Schriller
Chronist des Schreckens
Edgar Hilsenrath zum 80. Geburtstag
"Hat
der liebe Gott nicht die Unschuld erfunden, damit sie zertreten wird ...
hier auf Erden?" Das düstere Resümee, das sich hinter der rhetorischen
Frage versteckt, stammt aus einem der eigenwilligsten und bedeutendsten
Romane der Nachkriegsliteratur: "Der Nazi & der Friseur", 1970 in den
USA erschienen, wurde zu einem Welterfolg, in Deutschland freilich wollte
ihn lange Zeit keiner lesen, erst 1977 fand sich ein kleiner Kölner Verlag,
der das ungewöhnliche Buch herausbrachte.
Es
ist die bizarre Geschichte des SS-Oberscharführers und Massenmörders Max
Schulz, der sich nach dem Krieg die Identität seines im KZ ermordeten
jüdischen Jugendfreundes Itzig Finkelstein überstülpt, nach Palästina
ausreist und dort mit Leidenschaft am Aufbau des israelischen Staates
mitwirkt, am Schluss dennoch von der Vergangenheit eingeholt wird und
schließlich an jener Angst zugrunde geht, die er einst seinen Opfern eingejagt
hatte. Der antisemitische Schlächter als jüdischer Patriot, der Täter,
der sich als Opfer aufspielt, teuflisch in seiner mediokren Lächerlichkeit,
banal in seiner mörderischen Dämonie - ein solches kleinbürgerliches Monster
zum Romanhelden zu erheben, dessen verwerflichen Erlebnisse überdies mit
kreischendem Humor dargeboten werden - das musste hierzulande befremden,
widersprach jeder, aber auch wirklich jeder politischen Korrektheit.
Urheber
der Provokation: Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath. Dessen Leben gleicht
einer abenteuerlichen, unwirklich anmutenden Odyssee, außergewöhnlich,
einzigartig und doch auch exemplarisch für die geschundenen, entrechteten
Protagonisten des 20. Jahrhunderts. Am 2. April 1926 wird er als Sohn
eines jüdischen Kaufmanns in Leipzig geboren. Die Schulzeit verbringt
er in Halle an der Saale, als einziges jüdisches Kind in seiner Klasse.
1938, kurz vor den Pogromen des 9. November, wird er mit Mutter und Bruder
in die Bukowina zu den Großeltern geschickt, während der Vater in Frankreich
untertaucht.
Als
in Rumänien die Faschisten die Macht übernehmen, wird es für den jungen
Hilsenrath lebensbedrohlich. Er flieht, wird aber im Oktober 1941 in ein
ukrainisches Getto deportiert, wo Hunger, Kälte und Typhus herrschen.
Die Russen befreien zwar das Lager im April 1944, verhaften aber trotzdem
alle jungen Männer, weil sie Arbeitskräfte für die Kohlengruben im Donezbecken
brauchen. Hilsenrath kann sich erneut davonmachen, geht zu Fuß zurück
nach Rumänien, wandert dann über den Landweg nach Palästina aus, wo er
als Tellerwäscher, später als Feldarbeiter in einem Kibbuz arbeitet. Eine
innere Beziehung zum entstehenden israelischen Staat will sich allerdings
nicht einstellen, er kommt mit der euphorischen Aufbaumentalität nicht
zurecht, vermisst das urbane Umfeld und die intellektuellen Herausforderungen.
Nach
zwei Jahren fährt er nach Frankreich, wo er seinen Vater wieder sieht,
geht 1951 nach New York und schlägt sich dort als Laufbursche und Kellner
durch, während er an seinem ersten Roman "Nacht" schreibt. Über zwanzig
Jahre bleibt er in den USA, 1975 entschließt er sich, nach Deutschland,
nach Berlin zu gehen, wo er bis heute lebt.
Hilsenraths
großes Thema ist die "groteske Seite des Holocaust", wie er selbst einmal
in einem Interview bekannte. Seine Bücher - zu den bekanntesten gehören
"Moskauer Orgasmus" (1979), "Fuck America. Bronskys Geständnis" (1980)
und "Das Märchen vom letzten Gedanken" (1989) - sind erschütternde Zeugnisse
meist selbsterlebter Schreckensszenarien, aufwühlende und zutiefst humane
Erinnerungsdiskurse, die in einer teils überbetont nüchternen, oft aber
anarchischen, enthemmten, zuweilen pornografischen Sprache die 'tausendjährigen'
Verbrechen, die Hölle, die seelischen Wunden der Opfer, mithin die menschlichen
Abgründe angesichts einer aus den Fugen geratenen, im eigentlichen Sinne
'ver-rückten' Welt ebenso plastisch wie erschreckend vor Augen führen.
Dabei macht sein schriller Humor das Grauen, von dem erzählt wird, erträglich
und - er potenziert es zugleich. Letztlich bleibt die bittere Erkenntnis,
dass die "Schwachen und Wehrlosen" von den "Starken überrumpelt, niedergeknüppelt,
vergewaltigt, verhöhnt" werden, wie es an einer Stelle in "Der Nazi &
der Frisör" heißt. Und: "Ein Antisemit ist wie ein Krebskranker. Was zu
tief verankert ist, kann man nicht mehr herausschneiden." Von Zukunftshoffnung
zeugt dies nicht.
Obwohl
das Werk allmählich ins literarische Bewusstsein sickert, nicht zuletzt
dank der verdienstvollen Neuauflagen im kleinen Dittrich Verlag und der
neuen Taschenbuchausgaben bei dtv: Edgar Hilsenrath, den entfesselten
Erzähler zwischen ausuferndem Sprachtumult und unprätentiöser Lakonie,
zwischen derbem Realismus und poetischer Verklärung - ihn gilt es nach
wie vor zu entdecken.
Holger
Dauer
© TourLiteratur
/ Autor
Alle Rechte vorbehalten
Eine gekürzte
Fassung des Artikels ist zuerst in der "Allgemeinen Zeitung",
Mainz (vom 22. April 2006) erschienen.
Buchcover
(von oben nach unten):
1) Hilsenrath, Edgar: Der Nazi & Der Friseur. Köln: Dittrich
Verlag 2004. (= Gesammelte Werke. Hrsg. v. Helmut Braun. Bd.2.)
2) Braun, Helmut: Ich bin nicht Ranek. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath.
Köln: Dittrich Verlag 2006. [Erscheint September 2006]
© Dittrich
Verlag
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