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Rezensionen > Barker, Nicola: Nadeln im Ohr |
Nicola Barker:
Nadeln im Ohr. Roman. Nicola Barker sagt man eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer neuesten Hauptfigur nach: Scheu vor Menschen zeichnet sie beide aus. Sie selbst bezeichnet sich als Perfektionistin. Berühmt wurde sie mit unverfrorenen und kauzigen Geschichten. "Nadeln im Ohr" passt sich in diese Reihe nahtlos ein. Mit 16 lebt das Mädchen Medve mit ihrem kleinwüchisgen Vater, der geliebt-verachteten jüngeren Schwester und dem kleinen, altklugen und todessehnsüchtigen vierjährigem Bruder in einer Bruchbude von ehemaligem Hotel auf einer Insel. Abhanden gekommen sind eine erfinderische und schrullige, auf dem Selbstfindungstrip befindliche Mutter, der künstlerische, von Medve tief bewunderte Bruder und die verhasste hübsche Schwester mit dem bezeichnenden Namen Poodle. Wie diese seltsame Teilfamilie ihren Lebensunterhalt bestreitet, bleibt halb im Dunkeln. Durch Bekanntschaften der Mutter landet der halbwüchsige LeRoux bei der Truppe im Hotel. Er ist unangepasst, sowohl was seine Kleidung als auch die Körperpflege betrifft. Im Kreise von Pubertierenden ist das die ideale Voraussetzung, um bewundert und begehrt zu werden. Die Selbstzweifel und Verzweiflungen der 16-jährigen Medve toben sich aus. Zwischen unmäßiger Sehnsucht, Leidenschaft und angewidertem Abwenden reagiert ihr pubertierendes Sein auf die jung-männliche Herausforderung. Anlocken durch Wegstoßen - das hat noch nie funktioniert. Und ihr Wesen ist ihr auch noch im Weg: unruhig, aggressiv und ständig wie wild gestikulierend. Nach einem missglücktem Angelausflug - welch bezeichnendes Bild! -, der sein fulminantes Ende in einer stattlichen Rauferei im Boot findet, wird Medve von allen anderen empfindlich hereingelegt und sinnt auf Rache. Ihre doppelspielige Schwester hilft bei der Durchführung der Pläne und verfolgt gleichzeitig eigene Ziele. Zum Schluss ist Medve völlig blamiert, allein, verlassen, ohne Mutter und ungeliebt von sich selbst und der Welt. Plötzlich taucht auch die schönheitsoperierte Poodle wieder auf, aber nur, um wie LeRoux die Insel überhastet wieder zu verlassen. Medve ist nach dessen Verschwinden völlig mit sich allein. Trotzdem: erfolgreich durchsteht sie den Rest ihrer Pubertät. Jahre später verliert sie die verhasste Schwester und erkennt, dass der Hass nicht gegen sie, sondern gegen sich selbst gerichtet war. Vergebung macht sich in ihr breit. Der Amerikaner würde sagen "the plot thickens", denn sie erfährt auch, wie die überhastete Flucht LeRoux' zustande kam. Um mit sich ins Reine zu kommen, trifft sie ihn Jahre nach der ersten Begegnung wieder. Er betreibt eine Praxis für Akkupunktur und hat sich Teile seiner seltsamen Persönlichkeit bewahrt. Die beiden tauschen ihre Lebenswege aus und verabschieden sich. Verabschieden sich nicht wirklich, denn er geht ihr nach und sie lässt ihn fahren - den Zug. Der Anfang einer neuen Leidenschaft? Die Liebe der Autorin zu leeren, tristen Landschaften findet sich in der hünenartigen, großfüßigen Medve wieder. Die 16-Jährige versteckt ihre innere Leere hinter unerbittlichem Humor und verbalem Sadismus gegen sich selbst, ihre Umwelt und den Leser. Eine Beziehung zum Leser will scheinbar aufgebaut werden, davon zeugen die permanenten rhetorischen Fragen, die unverhohlene Ansprache. Wer will da Aufmerksamkeit erheischen? Medve? Die Autorin? Doch Nähe will nicht recht aufkommen, dafür sorgen schon die nicht enden wollenden Sätze, die sich immer wieder um Dinge drehen, die dem Leser noch nicht bekannt sind, gar nicht bekannt sein können. Auch er bleibt allein, mit Andeutungen, Mutmaßungen, Ratlosigkeiten. Nicola Barkers Roman "Nadeln im Ohr" ist kein Buch, das in kleinen Häppchen gelesen werden will. Dafür fordert es permanente Aufmerksamkeit, innere Teilhabe und - Verständnis für ein Alter, das sich kaum verstehen lässt und das sich selbst oft genug des Verstehens verweigert. Wer den rasant-eigenwilligen Stil und das Tempo des Romans miterleben will, der nehme sich Zeit, viel Zeit. Beate Jung © TourLiteratur
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