Rezensionen 2007

Josef OberhollenzerGroßmuttermorgenland 
Eine Erzählung aus den Bergen
Wien: Folio, 2007

Josef Oberhollenzer lässt sich mit dem Veröffentlichen seiner Texte Zeit. Im Abstand von mehreren Jahren sind zwei Bände erschienen: 1994 sein Gedichtband „in der tasse gegenüber“, 1999 eine Sammlung von Kürzestgeschichten „Was auf der erd da ist – vom scheitern & gelingen, vom vergessen & erinnern“. Dieser Band enthält sozusagen den Keimling der nun bei Folio erschienenen ersten längeren Erzählung mit dem wunderbaren Titel  „Großmuttermorgenland“. Es ist eine Kindheitsgeschichte, eine Erzählung über die Liebe der Großmutter, die Liebe überhaupt, über die Sehnsucht, über das Daheimsein, auch über das Scheitern im Glück.
Josef Oberhollenzer ist kein Vielschreiber, seine Texte sind vielmehr mit großer Meisterschaft in Lakonie und Reduktion geschrieben. Er habe den langen epischen Atem nicht, hat Oberhollenzer einmal von sich selber gesagt.
Dass er mehr in der Lyrik daheim ist, in einer Lyrik, die vor allem eine große Nähe zur Musikalität hat, macht den Reiz seiner Prosa geradezu aus, am Rande sei bemerkt, dass der Autor selber Musiker ist.
In „Großmuttermorgenland“ gibt es keine überflüssigen Wortlasten, vielmehr sorgt ein schlank gehaltener Erzähltext für einen flüssigen Rhythmus. Dieser verleiht der Sprache eine Leichtigkeit, die in einer extrem produktiven Spannung zum Inhalt steht, denn wie nebenbei handelt dieser Text auch von den Schrecken und Katastrophen, die hinter dem Gewohnten und Altbekannten lauern. Durch konsequentes Zurücknehmen der epischen Fülle lässt Oberhollenzer konzentrierte Destillate der Wirklichkeit entstehen.  Dass diese Wirklichkeit eine jenseits falscher Idyllen ist, versteht sich von selbst. Die Kindheitswelt nämlich, von der die Erzählung handelt, ist gefüllt mit Schweineschlachten, Erdäpfelklauben, Gewalt, Tod und Weihwasser, mit engen Schlafkammern, harten Wintern und mit dem hereinbrechenden Tourismus. Es ist eine Welt, in der es hieß, zuviel denken mache krank (S.13) und in der das Fragen der Anfang vom Schmerz war (S.28).
Ein skeptischer unsentimentaler Realismus ist in dem, was vor den Lesern ausgebreitet wird, aber keineswegs ein kalter Blick und nicht die geringste Spur von Zynismus. Es geht dem Autor auch gar nicht so sehr um das äußerliche Beschreiben und Erzählen einer Kindheit in den Bergen, sondern vielmehr um das Hindurcharbeiten bis zum inneren Kern der Geschichte.
Dieser Kern ist schon im Titel „Großmuttermorgenland“ enthalten: Die Erzählung ist auch eine Hommage an die Großmutter, die ohne Sentimentalität, mit augenzwinkerndem Humor, leiser Ironie und all der Zuneigung nachzeichnet, was sich in das Herz und Hirn des Kindes, des neunjährigen Buben, eingeprägt hat. Die Großmutter verkörpert den Sehnsuchtsraum hinter den Bergen, das Morgenland, auch das Gegenteil zur Welt des Vaters – Großmuttermorgenland ist ein Land der Verheißung, wo die Sehnsucht heimkehrt. „Hinter den Bergen ist die Erde rund“, sagt die Großmutter allmorgendlich, und damit der Bub mit seinen Händen und Augen nachforschen kann, schenkt sie ihm den Großen Weltatlas.
Es ist die Stimme der Großmutter, die in allen Sätzen über diese Kindheitsheimat anwesend ist. „Großmuttermorgenland“ ist also auch ein Buch über ‚Heimat’, oder vielmehr über das Gefühl für Heimat in jenem Sinne Ernst Blochs, der einmal gesagt hat: „Heimat ist das was jedem in die Kindheit scheint und worin noch nie jemand war.“
Josef Oberhollenzer führt die vielen Erinnerungsfäden in die Herkunftswelt seiner Figur wie Schleifen allmählich zu einem ganzen Bild zusammen. Die Erzählung erinnert an eine Novelle, indem sie das Geschehen wie an einem Ariadnefaden aus einem zugrunde liegenden Ereignis heraus entwickelt – einem Ereignis, von dem erst am Ende der Erzählung zu erfahren sein wird, und das dann noch einmal die ganze Geschichte rückblickend in ein anderes Licht taucht. Was da geschehen ist, was diese Erinnerungsrede herauslockt, hervor treibt, bleibt bis zuletzt im Hintergrund, aber es hat die Kraft, die Figur ganz in die Tiefe hinein, ins Innere ihrer Familiengeschichte zu führen. Ihr Erinnern ist wie sein Unterwegssein auf den Bergen: „gehend in sein kindsein hinein.“
Die Erzählung ist aus der Geste eines tiefen Hineinhorchens in die Figur geschrieben, in ihre Monologe, ihr Erinnern, in dem das Kindsein zwar zeitlich fern, aber doch zum Greifen nahe liegt.
Der Autor allerdings hält uns auf Distanz, ganz lässt er uns nicht heran an seine Figur, die sich unmerklich entzogen hat und deren Erzählen durch eine/n, der/die ihm zuhört, vermittelt wird. Wir Leser bleiben draußen im äußern Kreis und es ist, als würden wir einen ‚Bericht des Berichts’ lesen. Diese indirekte Rede bewirkt eine sekundenfeine Zeitverschiebung. Sie öffnet einen winzigen Spalt zwischen Erzähltem und Erzähler, in dem die Ahnung von Schmerz und Verletzung Raum findet. Vor allem aber wird durch die indirekt gebrochene Erzählform die Fragilität jedes Zurückdenkens vermittelt: „Alles, was er erzähle, habe kaum den geruch des tales, dieser einkerbung, tief, dieser klaffenden wunde in der welt. Von was er berichtet, sei so nicht wahr, sei nur wie die schrift auf dem löschblatt, verschwommen, verzerrt.“
Das Erzählen wird solange von einem fernen leisen Erinnerungston begleitet, bis die Figur im zweiten Abschnitt unvermittelt „ich“ zu sagen beginnt und wir in der unmittelbaren Erzählsituation gelandet sind. Das Vergangene rückt plötzlich nahe heran und wir erhaschen einen Millimeter dieser Figur, schauen ihr direkt ins Auge, bis wir begreifen, dass hier einer sich selber seine Geschichte erzählt, um sich in ihr seiner Existenz zu vergewissern.
Oberhollenzer gelingt durch diesen Wechsel von der Unmittelbarkeit zur vermittelten Distanz eine brillante Bewegung in der Sprache. Durch nahe und ferne Bilder, durch leise und harte Töne arbeiten wir uns langsam herauf durch die Jahre bis zur Gegenwart, folgen den Erinnerungsspuren, die kreisförmig und spiralförmig angelegt sind und die Schicht um Schicht die Oberflächen der Außenwelt abtragen, bis man im Herz der Geschichte angekommen ist. 

Christine Riccabona