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Rezensionen > Wolfgang Hilbig: Der Schlaf der Gerechten |
Wolfgang
Hilbig: Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen. Mit seinem Roman "Das Provisorium" war Wolfgang Hilbig im Jahr 2000 an einer Grenze angekommen. Plötzlich verloren sich alle Spuren im Nichts. Vergangenheit und Gegenwart fielen ineinander und versperrten die Aussicht auf Kommendes. Unsägliches sagbar zu machen schien eine Aufgabe, der keine Sprache mehr gewachsen war. Verzweiflungsakte physischer und psychischer Art erwiesen sich zwar als beschreibbar, illustrierten unter der Hand aber nur die Ohnmacht des Einzelnen. Dieser saß gefangen in einem Leben ohne Kontur und Sinn, verschliss sich in letzten lautstark-lallenden Revolten gegen Alles und Jeden und erwartete darüber hinaus nur noch sein endgültiges Verstummen. Von hier aus konnten wirkliche Wege nur zurück führen. Zurück in die Kindheit. Zurück ins letzte Jahrtausend. Zurück in das eigene Werk. Letzteres ist in Hilbigs neuen Erzählungen - zwei von sieben in zwei thematische Blöcke gegliederte Texte sind tatsächlich Erstdrucke, die restlichen fünf überarbeitete Beiträge zu Zeitschriften und Anthologien überwiegend aus den neunziger Jahren - denn auch omnipräsent. Wer sich in des Autors Kosmos nur halbwegs auskennt, wird sich sofort heimisch fühlen. Wobei "heimisch" im Zusammenhang mit Wolfgang Hilbig immer eine unheimliche Doppelbedeutung zukommt. Denn man nähert sich seinen - sichtbaren wie unsichtbaren - Schauplätzen nie ohne Grauen. Durchdrungen scheint seine Welt von dunklen Verhängnissen. Unheimlich gleiten Zeiten, Orte und Figuren ineinander. Und man wird das Gefühl nicht los, der wankende Boden unter einem könne sich jederzeit auftun und das uns Vertraute verschlingen. Dies alles strapaziert zu einem Großteil den biographischen Background des Autors und bedient sich in der Regel einer das Pathetische nicht scheuenden Sprache, deren Grundfarbe Grau ist.
Aufwachsen innerhalb einer Familie, die den Verlust des im Kriege gebliebenen Oberhaupts verwinden muss, Erwachsenwerden in einer Welt, die, obwohl die ideologischen Prämissen gewechselt haben, in ihrer Angst machenden Abgründigkeit doch dieselbe geblieben ist, thematisieren auch die anderen Erzählungen des ersten Buchteils. Beeindruckend wie in "Die Flaschen im Keller" das von Generationen Zusammengetragene und Aufgetürmte eine kalt-faszinierende Form erhält, die den nicht zu stillenden Durst nach dem Anderen genauso evoziert wie die Gefahren eines sich in Süchte flüchtenden Realitätsverlangens. Beklemmend die Beschreibung der Frauenwelt in "Kommen", die Liebe durch Entzugsdrohungen zu erpressen sucht und doch nur Frustrierungen erzeugt, welche in mystischen Naturerlebnissen kulminieren. Und erschreckend, wie in der Geschichte "Der Schlaf der Gerechten" der Umzug eines Enkels in das Bett der verstorbenen Großmutter die Frage nach der Schuld oder Mitschuld an deren Tod aufwirft. Während die ersten vier Geschichten des Bandes die zeitliche Nähe des Erzählten suchen, ist der Gestus des Sich-Erinnerns eines in der unmittelbaren Gegenwart Lebenden an Episoden, die hinter ihm, in seiner Vergangenheit liegen, bestimmend für die Erzählhaltung der den Band abrundenden drei Texte "Der Nachmittag", "Die Erinnerungen" und "Der dunkle Mann". Der Leser bekommt es in ihnen mit einem Erzähler zu tun, der zurückkehrt an die Orte seiner Kindheit und Jugend, um festzustellen, dass die Zeit um sie herum an einem nicht näher bestimmbaren Punkt in der Vergangenheit angehalten wurde. In "Der Nachmittag" wird die auf drei Uhr stehengebliebene Meuselwitzer Bahnhofsuhr zum Symbol für diesen Stillstand, der fluchartig auf den Dingen liegt. Die nach der Wende heruntergekommene Stadt erscheint als ewige Baustelle und Torso, als Leib in Agonie. Nur die Herrschaft hat nach 1989 gewechselt, nicht das Gefühl, seine Existenz sinnlos zu vertun an diesem Ort im Abseits. Und doch trägt der Text auch Signale, die überraschen, weil man auf sie bei Hilbig nicht von vornherein gefasst ist. Der Sprache und den Wörtern wird nämlich durchaus attestiert, dass mit ihrer Hilfe etwas bewegt werden kann, allerdings - so der Erzähler - erst von der nächsten Generation, der gewünscht wird, sie möge die Sprengkraft engagierten Sprechens endlich für sich wiederentdecken.
Der den Band beschließende Text "Der dunkle Mann" schließlich ist zugleich sein längster und erzähltechnisch konventionellster. Reminiszenzen an die Romane "ICH" und "Das Provisorium" werden von ihm wachgerufen. Noch einmal erzählt der Autor von einem in sich zerrissenen Schriftsteller, den es weder im Westen noch im Osten hält, einem Bindungslosen, der gleichwohl Bindungen eingegangen ist und das Chaos seines zerstückelten Lebens nicht mehr in den Griff zu bekommen vermag. Er lässt ihn reisen zu einer Tagung nach Dresden, die aber nur der äußere Anlass ist, dorthin zurückzukehren, wo er seine Heimat hat, die allein ihm das Schreiben erlaubt. Am Küchentisch der Mutter in M. sitzend - einem jeden Hilbig-Leser seit langem bekannten Requisit -, versucht er, mit den Versäumnissen seines Lebens fertig zu werden, in dem er alles Wichtige mit einem Nebel von Worten umhüllte, der ihm allgemach die Verbindung zur Realität, zum wirklichen Leben und Erleben versperrte. Aus diesem Draußen begegnet ihm schließlich eine Gestalt, die seine geheimen Sehnsüchte besser zu kennen scheint als er selbst, der einst für ihn verantwortliche Stasi-Mann. Ein langes nächtliches Gespräch mit dem ihm äußerlich total Ähnlichen enthüllt ihm die eigene Nichtigkeit. Indem er ihn am Ende tötet, bestraft er sich gleichermaßen selbst, weil ihm bewusst geworden ist, an wieviel verdrängter Schuld er zu tragen hat. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
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des Autors Dietmar Jacobsen: Buchcover:
© S. Fischer Verlag,
Frankfurt/Main |