Rezensionen 2005

Maria Elisabeth Brunner, Berge Meere Menschen.
Wien, Bozen: Folio, 2005.


Tatorte: Berge Meere — Täter: Menschen

"Woher sie kam blieb das verläßlichste Motiv der Geschichte." — heißt es gleich zu Beginn von Maria Brunners Romandebüt, das dieses Leitmotiv dann in 14 Kapiteln, eruptive Protokolle allesamt, variiert. "Sie", das ist das Kostkind; "woher", das ist der Einödhof im Südtiroler Bergdorf, eingeklemmt, schattig, unwirtlich. Woher genau, weiß man bei Kostkindern nie und so auch hier nicht. Von Anbeginn ist sie beim Ziehvater und Kostherrn, bei der Ziehmutter, die aus dem Tal "weggeheiratet" worden ist, deren Schoß keine Frucht trägt und die zuletzt endlich an Krebs verenden wird. Das Handkesche Gewicht der Welt ist hier "das Gewicht […], das du mir angehängt hast in den Jahren auf dem Hof, ein Leben lang werde ich die Kost abzudienen haben."

Das ist also der "Tatort aller Geschichten", die hier erzählt werden; "in solchen Verhältnissen hatte sie als Kostkind aufzuwachsen." Keine guten Vorzeichen, so eine Kostkindheit. Wir kennen solches Schicksal aus den "Schönen Tagen", wo es der Pinzgauer Franz Innerhofer Mitte der 70er Jahre aus der eigenen Biographie in wuchtige Prosa transponierte. "Der Pflege einer kinderlosen Frau entrissen, sah Holl sich plötzlich in eine fremde Welt gestellt.", liest man dort, und die Erzählung setzt ebenfalls "kurz nach dem Krieg" ein. In der österreichischen Literatur ist das Thema solcher Unbehaustheit in der Folge geradezu ein Genre geworden, dessen letzte Blüte vielleicht der Roman "Aushäusige" war — auch dieser von einer Südtirolerin, Sabine Gruber.

Das Kostkind ist nun ebenso "aushäusig", es bockt und pariert nicht, wie es soll, vergafft sich in Bücher, studiert, unterrichtet, "in der Alpenstadt", dann "da unten", "auf der Insel", kehrt aber wie ein Verbrecher immer wieder an den "Tatort aller Geschichten" zurück, dorthin, wo es nach dem Dafürhalten der Altvorderen zu bleiben hätte. Im Dorf gilt es längst als Kuriosität wie einst die Riesin Mariedl Faßnauer. Weil "nach der Mariedl und vor dem Kostkind sind nicht mehr viele aus den Tälern an der Grenze so weit herumgekommen."

Die "schwarze Stadt in der Wüste unter dem Vulkan" und die "rauchblaue Fläche des Wassers" sorgen als Tatort-Alternative für schöne Abschnitte außerhalb der Bergwelt, selbst wenn auch für diese fernwehe Meereswelt konstatiert wird: "Wie häßlich das doch alles war." Oder: "Die Sonne und das Meer die hatte sie damals oft verflucht." Die Schilderungen der "Reisen durch Nacht und Rauch" — das ist Kapitel neun — erscheinen jedenfalls formal am gelungensten und inhaltlich avanciert; dass alles dennoch dunkel ist, entspricht ganz dem Duktus der zelebrierten schwarzen Ästhetik, für die schön bloß "das Dahingleiten" im Zug ist: "Nackte und weite schmucklose Gegenden mit abweisenden leeren Landschaften für die nur das Auge gemacht schien. Die ganz große die weite die unbegrenzte Landschaft. Nacht und Rauch und Licht oberhalb der Ruinen rechts und links der Autobahn. Ein dunkler ein leerer Fluß. Schön das Dahingleiten."

Der Autorin scheint bewusst zu sein, dass man auf diesem glitschigen Terrain leicht ausrutschen kann, ist doch an einer Stelle kritisch formuliert: "Die Kunst schirmt sich ab um sich allein zu unterhalten." Und an anderer Stelle wird über das dröge Schicksal des Kostkinds distanziert Resümee gezogen: "Da ist also dieses arme Kind. Es muß überall mit anpacken. Nachts in einer mit Schmutzwäsche vollgeräumten Abstellkammer liegen. So ist es zu jeder Saison.", usw. Da baut jemand der adrett-kitschigen Anti-Heimat-Romanze vor. Dieselbe handhabt die Topographie, die Chronologie und selbst eine gewisse Ideologie der Geschichten äußerst geschickt. Schreibt einen Roman, der — sofern nicht aus anderen Schriftstücken zitiert wird — gänzlich ohne Kommata auskommt und dabei gut lesbar ist. Aber wer ist das eigentlich?

Sie ist eine versierte Autorin — 1957 in Südtirol geboren, in Innsbruck promoviert, Universitäts-Lektorin in Italien und mittlerweile Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd —, die eine Erzählerin zu Wort kommen lässt, die von sich als "ihr" erzählt: "Diese Geschichte einer Auslöschung hatte sie nun endgültig niederzuschreiben." Und so ist ein Buch möglich, das erschrocken davon berichtet, wie unverhüllt das Animalische von Menschen ge- und erlebt wird. In den Bergen vor allem, aber natürlich auch am Meer.

Bernhard Sandbichler