Rezensionen 2008
Anna Stecher, Aus der Flügelstadt. Erzählung
Bozen: Raetia 2008, 283 S.
Ein Flügel- und Lebensschlag
Schwerelosigkeit und Krankheit, diese zwei Begriffe assoziiert man selten miteinander. Anna Stecher verbindet in Aus der Flügelstadt eine Todkranke mit dem Motiv des Fliegens. Mora, eine vom Hals abwärts gelähmte Südtirolerin, fährt mit ihrer Freundin und treuen Begleiterin Elisa nach China. Dort im Krankenhaus ist eine Zelltherapie ihre einzig noch verbleibende Chance auf Linderung oder gar Heilung. Die Figuren in diesem Krankenhaus sind zuerst ähnlich geheimnisvoll wie das Land, das vor dem Fenster des Krankenzimmers liegt. Elisa, die Lupa, passt auf Mora auf wie ein Wolf, der sein Junges verteidigt. Sie sieht skeptisch auf die Krankenschwester, die ihrer Meinung nach keine Ahnung hat, was Mora gut tut. Sie muss sich sehr zurückhalten als Dr. Pain versucht Moras Nerven aufzuwecken. Doch als sich auch noch Doktor John in Mora verliebt und Mora in ihn, ist das Fass für Elisa am Überlaufen. Weg gedrängt zu werden von der Seite der geliebten Freundin und ein eigenes Leben mit eigenen Zielen führen zu müssen, das kann sich Elisa erst nicht vorstellen. Sie ist es gewohnt, immer für Mora zu sorgen, ihr ganzer Lebensrhythmus richtet sich danach. Die Loslösung gestaltet sich schwierig und bedarf einiger Zeit. Nach und nach erst akzeptiert sie die liebenswürdige Signora Rosa, die mit ihren Kochkünsten gute Laune herbeihext. Oneko, die kleine, rosa gekleidete Krankenschwester, stößt bei Elisa lange auf eine ablehnende Wand, die nicht kleiner wird, als sich Elisa in Yamu verliebt. Yamu ist Masseur im Krankenhaus und strotzt vor Lebensfreude. Er hat als Akrobat gearbeitet und bringt Mora mit seiner Beweglichkeit und seinem Körpergefühl zum Lachen und Weinen. Elisa muss sich eingestehen, dass das nicht ihre Welt ist, dass sie sich verabschieden muss und ihr eigenes Leben suchen. Bodenständig ist die Lupa das erdverbundene Element der Freundschaft. Mora hingegen flüchtet sich weg von ihrer Krankheit in Tagträume, die es ihr erlauben zu fliegen. Sie ist der Schmetterling, auf den Dr. John schon so lange gewartet hat. Eine Schmetterlingsfrau, der nichts Schweres anhaftet. Das Vermögen, ernsten Themen Flügel zu verleihen und sie damit umso deutlicher anzusprechen, findet man in der Literatur nicht oft. Meist hat man das Gefühl, es handle sich beim Sterben um ein Ermordetwerden von der Hand einer lieblosen Umgebung. Im Mittelpunk steht bei Stecher im Gegensatz dazu die Suche nach Flügeln, die Suche nach der Liebe. Sie sind das Gegenteil von Schmerz und Angst, über die Mora die Herrschaft erlangen soll. So leicht und federnd die Themen Krankheit und Tod umgesetzt werden, ist auch die Sprache der Erzählung.
„Er erinnerte sich daran, dass er nach ihr gesucht hatte, vor Jahren, vor vielen Jahren, und dann glaubte er, sie auch gefunden zu haben, doch sie flog davon, der Schmetterling war weg. Danach hatte er die Suche wohl aufgegeben, ja, so musste es sein. Und jetzt war er hier – in diesem Krankenhaus, wo er seine Energie dafür verwenden wollte, Menschen Flügel zu verleihen, deren Körper zerbrachen. Das war seine Aufgabe, er hatte sie eher zufällig gefunden, doch sie schien ihm die sinnvollste Beschäftigung. Die Schmetterlingsfrau ... Jetzt war sie da.“ (S. 94)
Innere Monologe, Träume, Dialoge und Einschübe, die sich ums Fliegen und um die Liebe drehen, wechseln mit den Begebenheiten im Krankenhaus. Die durchbrochene Erzählstruktur lässt den Eindruck von Leichtigkeit entstehen. Das kommt nicht zuletzt daher, dass einfache Wörter in ihrer Bedeutung wie ein Schmetterlingsflügel je nach Sonneneinstrahlung zum Leuchten gebracht werden.
Sie hörte Schritte auf dem Gang. Größere federnde Schritte und kleinere spitze Schritte. Die großen Schritte waren selbstsicher und ein bisschen trotzig, während die kleineren sanft dahintrippelten. Plötzlich hielten die großen Schritte inne und lachten, während die kleinen noch ein Stückchen weitertrippelten. „Komm her!“, riefen die großen Schritte und die kleinen gehorchten. „Küss mich!“, riefen die großen Schritte und die kleinen Schritte küssten die großen so, dass sie ein einziger langer Schritt wurden, ein großer Trippelschritt oder ein trippelnder Großschritt. Dann begannen sie zu tanzen: (S. 215)
Stecher spielt mit Extremen, sie lässt unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Da treffen die ernste mitteleuropäische Sicht auf Krankheit und Tod, die ein trauriges Gesicht als Pflicht ansieht, und die italienische Fröhlichkeit, die den Tod akzeptiert und mit ihm lebt aufeinander. Am deutlichsten ist der Unterschied zur chinesischen Kultur, die von ganz anderen Prämissen ausgeht. Der Patient ist nicht mit der Krankheit geschlagen, er lernt durch sie vielmehr neue Seiten an sich selbst kennen.
Dem Fliegen in Aus der Flügelstadt wohnt die Suche nach einer festen, sicheren Andockstelle inne, auf die man zurückgreifen kann, ist man des Fliegens müde. Die Sicherheit liegt in der Erzählung im Miteinander, im Geliebtwerden. Nach der Lektüre freut man sich schon auf den nächsten Ritt auf den Schmetterlingsflügeln von Anna Stechers Sprachkunst.
Vom Fliegen
Nichts ist schöner heißt es
als in zehntausend Metern Höhe
höher als alle Elstern
und alle Wolken
dahinzugleiten
in seiner eigenen Zeit
sechs Stunden früher
oder später
wen kümmert’s
dass die Zeit mitfliegt
eine leise Begleiterin
und doch schleicht sie dahin
dass drei Jahre vorbei sind
im Flug. (S. 213)
Barbara Hoiß