Rezensionen 2007

Oswald Egger, nihilum album. Gedichte & Lieder
Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2007 

Über den ver- / entrückten Ort der Poesie. Assoziative Bemerkungen zu den Vierzeilern von Oswald Egger 

„Worte, wie Zinkblumen“- heißt es in dem 1997 in der Edition Solitude erschienenen Band „Juli, September, August“ von Oswald Egger. Zinkblumen, lateinisch „nihilum album“ („weißes Nichts“), entstehen beim Schmelzen von Zink und bilden dabei als Ablagerungen blumenartige lichtflüchtige Wollflöckchen. Darin liegt für Oswald Egger ein Denkbild für seine 3650 Vierzeiler „Lieder & Gedichte“, soeben bei Suhrkamp erschienen unter dem Titel „nihilum album“: Worte wie ein weißes Nichts, aber eben nicht ganz „Nichts“, sondern ein solches, das über sich hinaus wächst, über sich hinausweist und einen Raum jenseits des Gegenständlichen hin öffnet, Denk- und Sprechlinien der Ratio hinter sich zurück lässt.
Egger gilt seit Jahren als eigenwilliger und profilierter deutschsprachiger Autor, Wortakrobat und Wortklangkünstler, der an vielen Orten schon gelebt und geschrieben hat und derzeit auf der Raketenstation und Museumsinsel Hombroich weilt. Im letzten Jahr wurde Egger mit dem „Peter-Huchel-Preis“ für den Band „Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalendergedichte“ ausgezeichnet. In seinem jüngsten, bibliophil gestalteten Gedichtband versammelt Egger „Sing-Sprüche, zergliedert in grotesk tänzelnde Wortlaut-Arabesken und Klang-Girlanden Ton in Ton, die das Jahr – á jour – durchmustern und in einer Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten überspringen (so wie man Tempel hüpft).“ So ist zu lesen im Klappentext des Bandes. Stanzen, Priameln und Schnaderhüpfeln: Wer weiß schon noch, wie sie klingen, diese kurzen, volksliedhaften, gnomischen Dichtungen, die vor allem vom 12. bis ins 16. Jahrhundert verbreitet und beliebt waren. Etwa so: „Wer kann / Juwallari / nicht singen, / was wir erfinden?“ (S. 101) Wer schon könnte den 3650 Versen widerstehen, und wenn schon nicht singen, dann zumindest hören und hörend lesen, dem Buch ist - mit gutem Grund - eine CD mit Eggers Lesung einer kleinen Auswahl der Verse beigelegt.
„nihilum album“ klingt wie ein Begriff aus einem botanischen Lexikon, lässt an eine seltene historische Rose denken, an eine Pflanze, an zierliches Unkraut oder prächtige Blume. Das Sichtbare, Bildhafte der Worte allerdings bleibt zunächst ohne Wichtigkeit, geht es in den Vierzeilern des Bandes doch vor allem auch um den Klangkörper, den die teils eigenwilligen Sprachschöpfungen aus Worten, Morphemen und Silben entfalten. Tatsächlich schält sich aus den 3650 Vierzeilern des Bandes mit Gehörsinn gelesen ein Klanguniversum heraus, das wie mit dem Stethoskop die gerade nicht mehr oder gerade noch vernehmbare Geräuschwelt der Natur einzufangen trachtet - eine Klangwelt, die etwa dem Aufblühen der Gräser, dem Fallen eines Tropfens, dem Aufplustern des Gefieders eines Vogels u. a. abgehorcht zu sein scheint. Von Oswald Egger selbst gelesen, wird an den Texten klar, wie genial Sprache sich vom Atembogen, von der Intonation und vom Rhythmus quasi choreographieren lässt. Je länger, je öfter gelesen, desto mehr vernimmt das Gehör ein Raunen aus dem Hohlraum der Sprache selbst. Diese Ablagerungen in den Wörtern sind der Schlick, der die Sätze, die Vierzeiler zusammenfügt. Das mag vom Standpunkt des Dichters aus alchemische Arbeit sein, gelesen wirkt diese jedenfalls wie Sprach-Magie mit einer beträchtlichen Verzauberung. Egger dreht das Erdreich der Sprache um, legt das Wurzelwerk frei, durchpflügt den Boden nach Samen früherer Wortschichten. Er erfindet die Sprache so nicht neu, er findet aber Begriff- und Wortraritäten, die abgelegen, selten gebraucht, deren Bedeutung von kaum jemand gewusst wird: Silg, Stichelklee, Speltkorn, Granne, Krampen, Bachgabelalge, Trespen, Tschuppen, Borstenmoos usw. Der Dichter, der sein Netz in die Gewässer der Sprache auswirft, verbindet, was sich darin verfängt und versammelt, zu immer neuen Fügungen. So dürfen auch die zarten Grafiken, die lose zwischen die Verse gestreut sind und die an verfremdete, fremd gewordene Buchstaben erinnern, als immer neu ausgeworfene Runenstäbe interpretiert werden. So vermehren sich die Wörter, steigern und variieren ihren Klang und drehen sich aus den ihnen normalerweise zugewiesenen Bedeutungshalterungen, werden frei schwebend.
Es ist als ob der Dichter ganz selbstverständlich sich anschickte, „der Rede Herr: zu sein im Nichtstandard-Teil der Sprache“. (Oswald Egger: „Freien Fußes“. Beitrag bei den Wiener Vorlesungen zur Literatur 1996/97; erschienen in dem von Egger herausgegebenen Band „Rhythmus“. Der Prokurist, Nr. 19/20, 1998, S. 370). Dies heißt, für die Freiheit der Dichtung einzustehen. Denn „dichterische Freiheit“ wörtlich genommen zieht Abweichungen von gewöhnlichen Sprachregeln nach sich, die sich der Dichter, meist mit Rücksicht auf das Versmaß oder den Reim, in der Wortfügung und Wortbildung sowie im Gebrauch von Ausdrücken bisweilen erlaubt. Nicht nach Sinnstrukturen, aufgefädelt auf den gewohnten grammatikalischen und syntaktischen Leinen, ist zu suchen, und nicht nach Bildern und Geschichten gängiger Weltsichten, denn „die Wörter selbst (…) bilden so etwas wie einen Echoraum, sie kommen ab- und anklingend miteinander ins Gespräch, rufen sich wechselseitig auf. Zu verstehen sind hier einzig die lautlichen Wort-Wort-Beziehungen, wohingegen die Bedeutungsebenen des Textes, also der Wörter insgesamt und deren Satzzusammenhang unzugänglich bleibt“, so schreibt Felix Philipp Ingold über Eggers Dichtung in den „Manuskripten“ (Nr. 175, 2007, S. 163).
Oswald Egger selbst stellt bezüglich „nihilum album“ eine interessante Verbindung zur Volkspoesie her und nicht zufällig hat Er dem Band „Lieder & Gedichte“ als Untertitel mit auf den Weg gegeben. Das Volkslied, die Volkspoesie, sagt Egger (sinngemäß) in einem Interview, sei wesenhaft hermetisch, sei über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben, etwas, das nicht mehr verstanden wird, werden kann, sondern in der Wiederholung und in der Anwendung in verschiedenen Situationen am Leben bleibt. Das Verstehen geschieht erst durch dieses Anwenden, durch das „Zersingen“. (Mehr von Oswald Egger über „nihilum album“ in diesem Interview auf der Suhrkamp-Homepage, sehr zu empfehlen!)
„Nicht verfügbare Welten haben in sich etwas von Geheimnis.“ Und Oswald Eggers poetische Welten sind nicht verfügbar. Ob Lana, Bozen, Wien, New York oder die Raketenstation Hombroich, der geläufige Sinn topographischer Entstehungs- und Bezugsorte der Texte Oswald Eggers bleibt oberflächlich, Orte sind vielmehr Ankerplatz der grundsätzlichen Frage, was Sprache ist. Und: Welchen Ort hat die Poesie? Das Sprachprojekt Oswald Eggers schreitet den Raum der Poesie ab, lotet aus. Verdichtet. Entfernungen, räumliche Distanzen schwinden, Kausalitäten wirbeln durcheinander. Der Raum hinter den „Orten“ öffnet sich: das Lied, das in den Dingen schläft, wird hörbar.
Das Teilhaben der Sprache an den Gezeiten der Gegenwart ist ihre Gefangenschaft. Aus ihr herauszutreten in einen Raum des a priori „Anderen“ einer entfesselten Sprache der Poesie ist u.a. auch eine Provokation, die von den Texten Eggers ausgeht, indem sie vorschnelle Verständlichkeit wie Verbindlichkeit verabschieden, denn „wir reden und wir sehen nicht, aber erschaffen uns Schemen“, schreibt Oswald Egger in „Herde der Rede Moiré“.
Man könnte Eggers lyrische Position als hermetisch und apolitisch abtun – allerdings hieße das jenes poetisch/politische Potential zu übersehen, das sich als Freiheit und widerständige Unordnung ausdrückt, als Behauptung einer prinzipiellen Anderswelt.

Christine Riccabona