Rezensionen 2007

Der Turmbund (Hg.), Fluchträume. 
Lyrik und Prosa. Texttürme Nr. 6.
Innsbruck: Turmbund 2006


„Der Turmbund“, Innsbrucks „Gesellschaft für Literatur und Kunst“, blickt auf eine mehr als fünfzigjährige Geschichte, die – wie könnte es anders sein – von vielerlei Phasen, von Höhen und Tiefen, von Entwicklungen und Sackgassen berichten könnte. Immerhin gehört sie zu den wenigen österreichischen Literaturvereinigungen, die mehrere Generationen überdauert haben. Und inzwischen nimmt sich die altmodisch anmutende Bezeichnung „Gesellschaft für Literatur und Kunst“ zwischen den vielen kurzlebigen ‚logos’ bereits wieder interessant aus – ein literarisches Fossil, wie auch immer, sympathisch, tatkräftig und lebendig. Über die Jahre haben sich die unterschiedlichsten Generationen im „Turmbund“ im kleinen Literatursalon in der Müllerstraße die Hand gereicht, haben Autorinnen und Autoren der unterschiedlichsten Herkunft und Richtungen dessen Räume bevölkert. Und es hat den Anschein, dass dabei etwas Wichtiges bis heute weitergegeben werden konnte: die zugeneigte, beharrliche Arbeit für die Sache der Literatur. Dazu gehört auch die Förderung unbekannter Talente jeden Alters, die Einrichtung von Publikationsmedien, eine Plattform für Lesungen und Begegnungen. All dies bewerkstelligt das Engagement des Vorstandsteams des „Turmbunds“ sowie der zahlreichen Freunde im Umkreis.

In der neu erschienenen, nun schon sechsten Anthologie der Reihe „Texttürme“, ist es gelungen, 36 Beiträge von teils ganz jungen unbekannten Namen, (vielleicht also kleine Debüts), sowie von einigen der älteren Generation, deren Namen im näheren Umfeld seit langem geläufig sind, sowie Beiträge von manchen, die soeben im Begriff sind, etwas bekannter zu werden, zwischen zwei Buchdeckeln zu versammeln. Der Band enthält Beiträge von Hugo J. Bonatti, Dielinde Bonnlander, Malte Borsdorf, Martina Brauns, Urban Comploj, Dimitré Dinev, Sabine Eschgfäller, Dorothea Furch, Marianne Gradl-Grams, Christl Greller, Judith Gruber-Rizy, Christine Haidegger, Brigitte Hitzinger-Hecke, C.H. Huber, Evelin Juen, Oswald Köberl, Maria Koch, Kerstin I. Mayr, Elisabeth Mehlmann, Dorothea Merl, Karl Mussak, Claudia Paganini, Fritz Pechmann, Carolina Pietrowski, Christa H. Raich, Annemarie Regensburger, Stefan Rois, Ingeborg Rotach, Thomas Schafferer, Brigitta Scherleitner, Gregor Schürer, Aurelia Seidl-Todt, Bosko Tomasevic, Rainer Wedler, Laura Weidacher, Cenet Weisz.
Der Titel ‚Fluchträume’ mag für das Buch als gut überlegter thematischer Aufhänger dienen, der am Ende alles Mögliche zusammen zu halten hat. Denn es gibt bekanntlich so viele Anknüpfungspunkte an ein Wort wie denkende bzw. schreibende Individuen. Flucht als positive Denkmöglichkeit, Flucht als unfreiwillige Notwendigkeit und Zwang, Flucht als ‚bewegtes Unterwegssein’ und Flucht als Ausdruck einer Befindlichkeit und psychologischen Konstante - zwischen all den Möglichkeiten oszillieren die Beiträge der Anthologie, die Christoph W. Bauer mit folgenden Worten einleitet: „Eines der Geheimnisse von Literatur ist es, Worte mit einer anderen Bedeutung aufzuladen. Der Begriff Flucht schafft auf diese Art Räume, sie zu betreten sind die Leser dieses Buches eingeladen.“

Es ist ganz und gar unmöglich, hier auf alle 36 Beiträge im Einzelnen zu sprechen zu kommen, es folgt daher ein spontaner, an einer Hand voll einzelner Texte gespiegelter Leseeindruck. 
C. H. Huber entfaltet in ihrem Text „Last Minute“ eine Flucht im schönsten Sinn des Wortes, eine Reise nämlich an eine geliebten Ort, der zurückgibt, was sich im fernen Zuhause allzu leicht verflüchtigt: ein archaisches Lebensgefühl, getaucht in Wärme, Wildheit, Farben, Lust.
Aber fliehen lässt sich auch mit dem Blick: Fritz Pechmann hält sich in seinen schmal gehaltenen ‚Reisegedichten’ an den Topos des im Bild verschwindenden Betrachters.
In Brigitta Scherleitners Text wird ein Traum zum Aufenthalt in einem Flucht-Raum und im Text von Aurelia Seidl-Todt eröffnen „Betrachtungen auf einen Meter“ Fluchtwege aus dem Schweigeraum einer allzu vertrauten Zweisamkeit. Während sich das wortkarge Gegenüber im Gitternetz der Kreuzworträtsel buchstabensuchend vergräbt, fliehen ihre Gedanken in die Rätsel der Erinnerungsräume.
In der kurzen Geschichte von Cenet Weisz’ führt der Autor ein zunehmendes, über räumliche Maßstäbe hinausreichendes ‚Sich-Entfernen’ vor. Er legt in seinem Text perspektivisch ein 'Lineal' von dem einem Tag in Wien, an dem die Hauptfigur die vertraute Stadt verlässt, bis ins Los Angeles neunzehn Jahre später und beschreibt mit wenigen Sätzen, wie ein großer Fluchtraum sich auf Befindlichkeiten verengen kann: „Gehen ist ein Treten auf ein und derselben, sandigen Stelle, (...).“
Fliehen in kalter Todesnähe beschreibt Urban Complojs kurzes Textstück „En fuite“, und eine bemerkenswerte Tonlage zieht sich durch die Gedichte Sabine Eschgfällers, einer Autorin, die an Kaser geschult ist und vielleicht in ihrem konsequenten ausschreiben der umlaute eine zarte Hommage an den Autor in ihren Gedichten versteckt.
Dimitré Dinevs Beitrag wiederum ist ein traurig ironischer Text, der die reale Lebenssituation dessen in den Blick nimmt, der nicht nur freiwillig geflohen ist um anzukommen, um im fremden Land als Schreibender zu überleben.
Flucht als Aufbruch lautet in Elisabeth Mehlmanns Gedicht so: 

in den fluchtrucksack:
unterhosen und
warme sachen
eine zahnbürste und
ein zweites paar schuhe

in den fluchtkopf:
gedanken an morgen
und weiter
ganz unten
versteckt für später:
bilder von gestern

fluchträume
fluch träume
             grenzenlos

Christine Riccabona