Rezensionen 2007

Sepp Mall, Wo ist dein HausGedichte
Innsbruck: Haymon, 2007 

Die Gedichte von Sepp Mall haben einen bemerkenswerten Entschleunigungsfaktor: Man liest und wird immer langsamer dabei, fängt wortgenau zu sehen an, folgt dem Satz- und Bildsinn, taucht ein in das Spiel der Assoziationen und lässt mehr und mehr den Gedankenfluss in den Zeilenlauf der Gedichte münden. So gesehen bleibt das Erörtern und Reden über die Gedichte hinter dem Ertrag der konzentrierten Lektüre zurück. Allerdings: „Der Interpret, die Interpretin muss reden“, hat Wulf Segebrecht einmal ganz einfach gesagt, „keine Machtworte über den Sinn des Gedichts, keine Ergriffenheitsbekundungen, sondern zustimmungsfähige, jedenfalls nachvollziehbare Beobachtungen.“ Nun denn.
Sepp Malls dritter Gedichtband „Wo ist dein Haus“ trägt den Stoff jener Welt, in der der Autor seit jeher lebt: ein unauffälliges, von Geschichten, Erinnerungen und Landschaftsmotiven durchwirktes Gewebe, das auch unter dem Gewicht großer Themen nicht zerreißt.
„Wo ist dein Haus“ besteht aus sechs Zyklen, die jeweils sieben bis elf Gedichte umfassen. Die Titel der Zyklen wirken als thematische Mittelachsen, die Sinnfelder und Deutungsspielräume eröffnen. Jedes einzelne Gedicht erhält durch diese Einbindung zusätzliche Bedeutungsaspekte als Teil des Ganzen.
„Stand der Dinge“, Gedicht und Titel des ersten Zyklus’, führt in ein bewohntes Zuhause. „Noch / bleib ich hier“, lautet die erste Zeile, mit der ein ‚Ich’ den Raum des Gedichts betritt – eine Zeile, die unausgesprochen die Frage ‚wie lange’ und ebenso den Gedanken an ein ‚Fortgehen’ andeutet. Dieses ‚Ich’ aber schreitet aus und nimmt Maß an den Räumen des Erinnerns, die „im Atlas der verlorenen Orte“ verzeichnet sind. Die Gedichte folgen den Spuren des Vergangenen in die kleinsten erfahrbaren Gehäuse der Kindheit, in die Landschaften ländlicher ‚microcosmi’, die einst mit Kinderschuhen durchmessen wurden. Dort sind die individuellen Topografien des Beheimatet-Seins zu verorten. „Sieh dich um // : dies ist alles / was dir //gehört“, heißt es in einem der Gedichte.
Der zweite Zyklus „Lichtwechsel“ steht im Zeichen des Veränderns. Im Gedicht „Winterwende“ wechselt das Licht, betritt ein ‚Du’ den Raum der Sprache, der „Stand der Dinge“ ändert sich, die Jahre liegen im „Dunkel der Gärten“, und es gilt „ : Lauter Fremdheit (plötzlich) // zu lernen“. Es sind die kleinen unscheinbaren Details, die der Autor so aneinanderfügt und unauffällig in Beziehung bringt, dass sie zu allegorischen Bildern für Stimmungen und Befindlichkeiten werden, die mit Begriffen nur äußerlich benennbar sind. ‚Sehnsucht’ beispielsweise bringt das Gedicht „Rekonvaleszenz“ so zum Ausdruck: Die ersten fünf Zeilen skizzieren mit zwei, drei Wortlinien ein als ‚ferne’ empfundenes Landschaftsbild im Frühjahr („Osterhasengrün“). Dann folgt der Fokus auf das Ich und seinen inneren Grund („Ich warte auf Berührungen“). Mit sparsam gesetzten Details macht der Autor dann einen Assoziationsraum auf, der dieses ‚Warten’ (den inneren Grund), mit dem fernen Frühlingsbild des Anfangs in Verbindung bringt und es subtil als Sehnsucht nach einem Du spürbar werden lässt. Die letzte Zeile schließt dann den Bogen wieder zum Landschaftsmotiv. Sie ergänzt das ‚ferne’ Bild mit einem zeitlichen ‚später’, das ein Gegenbild enthält. Es denkt das kühle frühe Grün der Felder und den ‚blassen Horizont’ des Gedichtanfangs weiter in ein „Später / in satten Sommerwiesen“.

Rekonvaleszenz

Dann im Osterhasengrün
Über die Felder / am Blickrand
Wo eine blasser Horizont bleibt: aus-
gefranste Zirren über Bergketten
ferne

Ich warte auf Berührungen
Tische / über die
du deine Finger legst
oder Ameisen / die unter den Saum
der Hose kriechen

Später / in satten Sommerwiesen.

„Jahrestage“, der dritte Zyklus, markiert den Einbruch des Todes, das jähe Bewusstwerden der Vergänglichkeit, und da und dort drängt sich ein Abschiednehmen in die Gedichte. Und dennoch: Gerade dieser Zyklus enthält  fünf „happy birthday“-Gedichte. In einem gibt es „einen Satz / den man // leichten Schrittes durch-// mißt // Vor uns / liegt dieses  Jahr // (-tausend) // : als wärs ein Haus // in der Nacht.“ Nirgends stärker als in den Texten dieses Zyklus’ ist man von Malls Kunst berührt, das Schwere nahezu unerträglich leicht zu schultern.
Dann erzählen die Gedichte auch vom Lauf der Zeit, vom Wechsel der Jahreszeiten, beispielsweise vom Beginn des Winters, wenn es da heißt: „Und wenn der Herbst sein Kapitel / schloß (von einem Tag auf den andern) / blättern wir einfach um (wie wirs gelernt) / auf eine schneeweiße Seite / voller Hasenspuren / vorsichtiger Tritte / ins Licht“. Das Gedicht gehört zum vierten Zyklus „Frühe Spiele“, der das Thema des Vergangenen, seines Herüberleuchtens und Hineinwirkens in die Gegenwart variiert. Die Gedichte erzählen von Kindheitswintertagen, von Freundschaft und Nähe, von dem, was bleibt als Abdrücke in der Zeit.
Die Gedichte des fünften Zyklus’ „Wo ist dein Haus“ sind Standortbestimmung und verdichten das Unmaß der ausgesetzten, bedrohten Existenz, die Kälte menschlicher Gegenwart, etwa wenn die Rede ist von „vollen Booten“, oder von dem, was „von Amts wegen“ geschieht. Hier kommt die unaufdringliche, dennoch intensive Präsenz eines lyrischen Tons zur Geltung, der Anklage gegen Unrecht erhebt, der aber später dennoch auch die menschliche Geste nicht unterschlägt: „Und etwas / gibt es // das bleibt // in dieser offenen Landschaft // (..) „Geöffnete Gatter / gehalten // von freundlicher Hand“.
„Auf leeren Feldern“, der letzte Zyklus, handelt vom Verlorenen, von den notwendigen unvermeidlichen Verlusten, der „Sollbruchstelle des Herzens“. Das Vergangene bleibt als Erbe, wie die Heimaterde an den Schuhen mitreist von Bahnsteig zu Bahnsteig.
Landschaften sind allgegenwärtig in Malls Gedichten. „Von hier nach dort“ zeichnet die verschiedenen Tempi des Unterwegsseins in diesen Landschaften nach, hält das Fortkommen der Schnecke und die Geschwindigkeit der Motorräder gegeneinander – als zwei unvereinbare Zeitmaße des dennoch und immer Gleichzeitigen. Herbst- und Winterbilder grundieren atmosphärisch die meisten Gedichte: das Vergehen der Wärme, das Schwinden der Farben, eine Stimmung der Stille, und inmitten aller Erdendinge taucht immer wieder unvermittelt die Nähe zu einem ‚Du’ auf. In den Gedichten Sepp Malls sind Zeilen zu finden, die schon für sich allein wie Liebesgedichte klingen, gespielt auf der Klaviatur der Landschaft und der Farben der Natur, als könntest „du ermessen / was die Landschaft von uns weiß“.
Und am Ende des Bandes, im letzten Gedicht „Auf leeren Feldern“ – eines der schönsten Liebesgedichte, ist noch einmal die Rede vom Bleiben: Die Zeile des ersten Gedichts im Band „Noch / bleib ich hier“, die noch etwas Unentschiedenes, Ambivalentes ausdrückt, wendet sich im letzten Gedicht in das bestimmte „Und dann bleib ich doch“. Die Zeit scheint für Augenblicke still zu stehen: „Und nichts / ist verloren“.
In den Pausen der Wortzwischenräume ist das Schweigen enthalten. Doppelpunkt und Schrägstrich lenken den Satz- und Lesefluss, in diesen kleinen Brüchen und Signalen liegt der Atemraum zum Innehalten. Diese bewusst gesetzten Leerstellen holen die unausgesprochene Seite der Wörter herein, öffnen die Gedichte hin zum Ausgesparten, Verschwiegenen und spielen mit dem Reiz des Fragmentarischen. Sie entlassen die Leser in die Spur des Geheimnisses und in den poetischen Sinn dieser Gedichte.

Christine Riccabona