Rezensionen 2005
Oswald Egger: Prosa, Proserpina, Prosa.
Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2004.
Raoul Schrott: Weissbuch.
München–Wien: Hanser Verlag 2004.
Wir lesen Gedichte wieder gerne, meint Kling
Thomas Kling, der »bedeutendste Lyriker des 20. Jahrhunderts« (so urteilte zumindest die Neue Zürcher Zeitung 1999) hat im zweiten Jahr des 21. Jahrhunderts 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert versammelt und publiziert. Sprachspeicher heißt das ansprechende Werk entsprechend (Köln: DuMont 2001). Kling ist Lyrikexperte, produzierend wie rezipierend, und so kann es schon angehen, einen Blick auf die letzten Seiten dieser Anthologie zu werfen. »Das für Sprachspeicher zählende Gedicht der 90er«, heißt es dort, »zeichnet ein erneutes Interesse an Sprachgestaltung, an Metaphernlust aus, bei Eröffnung von unverbrauchteren oder neuen Themen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze scheint das Gedicht augenblicklich nicht gewillt, E und U auf getrennten Kontinenten anzusiedeln. Teils aus den Phänomenen der akuten Mediatisierung und der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts sich speisend und deren Ton- und Lichtspuren wiederum rekonstruierend – wie der unter den 60er-Jahrgängen herausragende Marcl Beyer –, teils gilt die Beschäftigung den Reservoiren der Naturwissenschaften oder der Kulturgeschichte, aus denen der zuletzt leicht statuarisch wirkende Grünbein schöpft, hinter diesem, pfiffiger und glatter, Raoul Schrott« usw. Es folgen: Ferdinand Schmatz, Barbara Köhler, Ulrike Draesner und: Oswald Egger. »Oswald Egger« also, »das ›Ungeheuer Horaz‹ mit italienischem Paß, bewegt ausgreifende romantische Modelle.« Aha! Und das Schlussplädoyer: »Wir lesen Gedichte wieder gerne, diese alten und stets verjüngerbaren Botenstoffe.« Das will für die 0er-Jahre des 2. Jahrtausends überprüft sein – und weil sich’s ergibt und hier am Platz ist an Hand zweier Neuerscheiungen, an Hand zweier Gedichtbände der angesprochenen (Süd)Tiroler Lyriker: der Lananer auf der einen und der Landecker auf der anderen Seite.
Oswald Eggers so gar nicht traditionell-gedichtiger Gedichtband kann als solcher gelten, weil die Rede darin derart gebunden ist, dass der Autor den Satz des Buches gemeinsam mit der Suhrkamp-eigenen Setzerin Nina Knapitsch übernommen hat. Jeder Zeilenumbruch der in der obern Hälfte fetten und in der untern Hälfte mageren Textblöcke ist kalkuliert; in einem Strichzug gezeichnete, sukzessive (2-8-16-32-32-16-8-2) ver- bzw. entdreieckte Quadrate sind Texteinheiten zugeordnet; (wer das Bild nicht gleich vor Augen hat, nehme Bleistift und Papier und versuche sich in dieser Art Logelei.) Auf den hinteren Seiten finden sich einige Strichschleifen Stichwörtern zugeordnet. Das Prosaische am Text versteht sich im Sinn der »geradeaus gehenden« Redeweise – und: »vorschlängelnd«. (So kommt Pro-serpina in den Titel).
Raoul Schrott wiederum definiert »Gedichtband« am Ende seines, eben deshalb »Gedichtband« zu nennenden Buches folgendermaßen: »letztlich immer eine Art Weißbuch, das Daten und Ereignisse festhält, die Ausgangsorte und Ziele nebst einer Spalte für persönliche Eintragungen ... dramaturgisch durch den Rückblick des Schreibens angeordnet«. (So kommt das Weißbuch, das hierzulande zuletzt ein Reformwerk zur Kulturpolitik bezeichnete, zu Titelehren.)
Oswald Egger erscheint in der legendären edition suhrkamp, in der neuerdings auch Lyrik des Brooklyner Folk-Pop-Softies Adam Green zu finden ist – aber das nur nebenbei. Vieles, was Rang und Namen hat, hat dort erstveröffentlicht, in einer der Farben des Regenbogenspektrums, das der geniale Buchgestalter Willy Fleckhaus dieser broschierten Reihe in Buchkarton mit Leinenstruktur verpasste. Eggers neuer Band erscheint in hellem Blau und besticht durch berückende Gestaltung. Der vorangehende – Nichts, das ist. Gedichte – war dunklgelb. Egger setzte und gestaltete diesen seinen zweiten Band in der Edition selbst, mit gezeichneten Linien, eingeschobenen Grafiken und Reproduktionen, im oberen Seitendrittel ein- bis zwei vierzeiligen Strophen, unten Fließtexte. Dieser Dunkelgelbe nun wurde von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher des Jahres 2001 gekürt, und das zu Recht. Eggers erster, Herde der Rede. Poem, war violett; das sich – in Ergänzung mit dem in der kleinen Zürcher Edition Howeg herausgekommenen Gedichtband Der Rede Dreh. Poemanderm Schlaf – auf 1800 neunzeilige Strophen belaufende Megapoem (1999) durchzieht seine insgesamt über 600 Buchseiten mit einem Trennstrich, um die für diesen Autor offenbar typische Parallelführung herzustellen. Der Suhrkamp-Band ist außerdem mit kleinen Emblemen ausgestattet, die auf den Wechsel der Beschreibungsebenen hinweisen. Derartige Fülle scheint geradezu stupend oder, um ein Eggersches Wortgebilde aus dem zweiten Surhkamp-Band zu nehmen: seltzam.
Raoul Schrotts u. a. auch langzeilig ausschwingende Verse hinwiederum verlangen ein breiteres Buchformat als üblich. Auf Buchgestaltung legt auch dieser Autor sehr viel Wert und ist bei Peter-Andreas Hassiepen, dem ebenfalls genialen Buchgestalter bei Hanser, in besten Händen. Die Bauchbinde des Buches kündet davon, dass Schrott im Herbst 2004 den (mit € 50.000 dotierten) Joseph-Breitbach-Preis erhielt. Nicht martkschreierisch, sondern dezent, wie es die gedeckten Farben des Schutzumschlags sind. Das Weißbuch ist selbstverständlich in echtes Leinen gebunden, hellblau, und fadengeheftet.
Was nun diesen jeweilig makellos ausgestatteten Gedichtbänden fehlt, ist allein der gute Ton. Oswald Egger ist ja ein profilierter Performer und Raoul Schrott ein begnadeter Deklamator. Einen empfehlenswerten Zugang zu den Eggerschen Textlandschaften bieten aber gerade Lesungen des Autors, wo die Buchvorlage über Strecken zum Ausgangspunkt für dessen Improvisationen wird. Die Texte in Prosa, Proserpina, Prosa, für die Egger 2004 den Karl-Sczuka-Förderpreis für Hörspiel als Radiokunst des SWR erhielt, würden durch eine akustische Beigabe sicher gewinnen; das Weißbuch würde als Audiobuch noch an Würze zulegen. Aber weder der neue Egger noch der neue Schrott verfügen über die silberne Scheibe, die die Töne bedeutet. Na, schade jedenfalls.
Diese Äußerlichkeiten wollen hier doch erwähnt werden, weil man ja nicht irgendwelche Gedichtbände in Händen hält, sondern solche von renommierten Lyrikern – der eine elitär, oder besser: prononciert hermetisch – und preisgekrönt (Mondsee-Lyrikpreis, Clemens-Brentano-Lyrikpreis, Christine-Lavant-Förderpreis, Förderpreis der Stadt Wien, Lyrikpreis Meran); der andere populär, oder besser: prononciert vulgär (weil er Dichtung unters Volk bringt) – und ebenfalls preisgekrönt (Großes Österreichisches Staats-Stipendium für Literatur, Preis des Landes Kärnten, Leonce-und-Lena-Preis, Peter Huchel-Preis, Förderungspreis für Literatur). Egger hat sein Programm der durch Aleatorik und lexikalische Trouvaillen generierten Texte fortgesetzt, Schrott das seine ebenso, nämlich deutschsprachige Lyrik mit einiger Chuzpe an den Standard internationaler, teils Nobelpreis-gekrönter Lyrikgrößen wie Seamus Heany, Charles Simic oder Derek Walcott anzuschließen.
»Kalkliebend sintern Zwergpippau und Kugelblumen, aus Steineichen, / die ihre langen Wurzeln durch den Schotter bohrten, der gilb’fse Enzian.« So liest sich hier Egger. Aber es geht auch anders: »Wo ich schritt, begann alles Gras naßklamm zu leuchten (kräuseln / und verschwimmbt [...]).« Der Reiz der Kombinatorik aus Akzeptablem und Inakzeptablem, aus Grammatikalischem und Ungrammatikalischem (um einmal Chomskys generative Terminologie zu bemühen) macht’s aus. Dinge und Taten – die zitierten Beispiele sind repräsentativ für das Gesamte – werden zum Erscheinen und im Erscheinen wieder zum Verschwinden gebracht: dieses Zeigen und Verbergen hat etwas von jenem Heiligen, das Raoul Schrott im Vor- und Nachwort seines Weißbuchs verhandelt. Die dort angeführte Etymologie verortet den Begriff unter anderem beim griechischen phaino, ›das, was sich zeigt, erscheint, leuchtet‹ und in der Folge bei der indoeuropäischen Stammsilbe *neu = »etwas übermächtig Fremdes, das sich einem zuwendet«, woraus das religiöse Ritual »auf die Erscheinungen deutend; und ihr Numinoses schließlich vor Augen rückend« gemacht hat. Eggers Buch definiert sich – und wieder mit Schrott gesprochen – wie das Heilige »über einen Bannkreis. Vor ihm scheut man zurück: was solcherart mit einem Tabu belegt war, dem näherte man sich nicht ungestraft. Dem mysterium tremendum, das man im Heiligen einmal sah, begegnete man mit ebenso viel Abscheu wie Ehrfurcht, es war ein Faszinosum, vor dem man flüchtete und von dem man doch angezogen wurde, starr staunend.« Die Reaktion auf das Heilige, so würde ich sagen, ist heute nicht viel anders. In der Religion wie in der Lyrik hat es nämlich immer nur »ganz kleine Verschiebungen« gegeben. Dieser Einschätzung von Altmeister Ernst Jandl ist durchaus zuzustimmen.
Die Schrottsche Lyrik – hier »im Gefolge von Petrarcas Trionfi zu Zügen« angeordnet – ist im Vergleich zur Eggerschen ungleich handfester. Wie Egger die Anverwandlungen von Celan, Hölderlin oder Pastior früherer Tage hinter sich gelassen hat, ist Schrott längst aus dem Schatten H. C. Artmanns getreten. (»h.c. [...] ich denk an dich und betracht die spitzen meiner schuhe sonst nichts« heißt es bei Schrott jetzt.) Man liest eine lyrische Fülle von Stilleben, Tableaux vivants und Versspielen, bilder- und bildungs-, erlebnis- und einfallsreich. Wie in den vorausgegangenen Gedichtbänden Hotels und Tropen auch mit Ort und Datum versehen. Zum Heiligen gesellen sich die Motivkomplexe der Jagd und der Liebe, inhaltlich nahe liegend, aber auch lautlich verquickt (vgl. Venus und lat. venatio für Jagd), etymologisch sowieso. All das sind Ordnungsprinzipien wie Eggers Satztechnik oder die zu Beginn von Eggers Gedichtband angeführte »Homologie der Vorgänge (Itinerar)«, die am Schluss als »Inhalt (Iteration)« wieder auftaucht. Zwischen diesen sinnigen Ordnungsprinzipien kann man sich aber ganz unverkopft an die Materie der sinnlich geordneten Wörter machen – und das bereitet in beiden Fällen Lust.
»Wir lesen Gedichte wieder gerne« – Klings Wir ist kein Pluralis Majestatis, der Satz gilt für uns alle. Er ist nicht so zu verstehen, dass alle alle Gedichte gleichermaßen gerne lesen. Nein, die einen lesen diese, die anderen jene – das kann Zeitgenössisches oder Historisches bis zu den Anfängen der Dichtung überhaupt sein, was Schrott mit seinem Bestseller von der Erfindung der Poesie ja vorgeführt hat. Gedichte sind in unseren Tagen vielleicht wirklich ein bisschen selbstverständlicher geworden: Man liest sie einfach ab und an und die Lektüre muss nicht aller Orts säuerlich moralisierend eingefordert werden. »Der Weg aus dem globalisierten Universum der zugerichteten Prosa in die Landschaften der Poesie ist nur noch über die Bücher zu finden. Und gottlob gibt es historisch und praktisch gut ausgerüstete Führer wie Raoul Schrott, die die längst überwachsenen Pfade kennen.«, so etwa Hanser-Verleger Michael Krüger in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises. Mag sein – oder auch nicht. Begehen wir nicht den Fehler, die Sache den Führern allein zu überlassen. Wir leben ja in Zeiten, in denen die Songwriter, etwa der junge Adam Green oder der alte Bob Dylan, neben den Eggers und Schrotts im Regal stehen. Vergessen wir sie nicht. Und vergessen wir erst recht nicht die Reime unserer Kindheit. Und unseren »Wunsch, poetisch handeln zu wollen.« Denn »der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächlich unentreißbar mit uns tragen können.« So hat es H.C. Artmann 1953 proklamiert. Nicht als Aufforderung, »publik zu werden«, sondern einfach poetisch zu leben.
Bernhard Sandbichler