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Literatur im Lichthof - Zeitblende
 

 

Gabriele Wild: Multifunktionale Literatur zwischen Inszenierung und haptischem Erlebnis.
Ein Beitrag zu 15 Jahren Cognac & Biskotten


Plastiksackerl, Lunchbox und Straßenbahn

Sieht man sich die Formate des Literaturmagazins Cognac & Biskotten der letzten 15 Jahre an, scheint es kaum etwas zu geben, das Thomas Schafferer mit seinem Team noch nicht „literarisiert“ hat: Von der „literarischen Lunchbox“ (2000), der (in Zeiten sich ständig weiterentwickelnder Technik heute schon fast als Antiquität zu bezeichnenden) „literarischen Diskette in Versandtasche“ (2002), dem „literarischen Aufputschmittel“ (eine Medikamentenpackung mit 26 Textdragees, 2007), über die „literarische Straßenbahn“ (zum 10-jährigen Jubiläum 2007), bis hin zum „literarischen Lineal“ (2011) ist bei zwei Ausgaben im Jahr schon so einiges zusammengekommen. Ebenso vielfältig sind die Orte, die für die Präsentationen der Ausgaben gewählt wurden: Das ehemalige Innsbrucker Hauptpostamt in der Maximilianstraße, das Ärztehaus Medicent, das Umspannwerk der Innsbrucker Kommunalbetriebe IKB in Wilten, eine M-Preis Filiale, das Fußballstadion oder eine Straßenbahn. Auch zum 15jährigen Jubiläum hat sich Thomas Schafferer wieder ein ambitioniertes Projekt vorgenommen: Die „literarische Konservendose“ (die übrigens als eines der Siegerprojekte der stadt_potenziale 2012 hervorging) soll in einem der 22 Luftschutzstollen, die es in Innsbruck und Umgebung noch gibt, präsentiert werden.

Außergewöhnliches Konzept

Co & Bi-Ausgabe Nr. 30

Jede Co & Bi-Ausgabe folgt einem Konzept, demnach Thema, Text, Format und Präsentationsort eine Einheit bilden sollen. Thomas Schafferer, der von Beginn an die einzige Konstante in einem wechselnden Redaktionsteam war, geht es dabei um die Kreation eines stimmigen Gesamtkunstwerks.[i] Damit unterscheidet sich das Magazin wesentlich von herkömmlichen gedruckten Zeitschriftenformaten. Was als Low-Budget-Unternehmen begann, konnte sich, seitdem das Magazin regelmäßige Subventionen von Stadt, Land und Bund erhält, mit den Jahren professionalisieren. Außerdem erweiterte das Co & Bi-Team seinen Tätigkeitsbereich und trat zunehmend auch als Literaturveranstalter mit anderen Projekten auf.[ii]
Seit der 13. Ausgabe wurde mit Themenvorgaben gearbeitet. Bisher wurden Texte zu abstrakten Themen wie Chaos oder Ordnung, zu emotionalen Themen wie Fußball, Kindheit oder Gewalt bis hin zu Genrevorgaben wie Kaffeehausliteratur oder Pop gesucht. Von den Einsendenden wird erwartet, dass sie das gewünschte Thema und das dazu gewählte Format reflektieren. Zum Großteil werden kurze Texte gefordert oder die Texte werden gekürzt in der Ausgabe wiedergegeben. Für mehrseitige Texte eigneten sich (bis jetzt) die wenigsten Co & Bi-Formate.
Die Frage nach der Gewichtung von Text und Format ist nicht so einfach zu beantworten. Auf den ersten Blick gilt die Aufmerksamkeit wahrscheinlich dem Format. Doch sind es die Texte, die das Format erst beleben und zur Reflexion darüber anregen. Der literarische Text ist einer von vielen Ebenen, mit denen Cognac & Biskotten arbeitet. Somit ist sein Platz vielleicht zwischen Inszenierung und haptischem Erlebnis anzusiedeln. Nichtsdestotrotz lässt sich eine große Anzahl an LiteratInnen aller Altersgruppen von den Themen und Formaten inspirieren. Für jede Ausgabe müssen zahlreiche Texte durchgearbeitet und diskutiert werden. Thomas Schafferer stellt dafür eine externe Jury zusammen, die im Allgemeinen aus Lesenden, Literaturschaffenden und LiteraturwissenschaftlerInnen besteht. Die ausgewählten Texte sind stets von unterschiedlichem Niveau; die Beiträge stammen gleichermaßen von HobbyliteratInnen, wie auch von aufstrebenden JungautorInnen und von bereits in den Literaturbetrieb integrierten LiteratInnen. Hinzu kommen die Texte der sogenannten Stargäste, damit sind arrivierte AutorInnen aus Tirol (wie z.B. C.W. Bauer, Barbara Hundegger oder Irene Prugger) und aus dem gesamten deutschen Sprachraum (wie z.B. Michael Köhlmeier, Silke Scheuermann oder Ulrike Draesner) gemeint, die eigens für die jeweilige Ausgabe und die darauf folgende Präsentation eingeladen werden.

Inszenierung, Atmosphäre und Inspiration

Co & Bi-Ausgabe Nr. 33

Was zum Co & Bi-Magazin, das von Thomas Schafferer mit Attributen wie „Der Literaturclub mit dem Woh-Aha-Effekt“ oder „das weltweit außergewöhnlichste Literaturmagazin“ beworben wird, zweifellos dazugehört, ist, wie bereits erwähnt, die Inszenierung von Literatur. Mit einer simplen Bühne mit Tisch, Stuhl und Wasserglas kann Thomas Schafferer, der Ende der 1990er Jahre an den ersten in Innsbruck veranstalteten Poetry Slams teilnahm, nicht viel anfangen. Lesungen zu veranstalten bedeutet für ihn eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen, das Publikum zu inspirieren und es dazu zu bringen, sich mit allen Sinnen auf das Geschehen einzulassen. So wurde beispielsweise in diesem Jahr die Lesung der Jungautorin Linda Achberger im Innsbrucker Bogen-Theater bei Kerzenschein und mit Musikbegleitung inszeniert und damit auf ihre düsteren, melancholischen Texte reagiert. Auf diese Weise werden die BesucherInnen immer wieder in eine außergewöhnliche Situation hineinversetzt und zum Mitspielen animiert: Bei der Präsentation des „literarischen Papierfliegers“ (2009) zum Thema Kindheit etwa wurden die Zuhörenden von einem Moderator durch einen Kindergarten von Lesung zu Lesung gelotst. Bespielt wurde der Ort mit Texten, die sowohl die Unbeschwertheit des Kinderspiels als auch Kindesmissbrauch thematisierten. Neben den Themen sind es wohl auch die unkonventionellen Lesungsorte, die das stets breite Publikum anlocken. Zuletzt fand im Dezember 2011 die Präsentation der Ausgabe „Kleinkram“ (Format „das literarische Lineal) im Spielzeuggeschäft Schenk & Spiel statt. Ein Ort, der sich mit dem Konzept von Cognac & Biskotten gut in Verbindung bringen lässt: Mit seiner spielerischen Ausrichtung, was Text, Format und Präsentationsort betrifft, setzt sich die Redaktion jedes Mal kreativ mit Literatur auseinander und stellt sich selbst, wie auch die AutorInnen und das Publikum, vor neue Herausforderungen. Die farbigen und graphisch ansprechend gestalteten Ausgaben von Cognac & Biskotten sind leicht unter die Leute zu bringen, da sie, wie z.B. der „literarische Papierflieger“ oder das „literarische Klotürplakat“, multifunktional einsetzbar sind. Das Format macht allerdings auch den Vertrieb problematisch, das Verschicken über den Postweg ist mit einem hohen Kostenaufwand verbunden.[iii]

Cognac & Biskotten bleibt nach 15 Jahren ein Magazin, das mit seinem eigenwilligen Konzept beharrlich seinen Weg geht und die Innsbrucker Literaturszene bereichert. Nach wie vor bemüht sich Thomas Schafferer den Schreibenden eine „Bühne“ zu geben. Dass das Projekt Cognac & Biskotten mit seiner Person steht und fällt, ist ihm dabei sehr wohl bewusst.[iv] Solange ihm aber die Ideen nicht ausgehen, wird der im Jahr 2004 für seine Arbeit mit dem ersten Arthur-Haidl Preis der Stadt Innsbruck ausgezeichnete Allroundkünstler wohl weitermachen.

 
Links:


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[i] Vgl. dazu: Interview mit Thomas Schafferer im Rahmen dieses Aufsatz, geführt im Mai 2012 (unveröffentlicht).
[ii] Vgl. zu den Anfängen und zum Werdegang und zum Konzept von Cognac & Biskotten: Gabriele Wild: Haltestellen & Lebensläufe. Cognac & Biskotten – Ein Blick auf die junge Tiroler Literaturszene. In: Sieglinde Klettenhammer (Hrsg.): Kulturraum Tirol. Literatur – Sprache – Medien. Innsbruck 2009. S. 375-384.
[iii] Vgl. Interview mit Thomas Schafferer
[iv] Ebd.

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Christine Riccabona: Gedanken über die Literaturkritik von Marie Holzer
 
Der Name Marie Holzer (1874-1924) wird wohl kaum jemandem etwas sagen. Ich las ihn erstmals in der Tiroler Kulturzeitschrift „Widerhall“, die von 1917 - 1924 als eine Weiterführung des „Tiroler Wastl“ in Innsbruck erschienen ist.
Widerhall, 18. August 1920Immer schon interessiert daran, was Frauen um die Jahrhundertwende und danach in Tirol publizierten, las ich auch die Artikel von Marie Holzer. Ich fand unter ihrem Namen kluge Kritiken etwa an der ideologischen Enge der Alldeutschen oder an den Parteien in Tirol, fand ein Plädoyer für die aktive Teilhabe von Frauen an politischer Entscheidungsmacht oder auch eine Besprechung der Gedichte des indischen Philosophen Rabindranath Tagore. Neugierig geworden suchte ich nach weiteren Texten der Autorin, nach ihren Spuren in der Literaturgeschichte und nach Antworten auf die Frage, wer sie war, woher sie kam, in welchem Umfeld sie wirkte. (Ein vorläufiges Ergebnis wird in den neuen „Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv“ 2012 nachzulesen sein.)
Marie Holzer war eine jener vielversprechenden Autorinnen der Jahrhundertwende, des ‚fin de siecle‘, der ersten Frauenbewegung und des literarischen Expressionismus, von denen nur wenige - wie etwa Else Lasker-Schüler – in die Literaturgeschichte eingegangen sind. 1911 erschien Holzers einziger Prosaband „Im Schattenreich der Seele“, darüber hinaus schrieb sie viele Hunderte von Zeitungsbeiträgen.
Sie stammte aus Czernowitz, kam über Prag schließlich im ersten Kriegsjahr 1915 nach Innsbruck und lebte in den letzten zehn Jahren ihres Lebens hier. In Prag war sie mit den aktuellen literarischen und kulturellen Strömungen vertraut und war mittendrin, hier nun, in Innsbruck versuchte sie irgendwie kulturell Fuß zu fassen.
Innsbruck erlebte sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Sie betätigte sich unter anderem karitativ in einem Fürsorgeheim und schrieb über die dumpfe Abgeschiedenheit einer „Kleinstadt im Krieg“. Sie schickte die eine oder andere Zeile über Tirol hinaus, berichtete etwa im Prager Tagblatt über die Atmosphäre am Brennerpass als militärisch kontrolliertem Alpenübergang, schrieb ein „Dolomitengedicht“, das sich auch als Text gegen den Krieg lesen lässt. Nach dem Krieg wirkte sie bei der konkreten Umsetzung von Zielen der Sozialdemokratie und der Frauenbewegung in Tirol mit und schloss sich der sozialdemokratischen Landesfrauenkonferenz um Maria Ducia an. Es ging um Friedenssicherung, verbesserte Lebensbedingungen der Arbeiterinnen, um Gesundheit und Bildung. Marie Holzer nahm am Parteileben teil, hielt Vorträge für die Mädchensektion der Jugendorganisation und wurde 1924 schließlich in das Frauenlandes- und Frauenortskomitee gewählt. Die intellektuelle Feuilletonistin, die für das Prager Tagblatt, für die Leipziger Nachrichten, für die Frankfurter Zeitung geschrieben und in vielen namhaften Zeitschriften ihrer Zeit Artikel und literarische Kurzprosa veröffentlicht hatte, erfuhr durch ihr Engagement eine Art realpolitische Erdung.
Die Aktion, III. Jahr, Nr. 4Vor ihrer Zeit in Innsbruck waren in der expressionistischen Zeitschrift „Die Aktion“, die Franz Pfemfert herausgegeben hat, von 1911 bis 1914 regelmäßig Texte aus ihrer Feder erschienen. Unter anderem verfasste sie Gedanken über den Begriff der Kritik, insbesondere der Literaturkritik, und weil wir hier auf der Rezensionenseite „LiLit“ dauerhaft mit diesem Begriff, mit Literaturkritik als vermittelnder, relativierender, bewertender Instanz zu tun haben, sei ein interessierter Blick auf den 1913 erschienenen Artikel geworfen. Viele Beiträge Marie Holzers waren ja Buchbesprechungen, die sie manchmal voller Energie, eben ‚expressiv‘, manchmal in emphatischem, dann auch wieder in enttäuschtem oder gar empörten Ton verfasste. Es war ihr wichtig, in ihren Rezensionen immer auch einen ganz subjektiven und emotionellen Zugang zu vermitteln: „Die subjektive Kritik möchte ich als Korrektiv der objektiven bezeichnen. Sie wird nicht auf ‚kaltem Weg‘ erzeugt, sie geht durch den Hochofen der Empfindung und das Temperament formt sie zu Werten.“
In Marie Holzers Vorstellung von Literaturkritik verbinden sich objektiver Anspruch und das Plädoyer für Subjektivität, beide Aspekte stellt sie einander ergänzend gegenüber.

„Das Streben nach Objektivität, das Unbeeinflusstbleiben von Sympathie und Antipathie wird also bei manchen zur sachlichen Objektivität, die sich von der reinen Subjektivität folgendermaßen unterscheidet.
Die objektive Kritik geht von einem Kunstideal aus, macht Vergleichsstudien, hat bestimmte Gewichte und Massstäbe.
Die subjektive formt sich beim Lesen und Empfinden täglich neue Masse.
Der objektive Kritiker beurteilt die Arbeit an sich. Der subjektive sieht nur ihr Bild, als Reflex, als Widerspiel. Er fühlt nur ihr Spiegelbild in der eigenen Seele.
Der Objektive steht hinter dem Werk, der subjektive vor ihm, er seziert nicht, er schildert nur Lösungsprozesse.
Der Objektive identifiziert sich mit allen. Er ist der Anwalt der Vielen, sein Urteil ist der Ausdruck der Gesamtwirkung. Ist die Kubikwurzel gezogen aus dem Effekt. Er fühlt sich als Repräsentant des geistigen Publikums.
Der Subjektive ist sich selbst Publikum. Er hält Zwiesprache mit dem Künstler wie mit seinem Gott im weiten Dom, sein Urteil ist das Resultat inneren Erlebens, die Worte kommen ihm oft traumhaft über die Lippen nach einer Andachtsstunde. Er fasst die Gefühle in Worte, wie man den Edelstein in Silberfiligran fasst. Er gibt sein Empfinden, sein Fühlen, zeigt den Lösungsprozess in der eigenen Seele.
Der objektive Kritiker geht von Voraussetzungen aus und kommt zu Resultaten, der subjektive horcht nur auf seiner eigenen Seele Klang und Widerhall.
Dort ein Analysieren.
Hier ein Amalgamieren.
Das Werk wird leuchtend auf eine Standarte gehoben.
Hier sehen wir nur des eigenen Temperamentes facettierte Lichter in bestimmtester Beleuchtung. Der objektive Kritiker sieht in die Vergangenheit und deutet die Zukunft.
Der subjektive empfindet nur die Gegenwart.
Der Objektive beurteilt und reiht ein. Der Subjektive geniesst.“

Marie Holzer versucht hier - in der Rhetorik des Expressionismus - die Konturen zweier Haltungen zum Text zu zeichnen, die scheinbar polarer nicht sein können. Und deren bewusste Verbindung letztlich interessante Literaturkritik ausmacht. Diese Verbindung ist dabei nicht statisch zu denken, sondern als eine mehr oder weniger ästhetisch geglückte Pendelbewegung zwischen der engführenden Perspektive, die das Werk in den Lichtkegel des ‚subjektiven Bewertungskosmos‘ stellt und dem ‚Blick aufs Ganze‘ des Literatursystems, der den Ort des Textes in der diachronen und synchronen Versuchsanordnung zu bestimmen versucht. In der gegenwärtigen Literaturkritik ließe sich ein Trend festmachen, der an Marie Holzers Auffassung von Literaturkritik denken lässt. Subjektivität ist nämlich mehr denn je gefragt, der Austausch von Zugängen und Lesarten auf spontane und unmittelbare Art.
Literaturkritik ist ein Kind der Aufklärung, heißt es, ihre Geschichte ist lang und jedenfalls eng mit der bürgerlichen Intelligenz verbunden, die mit der literarischen Öffentlichkeit auch die gelehrte Betrachtung und das öffentliche Räsonnement auf den Plan rief. Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde oft eine Krise der Literaturkritik konstatiert. Insbesondere die gattungsorientierte, mit Blick auf literarhistorische Zusammenhänge geschriebene Rezension ist so leicht nicht zu verfassen, wenn man das große Veränderungspotential der literarischen Textpraxis im Blick hat. Das differenzierte, kenntnisreiche und nuancierte Literaturgespräch, wie es in Essays und Feuilletons des 18. und 19. Jahrhunderts zu finden war, ist in den Medien unserer Zeit eine Rarität geworden. Andere Formen der Kommunikation und Funktionen der Literaturkritik haben sich herausgebildet und tun es weiterhin, was selbstredend mit dem Wandel der Medien, überhaupt mit historischen Veränderungen auf allen Ebenen zu tun zu tun hat.
Marie Holzer schrieb ohne Scheu: “Die Kritik ist in erster Linie also Reklame“. Sie ist ein „Trabant“, der die Kunst unaufhörlich umkreist, teils vermittelnd, teils erklärend zwischen Künstler und Publikum steht. Das klingt vertraut. Die Lust an der Meinung zum Buch beweisen heute die unzähligen literarischen Besprechungsforen im Internet, die häufig besser sind als ihr Ruf und manchmal zumindest wohltuend über das Niveau der simplen Richtschnur des ‚gefällt‘ oder ‚gefällt nicht’ von Kundenkommentaren hinausgehen. Professionelle Besprechungsforen, die kenntnisreiche Betrachtung von Literatur bieten, eine, die auch historische Linien nicht aus den Augen verliert, werden weiterhin in ihrem Wert steigen. (Unter anderem informiert das Projekt DILIMAG des Innsbrucker Zeitungsarchivs über Literaturmagazine im Internet, viele von ihnen bieten Rezensionen an.)

Zitate aus: Marie Holzer: Vom Wesen der Kritik. In: Die Aktion, Berlin, hrsg. v. Franz Pfemfert, Nr. 4, 22. 1. 1913, S. 113-115.
Marie Holzer: Bio-Bibliographie im Lexikon Literatur in Tirol 

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Anton Unterkircher: Der „Tiroler Wastl“ Rudolf Christoph Jenny aus dem Jahr 1912

Jenny, Rudolf Christoph. 1896. Aus: Die Wespen

Emanuel Schikaneders Tyroler Wastl (1796) begründete den Mythos jenes ‚lustigen Tirolers’, der zur Zeit der napoleonischen Kriege die guten alten tirolischen Moralvorstellungen verteidigte. Das Singspiel vermochte seinerzeit das Wiener Vorstadtpublikum zu begeistern.
Vor hundert Jahren – im Jahre 1912 – erschien unter der Verfasserschaft des „Tiroler Wastl“ eine kleine Broschüre mit dem etwas umständlichen Titel Das goldene Riesenkalb oder die Arbeiter-Bäckereien im Lichte des Geheimbriefes des Dr. Benno Karpeles an Wiener Banken. Darin wird mit moralischem Impetus und kaum zu überbietbarer Schärfe ein Brief des Sozialdemokraten und Konsumgenossenschafters Benno Karpeles zerlegt, in dem dieser den Wiener Banken die Finanzierung eines kapitalistisch orientierten Lebensmittelgroßhandels vorschlug, als dessen Kunden er Kraft seines Einflusses die sozialistischen Parteigenossen in Aussicht stellte. Empört resümierte der „Tiroler Wastl“:

Was für ein entmenschtes Untier ist doch dieser Karpeles.
Unersättliche Profitgier hat sein Herz völlig ausgebrannt wie einen Krater und in der wüsten Brandhöhle wohnt das Grauen. Man denke nur, zuerst sollen alle Bäckermeister ruiniert und samt ihren Kindern und Kindeskindern brotlos und zu Lohnsklaven der Karpeles-Bäckerei gemacht werden, und nach den Bäckern soll es nach und nach allen Handelsleuten, zuerst den kleinen und dann den großen, an den Kragen gehen, und nach diesen allen Warenerzeugern, mögen sie nun schlichte aus dem angeblich so heiß geliebten Arbeiterstand hervorgegangene Handwerksmeister oder Fabrikanten großen und größten Stils sein.
An die Stelle all dieser ruinierten Menschen soll das vom Edel-Karpeles begünstigte Großkapital der Wiener Banken treten und es hinfort keinem Arbeiter mehr möglich werden, sich selbständig zu machen. Wenn man diesen Gedanken verfolgt und für bare Münze nehmen wollte, was Karpeles den Arbeitern vorschwindelt, dann müßte man notwendigerweise zum Schluß kommen, daß die Profit- und Geldgier des entmenschten Karpeles noch größer und stärker ist, als die Liebe zu seinen eigenen Kindern, denn das von ihm erfundene und teilweise bereits gegründete großkapitalistische Unternehmen würde zuletzt, nachdem es alle Handels- und Gewerbetreibenden aufgefressen, gewiß auch Mittel und Wege finden, sich seines Gründers zu entledigen und ihn dann ebenfalls aufzufressen.“

Tatsächlich brachten die Unternehmungen Karpeles – er war Mitbegründer des Konsumvereins Vorwärts, der Großeinkaufsgesellschaft GöC und der Hammerbrotwerke – schon bald die Partei und die Genossenschaftsbewegung in große finanzielle Nöte. Karpeles musste wegen Korruptionsverdacht den Hut nehmen.
Es wäre völlig verfehlt zu sagen, dass Christoph Jenny (1858-1917) sich hinter diesem neuen „Tiroler Wastl“ versteckt hätte. Jenny war damals der personifizierte „Tiroler Wastl“, der seit 1900 in Innsbruck die Zeitung Tiroler Wastl herausgab. Im Untertitel nannte sich dieses Blatt (Illustrierte) Sonntagsblätter für Politik, Kunst und Leben in Ernst, Scherz und Laune, das Jenny zum Großteil mit eigenen, vor allem antipolitischen und antiklerikalen Beiträgen füllte. Wohl um der Volksnähe willen verfasste er viele im Tiroler Dialekt.

Jennys abenteuerliches Leben begann in Stuhlweißenburg in Ungarn, wo sein Vater eine Stelle als Steuerbeamter innehatte. 1864 übersiedelte die Familie nach Kastelruth und schon zwei Jahre später kam Jenny – inzwischen Vollwaise – zu einer Kastelruther Bauernfamilie. Im Ortspfarrer fand er einen Förderer, der ihn ans Gymnasium in Bozen vermittelte. Wegen seiner Mitverfasserschaft einer Schmähschrift gegen den Direktor flog er dort aber wieder hinaus und verdingte sich zunächst als Chorsänger und Gelegenheitsarbeiter. Dann ging er zum Militär, wo er zum Leutnant aufstieg, wegen eines Herzleidens aber schon 1886 pensioniert wurde. Nun versuchte sich Jenny als Schauspieler in Linz und verbrachte mehrere Sommer bei einer Wanderbühne in Böhmen. Um 1890 übersiedelte er nach Prag und besuchte als außerordentlicher Hörer mehrere Jahre die Universität Prag. Er war dort u.a. Hörer bei August Sauer, der seine schriftstellerische Arbeit förderte; seinen Unterhalt für sich und seine vierköpfige Familie verdiente er als Lehrer. Jenny hatte in Prag engen Kontakt zu den Malern Karl Krattner und Emil Orlik, verkehrte im „Verein der bildenden Künstler“, protestierte gegen die bürgerliche Gesellschaft, die den Schriftsteller verachtete und gegen die Unmodernen, die sich im Verein „Concordia“ organisierten. Sein 1897 gedrucktes Stück Die Künstlerkneipe, das er Heinrich Heine, „dem vielverfolgten, unerschrockenen Vorkämpfer moderner Kunst“ widmete, spiegelt das Milieu, in dem er sich damals bewegte. „Anarchistisches Ästhetentum, sozialer Protest, Bewunderung für jedes Revoluzzertum, ein ungeschultes und enges Talent, dem jegliche Selbstkritik mangelte, hatten sich bei Jenny zu einem halbgenialischen Dilettantentum verbunden“, so versucht Peter Demetz diese Persönlichkeit zu charakterisieren. Großen Eindruck machte Jenny damit beim jungen Rainer Maria Rilke, der in ihm den neuen Meister-Dramatiker sah. Als Jennys Drama Noth kennt kein Gebot 1895 im Innsbrucker Stadttheater uraufgeführt und 1896 im Deutschen Volkstheater Prag und im Wiener Raimund-Theater gespielt wurde, war Rilke überzeugt, dass bald ein Arthur Schnitzler gegenüber Jenny das Nachsehen haben werde. Er brachte im Prager Abendblatt eine Voranzeige des Stücks, in der er Jenny als Volksstückautor dem Prager Publikum wärmstens empfahl. Doch Jenny musste schon bei der Uraufführung in Innsbruck neben einigem Lob auch harsche Kritik einstecken. Immerhin gestand man ihm zu, mit der Figur des Zimmermanns Berger eine lebensnahe Tiroler Figur auf die Bühne gebracht zu haben. Der Jenny sehr wohlgesinnte Direktor des Raimund-Theaters in Wien musste Ende Oktober 1896 das Stück wegen mangelndem Publikumsinteresse wieder absetzen.

Das soziale Volksstück spielt Ende des 19. Jahrhunderts in einer dürftigen Arbeiterwohnung in Wien. Dort lebt der aus Tirol stammende Zimmermann Karl Berger mit seiner todkranken Frau Anna und seiner Schwester Clara. Berger, der vergeblich auf Arbeit gehofft hat – stattdessen wird gestreikt, weil die Bauherren nur Hungerlöhne zahlen wollen – fehlt das Geld für Medizin und den fälligen Mietzins. Eine sofortige Delogierung droht. Der mit dem Kassieren der Miete beauftragte Hausmeister verliert nun in der Wohnung einen Fünfzig-Kronen-Schein. Unter großen Gewissensnöten nimmt Berger das Geld an sich, kauft die verordnete Medizin und zahlt damit auch noch die Miete, denn er will ja seine Frau nicht auf der Straße sterben lassen. Berger entgeht, durch die Intervention des Sohnes der Hausbesitzerin, der sich in Clara verliebt hat, nur knapp einer Verhaftung. Die Hausbesitzerin, selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, ist nicht nur bereit zu verzeihen, nachdem Berger ihr seine Notlage und Beweggründe erklärt hat, sondern gibt ihm auch noch eine Anstellung in ihrem Geschäft und stimmt der unstandesgemäßen Verbindung ihres Sohnes mit Clara zu. Mit diesem Happy End wird die stark naturalistische Tendenz des Stückes gebrochen und es verliert seine Glaubwürdigkeit.

Rilke bewunderte aber gerade dieses Drama so sehr, dass er nach dessen Vorbild ein eigenes Drama entwarf. In Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens steht ebenfalls das Zinsmotiv im Mittelpunkt und auch die Figurenkonstellation wird weitestgehend übernommen. Auch wenn Rilke das Stück mit Hunger, Tod und Inzest enden ließ, so hatte er damit nicht mehr Erfolg als sein Meister. Es reichte nur zu einer einzigen Aufführung im August 1896 im Prager Volkstheater. Im Herbst 1896 überarbeitete Rilke ein weiteres Stück, Frühfrost, in dem er das Zinsmotiv noch einmal aufgriff, nach Gesprächen mit Jenny um. Erfolg war ihm damit ebensowenig beschieden. Rilke fand noch im selben Jahr in München einen neuen, kaum besser als Jenny geeigneten Meister, den er für kurze Zeit als modernsten Dramatiker verehrte: Ludwig Ganghofer.

Jenny hatte wegen einer Aufführung seines Stückes Noth kennt kein Gebot Kontakt mit Hermann Bahr und Berta von Suttner aufgenommen. Noch 1896 übersiedelte er nach Wien und trat eine Stelle als Sekretär der Österreichischen Friedensgesellschaft unter Berta von Suttner an. Wegen starker Differenzen mit Suttner gab er diese Arbeit bald wieder auf und ging 1898 nach Innsbruck, wo er über Vermittlung seines Freundes Franz Kranewitter eine Stelle als Redakteur bei den Innsbrucker Nachrichten erhielt. 1899 beteiligte er sich an der Anthologie Jung-Tirol und war gemeinsam mit Arthur von Wallpach Mitbegründer der Zeitschrift Der Scherer, dem Sprachrohr der Jung-Tiroler. Wegen Unstimmigkeiten mit Wallpach und dessen Herausgeber Karl Habermann kam es schon nach wenigen Nummern zum Bruch und Jenny gründete als Gegenzeitschrift den Tiroler Wastl. Seine maßlose Eitelkeit und sein Hang zur Selbstdarstellung machten ihn bald zum Außenseiter in der jung-tirolischen Bewegung. Es kam zum Bruch mit Kranewitter und auch mit Ludwig von Ficker, dessen Brenner er in seiner eigenen Druckerei R & M. Jenny druckte, focht er manchen Strauß aus. Ficker hatte seinerseits Jennys Stück Die Sünden der Väter, das 1905 in Innsbruck aufgeführt wurde, ziemlich verrissen. Carl Dallagos schriftstellerische Kariere beförderte Jenny hingegen, indem er ihm reichlich Platz in seinem Beiblatt zum Wastl, in Tirols Kunst- & Geistesleben (1900-1901) einräumte. 1908 bzw. 1911 gab Jenny die kurzlebigen Zeitschriften Tiroler Pfaffenspiegel. Miniatur-Monatsschrift und Das Kirchenlicht. Zur Beleuchtung der Kehrseite Roms heraus. In der 700. Nummer des Tiroler Wastl, der sich nun mit Eine Brandfackel zur Beleuchtung der finsteren Kehrseite Roms und des völkversklavenden Jesuitismus betitelte, nahm Jenny 1913 Abschied von seinen Lesern mit der Feststellung, „daß keine Art von menschlicher Gemeinschaft jemals imstande sein wird, durch ihren Zusammenschluß etwas Gutes hervorzubringen oder auch nur zu fördern, sondern daß dies bis ans Ende der Welt immer nur von einzelnen Menschen wird geschehen können“. Infolge hoher Prozeßkosten – Jenny wurde mehrere Male wegen seiner Attacken im Wastl gerichtlich belangt – verlor er bald auch seine Druckerei und versuchte sich in Wien eine neue Existenz aufzubauen. Ficker, der Advokat Wilhelm Schneider und Wallpach verschickten im Juni 1914 einen Spendenaufruf zur Tilgung dieser Prozesskosten, um damit den „publizistischen Anwalt bedrängter Menschlichkeit“ vor der Not im Alter zu bewahren. Als Jenny 1917 in Graz verstarb, nahm man in Tirol kaum Notiz davon. Dafür berichtete die christlich-soziale Wiener Reichspost vom Tod dieses „Tiroler Wastl“, der sich so ganz und gar nicht mit den Wiener Vorstellungen deckte. Jenny habe immer das bekämpft, was den besonderen Wert der Tiroler, auch jetzt im Weltkrieg, jederzeit ausmache: „Biederkeit, Heimatliebe, Treue, Opferfähigkeit, Hingebung.“

Jenny, Rudolf Christoph: Der Tiroler Wastl. 24. 09. 1905

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