Rezensionen 2006
Siegfried J. Schmidt, Zwischen Platon und Mondrian. Heinz Gappmayrs konzeptuelle Poetik.
Klagenfurt: Ritter 2005
Es lebe die Dauerreflexion!
eine Rezension von Markus Köhle
Siegfried J. Schmidt macht Heinz Gappmayr mit diesem Buch ein ganz besonderes Geschenk zum 80sten Geburtstag. Schmidt selbst ist gerade 65, geht seit 35 Jahren Lehrtätigkeiten an mehreren Universitäten nach, ist momentan Vorstand des Institutes für Kommunikationswissenschaften der Universität Münster und seit 1959 als Autor, Künstler, und Theoretiker im höchsten Maße aktiv.
Für Gerhard Jaschke, den Herausgeber der Literaturzeitschrift „Freibord“ die stets offene Flanken für strenge künstlerische Konzepte und das flottierende Feld der ästhetischen Ansätze habe, ist die Stadt Innsbruck und Visuelle Poesie gleichbedeutend mit Heinz Gappmayr. Siegfried J. Schmidt wiederum ist für Jaschke der Paradeanalytiker und künstlerische Programmatiker von Visueller Poesie und Sprachraumkunst. Anlässlich der 30 Jahr Feier der Zeitschrift holte sich Jaschke dieses Paar nach Wien, in die „Alte Schmiede“, um den Band „Zwischen Platon und Mondrian“ zu präsentieren. Im Folgenden werden Buch- und Veranstaltungsbesprechung miteinander versponnen.
Die Beiträge im vorliegenden Ritter-Theorie-Band spiegeln gut 40 Jahre Entwicklung von Praxis und Theorie der konkreten Kunst und Dichtung in wechselseitigen Bezugnahmen zweier befreundeter Autoren. Die Palette reicht von ersten Konkrete-Kunst-Manifesten und Grundsatzerklärungen in den 60er Jahren, bis hin zu den Versuchen eines zeitgemäßen, neuen Selbstverständnisses konkreter Kunst und Dichtung.
Das ist nicht wenig. Gut, dass Gappmayr bereits in den 60er Jahren für die Ewigkeit formulierte. Das heißt, dass es immer wieder zu Wiederholungen von Definitionen und Beispielen kommt. Das schadet in diesem Fall nicht, macht die Sache (Gappmayrs Poetik) nur klarer. So finden sich bereits in sehr frühen theoretischen Arbeiten Gappmayrs (60er Jahre) heute noch gültige Kernsätze Gappmayrs:
„In der konkreten Poesie gibt es keine Symbole, keine Metaphern, d. h. keine abstrakten sprachlichen Formen, die auf Objekte der Wahrnehmungswelt verweisen.“ (S. 13) Das ist im Anbetracht der Komplexität des Betrachtungsgegenstandes erstaunlich luzid formuliert. Das Gedachte werde als real gesetzt. Sprache verweise auf etwas, sei abstrakt, liest man und folgt gerne. „Konkret bedeutet in der konkreten Poesie das Unmittelbare des Gedachten, Sinnhaft-Logischen, Ideenhaften, das in den Zeichen der Schrift erscheint.“ (S. 19)
In der visuellen Poesie wird also das Erscheinen von etwas Gedachtem, der Übergang vom Zeichen zum Begriff sichtbar. Gappmayr weist auf die Universalität der Begriffe hin, hebt hervor, dass sie etwas Allgemeines und Ideenhaftes sind. Gappmayr arbeitet das seiner Ansicht nach eigentliche Thema der visuellen Poesie klar heraus und sieht es im Übergang vom Physischen der Schrift in das Gedachte des Begriffs. „Der visuellen Poesie geht es um das Erscheinen von Ideen in Wortzeichen.“ (S. 24) Und die Differenziertheit zwischen Zeichen und Begriff sei in der visuellen Dichtung nicht etwas Vermittelndes, sondern eine poetische Qualität.
In der visuellen Dichtung wird das einzelne Wort als etwas Selbständiges betrachtet, es wird die Unschärfe der Sprache thematisiert. Auch der Raum modifiziert den Begriff in der visuellen Poesie. Die Wörter aber stehen für sich – sind keine Metaphern, stehen vor dem Leser wie Gegenstände, die Objekte, über die sie etwas sagen sollten, fehlen. Das ist u. a. ein großer Unterschied zur traditionellen Dichtung und alles schon in Gappmayrs theoretischen Texten aus den 60er Jahren heraus zu lesen.
Schmidt attestiert Gappmayrs Poetik eine „unerhörte Klarheit“. In theoretischen Texten seiner Feder aus den 70er Jahren ortet er einen Übergang von „experimentell-konkretisierenden“ zu „konzeptionell-konkreten“ Sprachvertextungen und stellt fest, dass die konkrete Poesie nicht mimetisch, sondern generativ sei.
„Im visuellen Text werden nicht die empirischen Objekte, sondern die Kategorien des Denkens in der Sprache selbst sichtbar:“ (S. 45) Wichtig zum Verständnis von konkreter Poesie ist sein Hinweis, dass die konkret visuellen Arbeiten nicht einzeln interpretierbar seien, dass vielmehr Klarheit über die Art des Werkes geschaffen werden müsse. Eine Gemeinsamkeit aller visuellen Texte Gappmayrs erkennt Schmidt 1970: „Es sind Meditationstexte: Texte als gezeigter Vollzug von Schauen und Denken.“ (S. 47)
Schmidt weist darauf hin, dass in der Beschreibung der konkreten Dichtung oft negative Kennzeichnungen verwendet werden. Die Negation als Kategorie zur Beschreibung konkreter Dichtung wird nicht nur von Gegnern dieser Literatur angewandt, sondern auch von den Befürwortern. Konkrete Poesie negiert episches, narratives, lyrisches Sprechen, negiert die Mimesis, und das Metaphorische. Konkrete Dichtung teilt nichts mit.
„Als konkretes Werk ist es weder optische Gestalt noch Text, sondern Objekt oder Text in Potentialität.“ (S. 61) Visuell-konzeptionelle Poesie sei vielmehr Sprache mit „Neu-Sinn“. Neue Formen der Bedeutungskonstitution werden gesucht. „Visuell-konzeptionelle Poesie arbeitet nicht mit Sprache; sie verwirklicht sich als Sprache, […] sie präsentiert das Prinzip möglicher Sprache als literarischen Prozeß.“ (S. 70)
Die Rolle des Rezipienten dabei ist: „Der Rezipient konkreter Texte wird, weitaus radikaler als bei der Rezeption fiktiver literarischer Texte, aus einer Genießerrolle in eine Realisationsrolle gedrängt. Die Rezeption erfordert eine Anstrengung der Anschauung und des Begriffs zugleich, eine Lösung von angebotenen Sinn-Problemen, die sich erst dann als ästhetischer Genuß realisiert, wenn die Rezeption die Null-Kontexte gefüllt, die paradigmatische Dynamik des konkreten Textes in Gang gesetzt hat und dabei erfährt, dass konkrete Texte sich dem Verbrauch entziehen, weil sie auf die Gesetzmäßigkeiten von Vertextung überhaupt transparent sind. Zog der Betrachter und Leser gegenständlicher Kunst bzw. semiotischer Literatur den ästhetischen Genuß aus dem Vergleich des Textes mit einer suggerierten Wirklichkeit als Vorbild, so gewinnt der Rezipient konkreter Kunst den ästhetischen Genuß aus der Entdeckung der Theorie (=Interpretabilität) aus dem Text bzw. aus dem Vergleich von Theorie (= Textprojektion) und ihrer Realisation im Text.“ (S. 79)
Diese Arbeiten nehmen den Betrachter entweder ganz auf, oder sie schließen ihn ganz aus. Diese Kunst thematisiert primär das Sehen, der Reflexionsgehalt des Werkes ist wichtiger als die mimetische oder Repräsentationsfunktion. So benutzt Gappmayr beispielsweise seinen Gegenstand – die Sprach – nicht argumentativ, sonder präsentativ und schrieb schon 1970: „Das einzelne visuelle Gedicht in seiner Vollständigkeit ist die Erscheinungsform einer bestimmten Beziehung zwischen den Begriffen oder Ideen der Dinge und den Zeichen der Schrift.“ (S. 134)
Übrigens: Der 80jährige Gappmayr trug frei vor, im Stehen, mit am Rücken verschränkten Armen und verkündete: „In der Literatur geht es meist um etwas, um etwas, das außerhalb der Sprache ist. Es ist immer ein Bezugspunkt da, zu etwas, das außerhalb der Literatur liegt.“
Gappmayr streute Anekdoten ein und erzählte amüsiert, dass ihn einst ein Bediensteter der Österreichischen Nationalbibliothek anrief und sagte, dass es sich bei dem in der ÖNB eingelangten Buch um einen Fehldruck handeln müsse, da es zur Gänze leere wäre. Das Buch trägt den Titel „Raum“ und soll so sein, erklärte Gappmayr dem Verstörten gelassen und bedankte sich für die Nachfrage. Auch im öffentlichen Raum verwirrten Gappmayrs Werke.
Die vier Jahreszeiten zum Beispiel, dargestellt durch die Datumsangabe, geschrieben auf ein weiße Plakatwand und mitten im Wald bei Reutte aufgestellt, riefen Augenzeugen zufolge, Kopfschütteln der Wanderer hervor. Gappmayr berichtete es mit Vergnügen.
In der Kommunikation müssen wir darauf vertrauen, dass die anderen ähnlich denken wie wir. Sonst funktioniert Kommunikation nicht. Man hörte dem freundlichen Herrn gerne zu und konnte ihm gut folgen.
Schmidt ist anderes aber auch verständlich. Er hat die Stimme, die Artikulationsweise und das Charisma von Eduard Zimmermann aus „XY ungelöst“. Bei Schmidt aber bleibt nichts ungelöst, der umsichtige Analytiker lässt keine Fragen offen und bewies Humor, in dem er den Vortrag Gappmayrs als erhellend kommentierte und nüchtern hinzu fügte, dass es ihm, dem Theoretiker, nun obläge, das Themengebiet wieder zu vernebeln.
„Weil wir Ordnungen aus Ordnungen erzeugen, ist das Zitat einer Ordnung deren geistige Vergegenwärtigung, also eine Form der Anwesenheit von Abwesenheit. Dabei wird dem Betrachter durchaus zugemutet, nach der gelieferten kognitiven Blaupause Raumordnungen selbst zu entwerfen oder Paradoxien zu erwägen, dergestalt, dass die grafisch evozierte Räumlichkeit und Zeitlichkeit durch einen materialen Akt der Verneigung auf der Zeichenebene konterkariert wird.“ (S. 159f.)
Nebelgranaten dieses Kalibers sind die Ausnahme und obwohl sich Schmidt redlich bemühte, blieb klar, dass Gappmayrs Themen kategoriale Aspekte unseres Denkens und die Realität des Gedachten sind, dass Schrift nichts anderes als der Versuch mit Linien Sinn zu vermitteln ist, dass es keine genaue Deckung zwischen Begriff und Gegenstand gibt, dass Gappmayr mit Textfragmentierungen arbeitet, dass er an der Schnittstelle von kognitiver Erfassung und Sprachmaterialität und ohne imperatives Mandat operiert, dass er durch Kontextentzug das Drama der Sprache sichtbar macht und, und, und, und, ja, dass Gappmayrs zeitloses Thema die Kategorialität des Seins ist.
Zwar gibt es keine Poetik mehr mit Anspruch auf Normativität aber da man Gappmayrs visuelle Arbeiten nicht lesen kann, sondern sie sehen muss, möge man seine und Schmidts theoretische Texte lesen und dann schauen, sehen und verstehen.
Es lebe die Dauerreflexion!
Markus Köhle