|
Rezensionen > Vargas, Fred: Die dritte Jungfrau |
Fred Vargas:
Die dritte Jungfrau. Roman.
Auch in ihrem aktuellen Roman "Die dritte Jungfrau" ordnen sich die Dinge erst ganz allmählich. Kunstvoll und raffiniert werden sie aufeinander zugeleitet, ehe der Leser im grandiosen Finale begreift, dass wirklich kein Thema umsonst angeschlagen wurde und selbst jene Fährten, die scheinbar allein der Ablenkung dienten, dem Aufmerksamen viel zu sagen hatten. Und alles völlig ohne Mühe. Mit einer erzählerischen Souveränität, die im europäischen Kriminalroman unserer Tage ihresgleichen sucht. Und einem Charme und einer Poesie, die geradezu einzigartig sind. Chapeau! Zum Glück kann sich die Vargas auf ihr Kernpersonal verlassen. Es ist gut eingeführt und scheint oft nur aufs Stichwort zu warten, um zu erscheinen. Wieder ist einer der drei arbeitslosen Jungakademiker dabei, die man seit "Die schöne Diva von Saint-Jacques" als die "drei Evangelisten" kennt. Diesmal ist es Matthias, der in Sachen Kleidung ziemlich unkonventionelle Experte für Ur- und Frühgeschichte, dessen Wissen vonnöten ist. Natürlich darf Camille Forestier nicht fehlen, Adamsbergs große Liebe, die ihm inzwischen einen Sohn geboren hat, ansonsten aber wegen der in früheren Romanen geschilderten Enttäuschungen auf die Kameradschaftsschiene ausgewichen ist. Nun darf der Vater zwar gelegentlich auf das Kind aufpassen, muss allerdings auch wieder einmal eine von Camilles Affären verkraften, was ihn auf eine sehr harte Probe stellt. Und auch Danglard, fünf Kinder allein erziehend und als laufendes Lexikon mit Hang zu Alkoholischem schon am Vormittag Probleme bereitend, fehlt nicht, genausowenig wie ein von ihm in die Abteilung eingeschleppter Kater namens "Die Kugel", dem man allerdings einmal in ganz ungewohnter, nämlich lebensrettender Funktion begegnet. Doch damit nicht genug. Natürlich braucht ein neues Buch auch neue Typen und noch nie war Fred Vargas um solche verlegen. Herrlich diesmal die ländliche Männerrunde, mitten aus dem Leben gegriffen und klug die Ereignisse kommentierend, immer dann eingreifend, wenn dem Städter die Fantasie ausgeht, von urwüchsiger Lebendigkeit und bodenständiger Schläue. Hintersinnig die Figur des Neuen in der Abteilung, Veyrenc, der in zwölffüßigen Versen à la Racine spricht und mit dem Kommissar ein Geheimnis aus der Kindheit teilt, das aufgeklärt werden muss, damit Frieden zwischen ihnen herrschen kann. Und so geheimnisvoll wie anziehend die neue Gerichtsmedizinerin Ariane Lagarde, mit der Adamsberg fast einmal im Bett gelandet wäre, hätte er sich damals nicht mit ihr verkracht. Und worum geht es bei dem Ganzen? Nun ja, wir wollen nicht zu viel verraten. Aber es geht tatsächlich um die letzten Dinge. Um die Unausweichlichkeit des Alters und die Sehnsucht, ihm zu entgehen. Um Liebe und Betrug. Um eine kräftig in die Gegenwart hineinregierende Vergangenheit, der man sich stellen muss, will man im Heute bestehen. Um Einsamkeit und Schuld, Wahn und Wirklichkeit. Und natürlich um die titelgebende dritte Jungfrau. Deren Schicksal der Tod von fremder Hand ist, wenn es Adamsberg nicht gelingt, sie zu finden vor ihrem Mörder. Fred Vargas ist ein Phänomen. Sie wird von Buch zu Buch besser. Und langsam kristallisiert sich hinter all den sinistren Fällen, die ihre Helden mehr durch Intuition denn durch Kombination lösen, auch eine Art Botschaft heraus. Es ist der Aberwitz der Menschen, der sie zu Menschen macht, könnte man diese formulieren. Die kleinen Absonderlichkeiten und Spleens, die nahezu alle Gestalten des nunmehr neun Bände umfassenden Roman-Universums der Französin kennzeichnen, individualisieren sie nicht nur auf eine oft wunderbar-poetische Weise, sondern beschützen sie auch vor dem Dunklen, das jeder lockend in sich trägt. Und weil sie genau damit nicht rechnen können, haben die Täter der Vargas im Grunde nie eine Chance. Auch diesmal nicht. Zu perfekt sind ihre Pläne, als dass sie wirklich aufgehen könnten. Zu groß das Vertrauen in eine Normalität, wie sie nur in der Welt des Wahns existiert. Denn das Leben gehorcht anderen Gesetzen. Da ist nichts vorhersehbar und alles möglich. Nur eines nicht: Dass das Kalte und Berechnende triumphiert. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Homepage
des Autors Dietmar Jacobsen: Buchcover: © Aufbau Verlag, Berlin |