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Rezensionen > Irving, John: Bis ich dich finde |
John Irving:
Bis ich dich finde. Roman. Die Ungeduld der Medien war allenthalben spürbar: Seit dem Sommer letzten Jahres, als Until I find you, Irvings elfter Roman, in den USA erschien, wartete man hierzulande neugierig auf das Erscheinen der deutschen Fassung. Während die zwei Übersetzer (Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl) sich in den letzten sechs Monaten über Freizeitüberschuss sicherlich nicht beklagen konnten, da sie weit über tausend Seiten ins Deutsche zu übertragen hatten, vertrieben sich die Journalisten der literarischen Feuilletons, allen voran die Journalistinnen der lesefördernden Zeitschrift Brigitte, die Wartezeit mit Reisen nach Vermont, wo der Schriftsteller bereitwillig und wiederholt Auskunft über Leben und Werk gab. Daher konnten wir in den letzten Wochen schon allerlei über den neuen Irving erfahren, so viel, dass wir schon fast befürchten mussten, das Buch habe es nötig. Nun ist er da: Schwergewichtig liegt er in der Hand und auf der Rückseite ist zu lesen, die New York Times betrachte den Roman als Irvings Opus maximum. Dass diese Einschätzung zumindest in quantitativem Sinne zutreffend ist, ist nicht zu übersehen. Dass es, wie aus Interviews und Berichten hervorgeht, bei diesem Roman mehr als bei seinen Vorgängern - "Autobiographie ist's immer" titelte die Welt am 14. Januar 2006 - um die Verarbeitung von Irvings eigener Geschichte geht, wird auch schnell deutlich: Bereits das vorangestellte Zitat von William Maxwell über das Erzählen von Erinnerungen weist darauf hin; wie treffend dieses Zitat ist, erweist sich freilich erst im Laufe der Erzählung selbst. John Blunt - so hieß der Schriftsteller, bevor er den Familiennamen seines Adoptivvaters Colin Irving bekam - wird Jack Burns. Wie der Autor kennt der Protagonist seinen leiblichen Vater zunächst nicht und erfährt eine von Frauen geprägte Kindheit und Sozialisation. Wie der Autor muss der kaum in der Pubertät befindliche Jack sexuellen Missbrauch durch eine erwachsene Bekannte der Familie ertragen. Wie der Autor wird der Protagonist Künstler, und die Inspiration zu dieser Karriere kommt vom abwesenden Vater. Ihm, so sagte Irving der Academy of Achievement (http://www.achievement.org/autodoc/page/irv0int-1), verdanke er die für das kreative Schreiben notwendige Phantasie, denn da er kaum Informationen über ihn hatte, hat er sich ihn fortwährend ausgemalt. Jack Burns malt sich aus, sein Vater schaue bei den Schultheateraufführungen zu, und dieses "Einmannpublikum" legt den Grundstein zu seinem Erfolg als Schauspieler. Als sie berühmt sind, hoffen beide, John und Jack, der Vater werde Kontakt zu ihnen aufnehmen. Beide hoffen vergeblich, lernen aber schließlich Halbgeschwister kennen. Und von seinem Halbbruder erfährt John, dass sein realer Vater tatsächlich Ähnlichkeit mit Jacks fiktivem Vater hat, wohlgemerkt nachdem er dessen Geschichte imaginiert hatte. Neben all den autobiographischen Anleihen aus der Realität gibt es aber auch reichlich Irving'sche Fiktion. Skurrile Gestalten aus unterschiedlichsten Milieus (Tätowierer, Organisten, Prostituierte, Lehrer oder B-Filmer) und Situationen makabrer Komik in Geschichten, die eigentlich sehr traurig sind. Verschiedenste Besessenheiten, die einmal mehr polarisieren werden (Irving sagte einmal, er wisse durchaus, dass es Leute gebe, denen das Wort Penis bei ihm zu häufig vorkomme. Dessen Frequenz nimmt im vorliegenden Roman zum Ende hin ab, das sei zur Versöhnung gesagt.). Epische Sorgfalt des 19. Jahrhunderts einerseits (Irving sieht sich in der Tradition von Dickens, der seine Kindheit bekanntlich ebenfalls literarisch verarbeitete) und rotzige Prägnanz andererseits. Was fehlt, sind Gefühle. Irvings Sympathie für seine verrückten Gestalten und ihr eigentümliches Leben, sein Talent, dieser merkwürdigen Welt noch etwas Liebevolles abzugewinnen, das hält er hier zurück. Seltsam kühl und distanziert kommen viele Episoden daher, Jack wirkt - nicht nur auf andere Figuren - wie aus einem film noir, auch Jacks Innensicht ist sehr beschränkt, so dass ein Irving zum ersten Mal lang wird, und gewisse Wendungen - Jacks charakterliche Veränderungen während seiner Schullaufbahn, sein Verhalten gegenüber Freundinnen beispielsweise - unverständlich bleiben. In diesem Erzähler, der ein personaler Erzähler sein soll und ursprünglich sogar in der 1. Person stand, liegt eine Schwierigkeit des Romans: Zu viel Außensicht, Distanz und auktoriale Unterbrechungen verhindern Identifikation und Sympathie mit dem Protagonisten und seiner Geschichte. Verständlicherweise wollte der Autor sich selbst durch das Schreiben Distanz zur Geschichte verschaffen, daher vielleicht auch der sehr späte Wechsel (das Manuskript war schon beim Verleger) von der 1. in die 3. Person. Doch dem Leser käme mehr Nähe entgegen. Dennoch: Nach mehreren hundert Seiten zeigen Irvings Ringerkunstgriffe Wirkung. Wie der Drehbuchautor, dessen Gesicht Jack Burns in eine Paella zwingt ("ein mit saffrangelbem Reis überzogener Shrimp flutschte vom Teller, desgleichen ein Stück Wurst"), kann man sich nicht mehr befreien. Spätestens, wenn Jack Burns zu seiner zweiten Europareise aufbricht, nimmt die Geschichte eine Wendung, die gebannt weiterlesen lässt. Und das Spiel mit Fiktion und Realität wird doppelbödig: Einer der Höhepunkte der Geschichte ist zweifellos die Oscarverleihung des Jahres 2000, auf der Jack Burns nicht für eine Rolle, sondern für ein Drehbuch ausgezeichnet wird. Er bekommt also Irvings realen Oscar, den der Autor für das Drehbuch von Gottes Werk und Teufels Beitrag bekam. Jack sieht auch, wie Michael Caine für die beste Nebenrolle (wir wissen, dass es ebenfalls um Gottes Werk und Teufels Beitrag geht) ausgezeichnet wird. Der Newsweek sagte Irving, er habe mit der Fiktion niemandem seinen realen Oscar streitig machen wollen, daher musste Jack seinen bekommen (http://msnbc.msn.com/id/8526322/site/newsweek). Aber besser noch als diese Raffinesse ist die auf die Verleihung folgende Begegnung mit Arnold Schwarzenegger, ein Kleinod schräger Situationskomik. Sicherlich ist Bis ich dich finde kein typischer Irving, das erklärt auch Irvings ungewöhnlich intensive Öffentlichkeitsarbeit für dieses Buch (Irving ist auch auf Lesereise in Deutschland: am 20.2.06 im Berliner Ensemble, am 22.2.06 im Schauspielhaus in Hamburg). Aber es ist ein großes Buch, das vom erzählerischen Können Irvings zeugt. Und es ist ein sehr persönliches Buch, dem man schließlich alle vermeintlichen Schwächen nachsieht. Friderike Beyer © TourLiteratur
/ Autorin Buchcover: © Diogenes Verlag, Zürich |