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Rezensionen > Beigbeder, Frédéric: Windows on the World |
Frédéric
Beigbeder: Windows on the World. Roman
Der erfolgreiche Immobilienhändler Carthew Yorston hat endlich einmal Zeit für seine Söhne Jerry und David. Ein Ausflug ist geplant, Ziel ist das "Fenster zur Welt". So sitzen die drei bereits am frühen Morgen im "Windows on the World", der Luxus-Cafeteria im 107. Stockwerk des World Trade Centers in New York. Ein rundum schöner Tag soll es werden. Doch es ist der 11. September 2001, 8.30 Uhr. Exakt sechzehn Minuten später bohrt sich eine Boeing 767 in die Nordseite des Turms. Was folgt, ist zum unauslöschlichen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden: Ein weiteres Selbstmordkommando zerstört den zweiten Turm, die Zwillingsmonumente brechen in sich zusammen, mehr als dreitausend Menschen finden den Tod. Das sind die Fakten, nackte Zahlen, sterile Abstraktionen des Leids. Doch: Was ist in den Menschen vorgegangen, die das Inferno vor Augen hatten? Es gibt nur eine Möglichkeit, es zu erfahren, sagt Beigbeder: "Man muss es erfinden." 119 Minuten dauert es vom ersten Einschlag bis zum Einsturz des zweiten Turms, jeder einzelnen widmet Beigbeder ein eigenes Kapitel, ein apokalyptisches Minutenprotokoll über das ganz persönliche Martyrium der Opfer. Carthew Yorston, der Ich-Erzähler, versucht im Gefühlschaos zwischen hysterischer Verzweiflung und stummer Schicksalsergebenheit seine Hoffnung zu bewahren. Rasch wird klar: es gibt keine Rettung. Es bleibt: das Warten auf den Tod. Doch Carthew will nicht warten. Er wählt für sich und seine Kinder den "vertikalen Abschied", den Sturz aus dem Fenster, den Sprung ins Nichts. Das "Surfen auf den Feuerwolken" wird zum letzten Beweis menschlicher Würde. Und zeigt doch: Die Katastrophe schafft keine Helden, sondern nur "gehetzte Kreaturen". Sein Roman benutze die Tragödie als "literarische Krücke" gesteht Beigbeder ein. Darf man das? Selbstquälerische Reflexionen über den eigenen Schreibprozess durchziehen den Roman. Beigbeder mischt sich als zweites Erzähler-Ich immer wieder in den Gang der Dinge ein. Das kennt man aus seinen früheren Büchern. Beigbeder, der gelernte Werbetexter und gewiefte Medienprofi, kann nicht anders, er muss seine eigenen Befindlichkeiten ins epische Spiel bringen. Und das bedeutet bei ihm zumeist: egomanische Randbemerkungen, plakative Bonmots, tiefschwarzer Humor - als "Schutzschild gegen das Grauen". Das Buch hat Schwächen, keine Frage. Sprachlich bewegt es sich zuweilen auf dünnem Eis, schreckt vor trivialen Rührseligkeiten und metaphorischen Überhitzungen nicht zurück. Und trotzdem: Beigbeder, der Grenzgänger zwischen Understatement und Größenwahn, hat ein wichtiges, ein erschütterndes, ein großartiges Buch über die Macht der Imagination geschrieben, ergreifend im eigentlichen Sinn des Wortes. Nichts Besseres lässt sich über einen Roman sagen. Holger Dauer © TourLiteratur
/ Autor Eine leicht gekürzte Fassung der Rezension erschien zuerst unter dem Titel "Surfen auf Feuer" in der "Allgemeinen Zeitung", Mainz (Nr. 196 vom 24. August 2004, S. 17). Buchcover: © Ullstein Verlag, Berlin/München |