Rezensionen 2008
Otto Licha, Geiger
Hohenems: Limbus Verlag 2008
Vergangenheit ist nicht wegzudenken, auf diesen Satz ließe sich den Roman Geiger von Otto Licha zuspitzen. Im ersten Teil „Vergangenheit“ bildet die Reichskristallnacht in Innsbruck den Ausgangspunkt, der das Leben einer ganzen Familie zerstört. David springt aus dem Fenster und flüchtet nach Sizilien, von dort weiter nach Tanger. Seine erste große Liebe, die Geige, lässt er in Innsbruck zurück, spielen kann er nach seiner Flucht über die österreichische Grenze nach Südtirol in einem Schneesturm mit seinen erfrorenen Händen nicht mehr. Im Exil trifft er sein großes Vorbild, den Geiger Fritz Keller. Die Liebe zur Musik und insbesondere die Liebe zur Geige lässt ihn nicht mehr los, und als er nach 1945 wieder nach Innsbruck zurückkehrt, muss er feststellen, dass diese Liebe das Einzige ist, was ihm bleibt. Seine zweite große Liebe, Ilse, ist nach dem Krieg unauffindbar, das Spirituosengeschäft, das David gerne übernommen hätte, bleibt ihm verwehrt. Seine Heirat und seine Beschäftigung als Buchhalter sind für ihn Nebensache. Erst als sein Sohn Simon mit dem Geigenunterricht beginnt, blüht David auf. Er drängt Simon zum Üben und sucht für ihn die – seiner Meinung nach – besten Lehrer aus. Gemeinsam besuchen sie Geigenkonzerte und Simons Talent wird von den Lehrern bestätigt. Der Sohn lebt zwischen Schule und Geige. Obwohl David seine Vergangenheit vor seiner Frau und seinem Sohn nie anspricht, wird die Familie von ihr eingeholt. Simons Geigenlehrer ist eben jener Fritz Keller, den David in Tanger kennengelernt hat. Angst flammt wieder auf, als David einen Drohbrief gemeinsam mit der Unvollendeten von Schubert erhält. Eine Anzeige verläuft im Sand. David, gefangen in seiner Vergangenheit, erleidet einen Zusammenbruch, als er bei einem Konzertbesuch ehemalige SS-Leute wiedererkennt, die in der Reichskristallnacht die Wohnungen der jüdischen Einwohner Innsbrucks zerstört und sie verprügelt und verschleppt hatten. Musikalisch schwingen Erinnerungssätze im Text. Musik und Erinnerung verweben sich zu einem dicken alles erstickenden Tuch.
Der Vater wird nach dem Zusammenbruch in die psychiatrische Anstalt eingewiesen. Nach dem Tod der Mutter, sie stirbt an Leukämie, bleibt Simon allein. Der Vater kehrt aus der Vergangenheit nicht zurück und begeht Selbstmord.
David blickte in den Hof hinunter.
„Hau ab!“, hörte er Leopold Dubsky, als die SS-ler die Wohnung stürmten. David sah ihre Gesichter.
„Soll ich wirklich? Ich bin doch auch ein Schwein.“
David dachte an Luise Dubsky.
„Fritz, verzeih! Die Zeit heilt alle Wunden. Simon hat mir von deinem Abschied erzählt. Ich denke, je länger man lebt, desto schrecklicher wird alles. Nichts heilt die Zeit. Sie macht alles schlimmer.“ (S. 175)
Im zweiten Teil des Romans, „Zukunft“ betitelt, begibt sich Simon auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit seines Vaters, er begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung des eigenen Talentes. Simon gibt seine Solokarriere auf und bestreitet seinen Lebensunterhalt als Geigenlehrer. Er sucht nach den wenigen Spuren, die ihm sein Vater hinterlassen hat. Die Frage nach der Freiheit der eigenen Person stellt sich im Hinblick auf die Verstrickung des Sohnes mit der Vergangenheit des Vaters. Trotz der eigenen psychisch labilen Verfassung gelingt es Simon auf Umwegen wieder zu seinen Eltern zurückzugelangen. Er lernt Italienisch und begibt sich auf die Spuren von Davids Flucht nach Sizilien. Er forscht bei den ehemaligen Musikerkollegen seines Vaters nach, jeglichen Kontakt hat der Vater nach der Rückkehr nach Innsbruck mit ihnen vermieden, und findet schließlich nach langjähriger Suche mit seinem Freund Heinz eine Erklärung für die Vorgänge des Jahres 1938. Er entdeckt Vaters große Liebe Ilse im Stadtbild von Innsbruck, für sie ist eine Gedenktafel an ihrer ehemaligen Schule angebracht worden. Simon findet aber auch zu einer ganz neuen Art der Erinnerung, zusammen mit Bert Breit nimmt er eine „Radiophonie“ auf mit dem Titel Memento vitae et mortis.
Berts Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Geigenpassage begann. Er erwartete einen phänomenalen, urgewaltigen Klang, der die Not der Armen anprangern sollte. Doch die zehn Geigen klangen zusammen wie eine einzige, sauber gespielte Violine.
„Der Tod ist einfach“, sagte Simon. (S. 188)
Simons Suche endet mit philosophisch anmutenden Überlegungen des Protagonisten, hinter denen leider oft der Erzähler zu nahe spürbar wird. Der Wunsch, der Autor hätte sich mehr auf die Musikalität seiner Prosa verlassen, keimt auf. Auch wenn philosophische Fragen nur gestellt und nicht beantwortet werden, empfindet man ihren belehrenden Charakter oft als überflüssigen Zeigefinger.
„Jede Vergangenheit hat ihr Pendant in der Zukunft.“ (S. 308)
Simons Suche endet mit einer Hoffnung, die sich vom Selbstmord ab- und dem Leben zukehrt. Es endet der Roman Geiger, ein schönes Stück Gedächtnis.
Barbara Hoiß