Rezensionen 2005

Gotthard Bonell, Hautgrenze.
Mit Texten von Marion Piffer Damiani, Monika Knofler, Heinrich Schwazer, Peter Weiermair, Peter Paul Kainrath / Hautgrenze von
Martin Pichler.
Wien/Bozen: Folio, 2004.


Durch das gesamte Schaffen des Südtiroler Künstlers Gotthard Bonell (Jg. 1953) hindurch zieht sich die Auseinandersetzung mit organischen und anorganischen Strukturen, mit dem Thema Existenz & Verfall. Der zwischen 2000 und 2003 entstandene und in dem vorliegenden Buch präsentierte (außerdem durch Textbeiträge von Kunstexperten kommentierte)Bilderzyklus stellt in dieser Hinsicht den bisher zentralsten Werkblock dar (Knofler). Beeindruckend und berührend, mitunter aber auch abstoßend treten dem Betrachter seltsame Geschöpfe in meist extremer Nahsicht entgegen: menschliche Körperteile, deren Hautstruktur oder Fleisch überdeutlich festgehalten wird, inszeniert durch ihre Position, da und dort wie Pakete verschnürt; oder Früchte bzw. an Früchte erinnernde menschliche Körperformen; pelzige, haarige oder glatt glänzende Oberflächen, deren Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen ahnbar ist, deren Herkunft und Bedeutung aber letztlich rätselhaft bleiben. Die erotische Komponente und deren Verknüpfung mit einer Atmosphäre von Vergänglichkeit und Verfall, also die unentwegt sich vollziehende Auflösung der organischen Struktur und die darin verborgene Schönheit, treten in den Mittelpunkt des Interesses. Der Titel des Buches – „Hautgrenze“ – signalisiert jene Grenze, welche das Innen und Außen entweder verbindet oder gegeneinander verschließt, womit weniger ein psychologischer Aspekt als eine leibliche Realität angesprochen, womit auch an eine Tradition angeknüpft wird. „Die Spannweite der hervorgerufenen Gefühle zieht sich von verwundbar, schützend, sinnlich, vergänglich, verbergend, spannend bis zu fast abstoßend. Bonell nennt diese Arbeiten ‚inszenierte Haut-Stilleben-Landschaften’. Es werden dabei die großen Themen der Malerei – Landschaft, Akt Portrait, Stilleben – überprüft, neu ausgelotet, miteinander verbunden oder in Ausschnitten neu definiert.“ (Knofler) Es handelt sich um eine klassisch orientierte Konzeption, die das menschliche Dasein umkreist, dabei aber den exhibitionistischen Blick nicht scheut und auch den animalischen Kampf nicht ausklammert. „In Bonells neuen Bildern haben die Erotik und der Tod ein dauerhaftes Lager nebeneinander aufgeschlagen.“ (Schwazer)

            Das vielteilige, aus zahlreichen „Votivtafeln“ bestehende Werk soll, so möchte der Künstler, zusammenbleiben und es wird auch in dem Buch – schlicht, aber ästhetisch sehr ansprechend - als ein Ganzes vorgestellt. Einbezogen und damit über seine Existenz hinaus festgehalten wird auch der Raum, in dem Bonell den Zyklus ausstellte: eine zum Abbruch vorgesehene Kunstschmiede und Schlosserwerkstatt. Der im Verhältnis zu den Bildern überdimensionale (1.000 Quadratmeter große) und vollkommen leere Raum, seine roh belassenen Wände, verkörpern nur noch die Haut oder die Schale der ehemaligen Produktionsstätte (Piffer Damiani) und unterstreichen so das Thema der Bilder.
            Eine weitere Dimension eröffnet der literarische Text von Martin Pichler, der ein interessant komponiertes Stück Prosa darstellt. In 5 Abschnitten wird die Geschichte einer Familie skizziert, das Verhältnis der Eltern zueinander und zu deren erwachsenen Kindern bruchstückhaft vorgeführt. Jeder Abschnitt eröffnet eine neue Perspektive, Mutter, Vater, Sohn, Tochter schauen in unterschiedlicher Weise und aus den je eigenen Emotionen heraus auf das Familiengefüge. Erzählt wird aus großer Distanz, denn die Familie, so erfährt man allmählich, ist in Auflösung begriffen, die Mutter stirbt und am Ende, im 5. Abschnitt, schließt ein unbeteiligter Erzähler gewissermaßen die Tür, kommentiert das Geschehen als universellen Vorgang: die Figuren der Geschichte sind blaß geworden, es gibt nur noch das Haus, die Erinnerung an einen Mittagstisch, an eine gemeinsame Zeit, es gibt „den Anrufer“, „jemanden“, „ein Orakel“. Doch obwohl Martin Pichler die Beziehungen der Menschen und das Geschehen alles in allem als flüchtig darstellt, erschafft er doch in einzelnen Abschnitten konkrete Situationen, so etwas wie ein Stück Alltäglichkeit. Die Krankheit der Mutter, ihr Sterben, die Unbeholfenheit des Vaters, die Wut des (angedeutet homosexuellen) Sohnes, die um Zusammenführung bemühte Tochter -  all das bleibt nicht abstrakt, sondern tritt plastisch hervor, es rückt so nahe, dass man es beinahe greifen kann. Aber eben nur beinahe. Im wiederkehrenden Bild des Telefons, das verbindet und wieder auseinanderreißt, das hinterher schellt, aber nicht erreicht, thematisiert Pichler – punktuell in große poetischer Dichte - seine „Hautgrenze“, die Unmöglichkeit eines wirklichen Zueinander-Kommens.  Es ist die Allgegenwärtigkeit des Todes, die Beziehung verhindert, die den Einzelnen auf sich zurückwirft und jene Egozentrik bedingt, die Annäherung und Kontakt verhindert.
            Gemeinsam ist Bonell und Pichler das Streben nach großer Detailtreue bei gleichzeitigem Streben nach einer universellen Aussage. Was Pichler, so könnte man interpretieren, mit dem akustischen Bild des Telefons herstellt, nämlich die gescheiterte Suche nach einem Miteinander, bringt Bonell durch seine Nahsichten auf Hautstrukturen, Hautpakete und Schnürobjekte auf den Punkt: Kommunikation und Austausch reichen nicht weit, Verschmelzung bleibt eine Utopie. Doch ob dies bedauert werden muß, bleibt offen.

Erika Wimmer