Rezensionen 2005
Christoph Pichler. Onkel Norberts denkwürdiger Nachmittag.
Erzählungen.
Frankfurt/Main: Schöffling & Co., 2005.
Denkwürdig
Kann sein, dass Erzählfiguren manchmal verraten, was ihr Autor denkt.
Etwa: “Ich hasse das, dieses Ernsthafte, Gewichtige.”
Oder: “Das, was wir Bäume nennen, denkt er, mitten in der Nacht stehend – vielleicht sind sie in Wahrheit die Wurzeln weit fantastischerer Gewächse, die aus jener Oberfläche wachsen, an deren Unterseite ich stehe und die Häuser und alles, was mich umgibt. Und nur die Zentrifugalkraft der Erde bewirkt, dass wir an der Unterseite haften bleiben.”
Oder: “Ist es nicht unglaublich, wie kurz eigentlich der Sommer ist?”
Das Letztere mögen nun im Übrigen viele mit dem Autor und seiner Figur denken, gerade in diesem Jahr 2005, dessen Sommer einen derart verschleiernden Regen in vielerlei Variationen bot, dass er als Sommer nicht eigentlich erkennbar war. Dieser Sommer war zu kurz. Und erst der Herbst war wieder schön – vielleicht auch deshalb, weil er wie jedes Jahr ein Bücherherbst war. Eine seiner reifsten Früchte ist Christoph Pichlers erstes Buch, das ein stimmungsvolles Sommercover ziert und das auch im Inneren nicht mit sommerlich-idyllischen Reizen geizt (freilich auch nicht mit herbstlichen).
Im Allgemeinen wird in den 16 Geschichten, die es enthält, übrigens so gedacht und gehandelt, dass der Leser das Denken und Handeln der Figuren nicht erahnt; er wird vielmehr charmant düpiert, von einem Autor, der bei aller naseweisen Halbwüchsigkeit vieler seiner Figuren ein ausgewachsener, ja ein ausgefuchster Erzähler ist. Nicht dass man bei diesem Erzähldebüt das Etüdenhafte übersehen müsste, das Durchprobieren verschiedener Perspektiven, vom variierten Blick durch die Brille des jungen Erzählers der einen bis zum Innenhof als Protagonist einer anderen Erzählung. Dass die Erzählungen Talentproben sind, muss man auch nicht verschämt übergehen, im Gegenteil, wo doch die Talente sind: eine geschmeidige, unverbraucht bildhafte Sprache, eine fein dosierte Erzähldramaturgie und wohl gesetzte Pointen. In ihrem oft munteren Plauderton sind diese Geschichten beinahe schon exotisch, in provozierend konventioneller Manier erzählt, voll altmodischer Eleganz und luftigem Unernst. Eine Art smarter Gentleman-Prosa.
Der Übersetzer und Literaturkritiker Peter Urban Halle hat in diesem Zusammenhang bemerkt, dass bei Christoph Pichler nicht jener Raymond-Carver-Ton vorzufinden sei, den junge deutsche Autoren seit Ingo Schulzes “Simplen Storys” gerne pflegten. “Pichlers Prosa ist warm, die Bilder sind phantasiereich ... Das Gewicht des einzelnen Wortes ist in der Erzählung größer als im Roman. Pichler bedenkt das, seine Geschichten sind genau, präzis formuliert und trotzdem schwebend. Sie sind poetisch.”
So ist es tatsächlich. Manchmal sind diese Erzählungen Erzähl-Episödchen; einige bergen etwas von Robert Walser in sich; andere etwas von Johann Peter Hebel; sie sind nicht zu kurz und nicht zu lang, gerade recht eben. Manchmal erzählt der Autor auch furios und rasant. Und immer führt er gekonnt durchs Geschehen.
Es sind Erzählungen, die aus dem Leben geboren werden, Geschichten, die sich – nicht immer, aber oft – aus kuriosen Schicksalen generieren – kurios oder “denkwürdig”, wie es die Titelgeschichte nennt. Christoph Pichler ist wohl ein Autor, der sich in seiner Lebenswelt aufmacht, um zu jenen kuriosen oder eben denkwürdigen Lebenskernen zu kommen, die er aus Allerweltsfrüchten schält, um sie dann in seinen Erzählboden einzusetzen und zu einem Pflänzchen mit phantastischen Auswüchsen heranzuzüchten. Er ist einer, der das Kuriose handschriftlich skizziert, per Schreibmaschine austippt — und dann beginnt auch schon das Hadern zwischen Strichen und Ergänzungen. Man sieht das dem Endprodukt nicht an, aber man merkt die fein ausgeschliffene Prosa sofort.
Bernhard Sandbichler