Rezensionen 2006
Renate Scrinzi, Vita Minima.
Erzählung.
Bozen: Raetia, 2005.
„Vita Minima“ ist eine merkwürdige Geschichte, die Renate Scrinzi, bislang als Lyrikerin in einem Gemeinschaftsprojekt mit dem Künstler Ivo Rossini in Erscheinung getreten, auf schmalen 76 Seiten erzählt. Es ist die Geschichte vom Tod einer Mutter, die mit ungewöhnlicher Lakonie aufgerollt wird. Nahezu minutiös den Ereignissen folgend erinnert die Erzählung an einen protokollartigen Bericht. Dennoch vermutet man von Beginn an, dass da etwas kommt, eine „unerhörte Begebenheit“, wie es einer Novelle gebühren würde. Und es sind denn auch novellenartige Züge in der Erzählung auszumachen, der Wendepunkt etwa am Ende des dritten Kapitels, oder das durchgängige Motiv des „minimalen Lebens“, das schon im Titel aufgenommen ist, und dessen rätselhafte Bedeutung erst nach und nach klar wird. „Vita Minima“ hat auch mit Erfrieren zu tun, bei dem der Körper mehr und mehr auf ein Minimalprogramm schaltet, bis der letzte Rest Wärme und Leben verbraucht sind. Die Geschichte eines Todes, eines tragischen Ereignisses also, eine Art Novelle - wäre da nicht die Sprache, die sich zuweilen nahe an der Lyrik bewegt, das Geschehen verdichtet und im Stil des inneren Monologs gehalten ist. Die Sprache der Figuren in dieser Erzählung deutet mehr an, als sie konkret in Worte fasst, sie spart mehr aus, als sie ausspricht, lässt vieles in Stimmungen und inneren Befindlichkeiten anklingen und nützt Bilder des Traums, um das Geschehen zu erklären.
Was geschieht nun in dieser kurzen Erzählung, die so atemlos geschrieben ist, dass man leicht in einen Sog gerät und sie in einem Zug ausliest.
In vier Abschnitten werden die – wie es im Klappentext des Buches heißt – „letzten Tage des Lebens der 71-jährigen Luise“ beschrieben, die von einem Spaziergang nicht wieder zurückkehrt, die verletzt im Wald erfriert. Luise, eine attraktive, jung gebliebene, auf ihr Äußeres bedachte Frau, die die Zeichen des Alters und der Einsamkeit verdrängt, hatte sich zu einem Kurzurlaub im nahen Kurort entschlossen, sie scheint das Leben zu genießen. Alles bestens, möchte man meinen, wären da nicht ihre Gedanken, die zeigen, dass sie keinen Boden unter den Füssen hat. Der Schein der Normalität an der Oberfläche trübt sich immer wieder ein: „Die Tiefe verbirgt sich unter der Oberfläche der gewöhnlichen Dinge des Alltags. Sind nicht einfach nur da. Und plump. Und schon wieder und wieder. Sind da, um den Abgrund des Lebens zu verklären. Dem Steilhang des Nichts ein Schnippchen zu schlagen, (...)“ (S. 27)
Die Geschichte erzählt gleichzeitig auch von Marie, ihrer Tochter und davon, wie sie lebt. Und wir erfahren von Eduard, ihrem um einiges jüngeren Lebensgefährten und Ersatzsohn, der völlig abhängig von ihr ist. Die vier Kapitel der Erzählung, je mit einem Zitat überschrieben, die den Spannungsbogen der Erzählung inszenieren, fangen - wie mit dem Kameraauge beobachtet - den Lebensalltag der Figuren ein. Das Erzählte wirkt wie in wechselnden Sequenzen auf eine Filmleinwand projiziert. Marie, Eduard und Luise begegnen einander nicht, sie scheinen ohne Bezug zueinander, dennoch decken die zeitlich simultanen Szenarien Verflechtungen und unglückliche Verstrickungen auf. Marie, Eduard und Luise verrichten ihr Tagwerk ohne besondere Spannung, das Ende der Geschichte jedoch liegt wie ein geahnter Schatten über allen Szenen. Die Figuren in der Erzählung tun, was zu tun ist, aber auf allem liegt eine eigentümliche Schwere, deren Ursachen erst auf den letzten Seiten ans Licht kommen und mit ihnen auch das überraschende Ende der Erzählung.
Wo der Blick mit der Kamera endet, was der Kamera, der vorbehaltlosen Beobachtung entgeht, führt die Sprache der Erzählung weiter, indem sie das Innere der Figuren in ihren Fokus nimmt und Befindlichkeiten aus der Innensicht anleuchtet. So entsteht das Psychogramm eines Mutter-Tochter-Verhältnisses. Beziehungslosigkeit, Traurigkeit, Glücklosigkeit sind der Filz, der Maries Sicht auf das Leben überzieht: „Keine Gesichter. Öde. Gepflegte Unterhaltung vorgeschrieben. Leidenschaftslos, dürftig, unempfänglich, klamm. Klammes Land, starre Menschen.“ (S. 45)
Den vier Kapiteln der Erzählung ist je ein Zitat als Motto vorangestellt, die man aufeinander bezogen lesen kann. Wie „Leseregieanweisungen“ lenken sie den Assoziationsbogen und deuten das Geschehen auf einer übergeordneten Ebene: So ist das erste Zitat eines von Jakob Wassermann: „Eine Kugel kann man nicht überblicken, sie bietet dem Auge immer nur Teilansichten.“ Teilansichten vermag auch die Erzählung vom Leben der Figuren zu vermitteln, nur in Teilansichten nehmen die Figuren sich gegenseitig wahr, dass alles mit allem zusammenhängt, ist keiner bewusst. Im Leser, in der Leserin allerdings verbinden sich diese Teilansichten zu einem komplexen Bild, ermöglichen einen tieferen Blick in die innere Verbundenheit. „Vita Minima“ beschreibt die „normale“ Tragik, dass am Ende nicht einmal der Schatten eines Lebens bleibt.
Christine Riccabona