depressiven Fronthelfers Soba sowie des draufgängerischen Radiojournalisten Kasey bilden die Kristalle eines grafisch-journalistischen Kaleidoskops, durch das Sacco die bosnische Wirklichkeit zeigt.
Das Interesse an Comicreportagen ist groß. In Frankreich hat sich mit „La Revue Dessinйe“ sogar ein entsprechendes Fachmagazin etabliert, an dem renommierte Zeichner wie Manuele Fior, Йtienne Davodeau, Pascal Rabatй oder Pierre Christin mitwirken.
Die Übergänge bei Comicreportagen sind fließend. Es ist kaum möglich, festzulegen, ob die Berichte aus der Ukraine und Russland des italienischen Comiczeichners Igort, die Flüchtlingsgeschichte „Unsichtbare Hände“ des Finnen Ville Tietäväinen, Paula Bullings Asylreportage „Im Land der Frühaufsteher“ oder Reinhard Kleists Reiseskizzen aus einem irakischen Flüchtlingslager eher journalistisch oder erzählerisch sind. Das verbindende Element ist die Recherche vor Ort, die in Zeiten des Agenturen-Journalismus zum Standortvorteil wird.
Text: Thomas Hummitzsch
Foto: Joe Sacco / Edititon Moderne
Lektüretipps
Sarajevo von Joe Sacco, Edition Moderne, 176 S., 26 Euro
Reportagen von Joe Sacco, Edition Moderne, 192 S., 28 Euro
Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist, Carlsen, 152 S., 17,90 Euro
Im Land der Frühaufsteher von Paula Bulling, Avant, 125 S., 17,95 Euro
Unsichtbare Hände von Ville Tietäväinen, Avant, 216 S., 34,95 Euro
Berichte aus Russland von Igort, Reprodukt, 176 S., 24 Euro