Rezensionen 2005

Raoul Schrott, Handbuch der Wolkenputzerei.
München: Hanser, 2005. 


     Ein Buch, unverzichtbar für Schrott-Leser: anregend, erhellend, originell sind die hier versammelten „Schriften, Reden und Pamphlete“ (S. 13). Gewusstes und Erdachtes können getrost nebeneinander stehen und miteinander verbunden werden, die ganze Palette seiner Interessen kann Schrott ausbreiten, ohne sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, er vermische Fakten und Fiktion auf undurchsichtige und ungehörige Weise, wie es in Kritiken vor allem zu seinem großen Roman Tristan da Cunha“ der Fall war.
     Eröffnet wird der Band mit einer in Zürich gehaltenen Rede: „Lassen Sie mich Ihnen also zunächst den an die Wand malen, der ich bin: ein der Öffentlichkeit dargebotener Schriftsteller – der ihr jedoch nur seine Masken hinhalten mag, und dies in einer tragikomischen Travestie, einer hochgestapelten Himmelfahrt zu den Sternen mit dem Titel: De Personis & Larvis Earumque Apud Veteres Usu Et Origine Syntagmation oder Über eine Schiffsgeburt auf dem Weg nach Brasilien“ (S. 16 f.). Wer sich erwartet, hier mehr über den Menschen Schrott zu erfahren, wird enttäuscht. Vielmehr wird tatsächlich hochgestapelt, verschleiert, verwirrt, wobei sich auch die eine oder andere Zeitungsente wieder findet. Am meisten von Schrotts Persönlichkeit blitzt noch in einer Rede für saarländische Schulabgänger („Der wölfische Hunger“) durch. Die Begründung für die Abneigung gegen Biographisches bleibt der Autor dem Leser nicht schuldig: „[...] und was überdies die Literatur betrifft, so habe ich das Ich darin noch zu betonen schon immer für Koketterie gehalten. Und dazu zähle ich biographische Angaben ebenso wie das übliche Photo auf der Buchklappe [...], das Buch allein ist es, das zählt“ (S. 20).
     Dieses Buch bietet eine Sammlung unterschiedlichster Themen und Texte, dabei werden je nach Kontext (es empfiehlt sich, bei der Lektüre den Anhang zu beachten) unterschiedliche stilistische Register gezogen. Vieldeutig sind die Überschriften, die die einzelnen Essays zu insgesamt acht Kapiteln zusammenfassen. Nach den einleitenden „Posen & Possen“ führen sie von der Erde („Eine Erdung der Poesie“) über ein ,Bindeglied’ („Kompendium der Blitzableitungen“) bis in den Himmel („Vom Luftraum der Wolken“, „Schall & Rauch“, „Wolkenkuckucksheime“ und „Die Leere des Himmels“). Abgeschlossen wird der Band schließlich mit einem Journal, das anlässlich einer Reise in den Iran entstand. Schrott befand sich dort während der Zeit der ersten Angriffe auf Afghanistan und zeichnet hier ein sehr persönliches Bild des Landes, das stark von der medialen Berichterstattung in Europa abweicht.
     An vorgeblich Autobiographisches, eine Hommage anlässlich H.C.Artmanns 75. Geburtstag, zwei Beiträge zur Frankfurter Buchmesse und eine „Mainzer Stadtschreiberrede“ schließen zwei Dankesreden anlässlich der Verleihung des Peter-Huchel bzw. des Joseph-Breitbach-Preises an, in letzterer erfolgt ein interessanter Exkurs über die Zusammenhänge von Geld und Literatur und über die Grundlagen ihres Erfolges. Im „Kompendium der Blitzableitungen“ reagiert Schrott unter anderem auf die Kritik, die auf seine Nachdichtungen in der „Erfindung der Poesie“ folgte und polemisiert seinerseits über die Literaturkritik, er ergänzt mit eigenen Erfahrungen und hat augenscheinlich „Lust am Disput“ (S. 300). Schließlich führt er noch „fünfzehn Kunstgriffe eines Verrisses“ (S. 114 ff.) an, die zwar laut Anhang als „Skizze einer bloßen Seminarübung“ gedacht waren (S.300), die aber die Sicht eines Autors auf schlechte (nicht negative!) Kritik eindrucksvoll wiedergeben. Den Inhalt der Schriften vollständig aufzulisten würde hier zu weit führen, verweisen möchte ich aber noch auf die originelle, als Plädoyer formulierte „Verteidigung der Poesie“, die einer Reihe von Essays über Dichtung und Dichter (Rückert und Rilke) vorangestellt ist, und auf einen Themenkomplex, zu dem Schrott immer wieder zurückkehrt und dem er auch hier zwei Schriften widmet: der Religion. „An dem, was Religion ist, hat sich seit Urzeiten nichts Wesentliches geändert“, schreibt er, „sie ist die Mutter aller Dichtung, aus deren Umklammerung sich die modernen Poesien erst langsam herauswanden“ (S. 175).
     So überzeugend, überraschend und schön formuliert dieses Buch auch ist, so muss sich Schrott dennoch Kritik gefallen lassen, denn auch in dieser Publikation sind ihm offensichtliche Fehler unterlaufen. Vor allem die Musik wird ihm immer wieder zum Fallstrick: Beethovens 3. Symphonie nennt er „Heroica“ statt „Eroica“, ein Fauxpas, der daher rühren mag, dass sie tatsächlich einen ,heroischen’ Charakter hat und im Französischen ,Héroïque’ geschrieben wird. Allerdings kommt in dieser Komposition keine „Tschinelle“ vor (die, wenn, dann ,Becken’ heißen müsste). Weshalb Schrott ausgerechnet die historisch und ideologisch belastete „Eroica“ für einen Vergleich herangezogen hat, wenn es auch jede andere bekannte Symphonie getan hätte, verwundert. Des Weiteren haben Instrumente keinen „Oktavenumfang“ (,Ambitus’, wenn man es wissenschaftlich möchte, das Wort ,Tonumfang’ tut es auch), Dur und Moll sind keine Tonarten, sondern Tongeschlechter, Quinten und Quarten sind nicht nur „gleichsam nach mathematischen Prinzipien“ geordnet, sondern gehen auf die pythagoräischen Intervallverhältnisse zurück.
     Schrott räumt selbst ein, dass es ihm grundsätzlich mehr um das „Spiel der Augen und Hände“ gehe (S. 218) als um das Musikhören. Sein Zugang zur Musik ist fassbarer, wenn er sich ihr über das Sichtbare nähert, wie in den Betrachtungen zum Bassisten Jaco Pastorius und der Geigerin Viviane Hagner, oder über das Literarische („Mahlers Hund“). Verzichtet Schrott auf musikalische Fachsimpelei, entsteht Raum für wunderbare Formulierungen: „[...] in ihren besten Momenten verschafft uns die Musik eine Ahnung dessen, was es heißt, ganz in der Welt zu sein, in ihr aufgehoben“ (S. 229). Sehr schlüssig ist auch seine Rechtfertigung der freien Übersetzung von Gedichten mit den verschiedenen Tempi der Sprachen ebenso wie die Forderung, zu übersetzende Gedichte nicht zu „transkribieren“, sondern zu „transponieren“ (S. 90).
     In diesem Buch ist sehr viel Wissens-, Nachdenkens- und Diskussionswertes zusammengetragen. Und auch wenn Schrott sich dagegen wehrt, zu viel von seiner Person nach außen dringen zu lassen, so gibt er hier doch sehr viel von sich preis, indem er uns teilhaben lässt an seiner Art, die Welt zu betrachten, an seiner Ehrfurcht, mit der er die Poesie hochhält und an seiner Fähigkeit, Sprache „kaleidoskopisch“ (S. 15) zu neuen Gefügen zusammenzusetzen. Das Handbuch der Wolkenputzerei zeigt genau das, was Schrott ausmacht: Den Versuch, die Form der Gedanken, die sich letzten Endes nicht festmachen lassen, die sich von Dichter zu Dichter, von Generation zu Generation verändern und dennoch alle aus demselben Stoff gemacht sind, nachzuzeichnen, in dem Bewusstsein, dass die Konturen wieder verschwimmen werden: „Die Bilder, die man entwirft, sind letztlich Trug, Embleme der Ohnmacht, an die Dinge herankommen zu können. Es trotzdem zu wollen, darin liegt ihre Rechtfertigung; dabei stets in Frage zu stellen, darin liegt ihre Wahrheit. Mit ungeteilter Zustimmung hat dies nichts zu tun“ (S. 53).

Carolina Schutti