Rezensionen 2008
Angelika Rainer, Luciferin
Innsbruck: Haymon 2008
Luciferin macht es dem Leser nicht leicht. Wieder und wieder will der Text gelesen werden. Selbst dann öffnet er sich nur bedingt, verblüfft, lässt Unlösbares zurück.
Angelika Rainer kreist anhand von sechs lyrischen Reden, thematisch und motivisch verknüpft, kaum in eine Narration eingebunden, um die Themen: Erfahrung von Einsamkeit und Liebe, von Vergessen und Erinnern, Sehen und Benennen. Die Rede ist häufig Ansprache eines Gegenübers, das, faszinierend wie schwer fassbar, sich erst im Akt der Rezeption generiert. Es wechseln die Perspektiven, das lyrische Ich wandelt und entzieht sich. Wir haben es zu tun mit verschiedenen Stimmen. Auf die Sprecher ist kein Verlass, ihre Bilder – meist der Natur entnommen – bleiben mehrdeutig, sind Vexierbilder, die sich je nach Perspektive wandeln.
Angelika Rainer geht in ihrem Debüt von John Bergers Erzählung Die drei Leben der Lucie Cabrol aus. Auf den ersten Blick hat ihr Text nur wenig mit den von Berger erzählten Metamorphosen einer am Lande lebenden Frau zu tun. Lucie – Cocadrille gerufen – ist schon als Kind durch Anderssein gezeichnet; kleinwüchsig, eine Art Wechselbälgchen, wird sie als einziges Mädchen am Hof, unbegehrt von den Männern, nach dem Tod der Eltern von den Brüdern verstoßen. Abseits der Dorfgemeinschaft haust sie einsam, macht als Sammlerin und Schmugglerin viel Geld, hofft als reiche Frau wieder ins Dorf zurückkehren zu können. Doch stirbt sie eines gewaltsamen Todes und nur als Tote kehrt sie wieder.
Lucie Cabrol ist eine schillernde, eine starke Figur. „Ein Kind der Erde ohne Land“. Eine Figur, die die erfahrene Kränkung nicht vergessen kann. Das Nicht-vergessen-Können verbindet sie mit der Figur des Erzählers, durch dessen Perspektive sie dem Leser vermittelt wird. Es ist die Perspektive des Liebenden – eines alten Mannes, dem die inzwischen verstorbene Lucie als Wiedergängerin den Schlaf raubt.
Umso weniger scheint Angelika Rainers Luciferin mit Bergers Erzählung zu tun zu haben, als es sich um zwei so unterschiedliche Arten des Schreibens handelt. Bergers Erzählung ist bei aller Dichte sehr klar, reduziert und klassischen narrativen Regeln verbunden. Rainers Text dagegen wirkt zeitweilig überladen, verwirrend in seiner Struktur. Und doch ist da Verwandtschaft. Was Rainer aufgreift und weiterspinnt, sind viele der kleinen, scheinbar beiläufigen Bilder, die Berger dazu dienen Menschen und ihr Verhältnis zueinander zu charakterisieren. Dabei scheint sie sich vor allem auf jene Szenen zu beziehen, in denen die Liebenden einander begegnen. So etwa, wo Lucie und ihr Erzähler ein letztes Mal lebend aufeinander treffen. Sie verschwindet im Dachstuhl und kehrt im Hochzeitsstaat zurück. Rainer nimmt das Bild auf, lässt es wiederkehren, verknüpft es mit anderen Textspuren und Motiven:
„Du legst das Kleid an in der Farbe des Wassers wie Firnis.
Es ist der Philemon, der dir zeigt, dass im lichtlosen Winkel deines Hauses
der Satz aus der Mauer hervortritt –
Länger als Glück ist Zeit und länger als Unglück“
Beide Texte erzeugen Bilder von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Kälte und Wärme. Die besprochene weibliche Figur in Rainers Text will „den Sommer in den Winter tragen“, „will die kürzeste Nacht für alle Tage“. Aus dem Stoff der Leuchtkäfer, dem Luciferin, schafft sie sich lichte Nächte: „Wie viele Käfer schaffen ein Licht, das erinnert werden kann. Wie viele Käfer schaffen ein Licht, das tröstet.“?
Eigen ist Rainers Text die starke und unverbrauchte Bildsprache. Sie hat Visionäres, wirkt weiter, weckt Assoziationen. Obwohl aus traditionellen Bildspeichern geschöpft, überrascht sie. Hohe Dichte und eine Fülle von Bezugnahmen auf weitere Texte und Mythen kennzeichnen diese lyrische Erzählung. Gerade diese Dichte und Fülle ist vielleicht auch ihre größte Schwäche. Manchmal fehlt es an Zwischenräumen, an Ausgespartem, manchmal wünscht man sich, die Autorin würde länger bei einem Bild bleiben. Man würde gerne innehalten, Atem schöpfen, verdauen auch.
Es lässt sich Rainers Text problemlos auszugsweise lesen – einzelne Passagen leuchten als hoch poetische Miniaturen auf. Will man die Erzählung als Ganzes, Zusammenhängendes nehmen, so fehlt es an einem Schwerpunkt, einem Faden, der die Teile nachvollziehbar verbindet. Durchdacht, intellektuell – manchmal so, als ob es das sein wollte – bietet sich Rainers kleines Werk dem Publikum dar, aber Orientierungshilfen gibt es ungern. Das macht die Lektüre verwirrend, nicht ganz unpassend zum Inhalt hat man das Gefühl vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Man tut sich schwer die Bilderfluten zu übersetzen, Sinn herauszufiltern, das Erzählerische (das der Klappentext ankündigt) zu erkennen. Aber – muss denn (immer) das Verrätselte entschlüsselt, das Obskure erhellt werden?
Beeindruckend ist Luciferin in seiner klanglichen Qualität. Es lohnt sich, laut zu lesen. Dynamik, Rhythmus und Brechungen: ein Sog, der Lust am Text entstehen lässt.
Iris Kathan