Rezensionen 2008
Peter Kaser, Hans Winkler: scalini 84 stufen
Wien: Folio 2007
Der Brenner. Ort des Durchzugs. Schauplatz nationaler Konflikte und Grenzziehungen. Projektionsfläche bürgerlichen Fernwehs. Ausstiegsphantasie. Warenumschlagplatz. Transitraum. Ein Ort der Kunst?
Abseits der Brennerstaatsstraße, wenige 100 m südlich des Brennerdorfs ein Wasserfall, 84 steil ansteigende Stufen, an deren Ende ein verlassener Bunker. Natur und funktionslos gewordene Grenzarchitektur im Kontrast.
Diesen Ort erklärten die Künstler Peter Kaser und Hans Winkler 2000 zum Kunstort, den Schauplatz für sich genommen zur Kunst. Sie schufen, indem sie die vorgegebenen Koordinaten des Transitraums verließen, den Blick auf etwas anderes richteten, neuen Raum sichtbar und spürbar machten, Leer-Raum, der zur Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Bedeutungs-Komplex „Brenner“ einlud. Es ist dies vielleicht das Bemerkenswerteste an dem Projekt: Raum zu schaffen, man könnte sagen poetischen Raum, einen magischen Ort, der Erzählung möglich macht.
Beide Künstler haben sich schon früher mit dem Brenner befasst.
Das Künstlerduo Hans Winkler und Stefan Micheel (p.t.t.red, Berlin) initiierte 1997 das Projekt treffpunkt niemandsland und lud Künstler aus Italien, Österreich, Deutschland und den USA dazu ein, sich mit dem Brenner auseinanderzusetzen. Hans Winkler hat damals gemeinsam mit Stefan Micheel eine Hütte auf der Steinalm zu einer frei zugänglichen Einsiedlerbibliothek umfunktioniert, ausgestattet mit 100 von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftern empfohlenen Werken.
Peter Kaser, aus Bozen stammend und in Gossensass lebend, beteiligte sich an dem Projekt mit Impostazione casa-matta. Seit Jahren schon hatte er sich mit den militärischen Infrastrukturen am Brenner beschäftigt, diese erkundet und kartographisch dargestellt. In einem der Postzugwaggons, die den Künstlern als Basislager am Brenner dienten, zeigte er einen Lageplan der Militär-Bauten, in den Sortierfächern des Waggons legte er Aufnahmen aus den Anlagen ab.
Nach Restaurierung der Stufen und des Bunkers luden Peter Kaser und Hans Winkler von 2000 bis 2007 einmal im Jahr Künstler dazu ein, den Kunstort scalini 84 stufen zu bespielen. Die Interventionen der Künstler sollten sich durchwegs auf den Ort und seine Strukturen beziehen und diesen reflektieren. "Jeder der hier stattfindenden Interventionen durfte den Ort als solchen aber nicht verändern und wurde in der Folge von den Künstlern als Weiterentwicklung des Kunstortes verstanden, vergleichbar mit einem kollektiven Weitermalen an einem bereits vorhandenen Bild." (Peter Kaser)
Tomaso Boniolo etwa brachte in seiner Intervention voglio vedere il mare Meerwasser von der Mündung der Etsch zurück an den Brenner und versuchte so Bereiche der Natur, die sich unserer Erfahrung entziehen, mit Mitteln der Kunst zu fassen. Dabei spielte er mit der Metaphorik des Kreislaufs, wie er sich in der Natur, aber vergleichbar auch im Transfer von Waren und Menschen finden lässt. Christian Yeti Beirer und Thomas Schafferer beschäftigten sich in ihren Arbeiten mit dem Brenner als „Fluchtpunkt“, der, je nach Richtung und Perspektive, mit verschiedenen Erwartungshaltungen und Projektionen besetzt wird. Kurt Lanthaler erweiterte die Stufen um die lyrische Installation :himmel & hoell. An den 84 Stufen wurden vom Autor 84 zweizeilige Strophen angebracht, die treppensteigend erlesen werden konnten. Der Schlagzeuger Jack Alemanno griff die Klänge und Geräusche des Brenners auf und trat mit ihnen bei einer Performance in Dialog. Insgesamt waren neun Künstler an dem Projekt beteiligt.
Orte wie der Brenner scheinen prädestiniert für künstlerische Auseinandersetzung: lässt er sich doch als Schwelle, als Ort des Übergangs, als Schnittstelle verstehen. An einer zeitlichen Schnittstelle siedelte sich auch das Projekt an. Der Brenner war lange Zeit ein extrem bedeutungsgeladener Ort, mit dem Schengen-Abkommen scheint er seine Identität – nämlich jenes Spannungsverhältnis von Abgrenzung und Durchlässigkeit – weitgehend verloren zu haben. Das Projekt positioniert sich im Dazwischen – dort der Grenzort in seiner Geschichtlichkeit und Vieldeutigkeit, da der Brenner, der letztlich dem Fluss von Waren und Menschen dient, dessen Infrastruktur funktions- und bedeutungslos geworden ist.
2007 wurden alle künstlerischen Interventionen abgebaut, der Kunstort scalini 84 stufen wieder sich selbst überlassen. Das Temporäre des Projektes wurde als Teil des künstlerischen Konzepts erklärt. Auch am Brenner ist ja durch den steten Verkehr, durch den Kreislauf der Natur, alles in Bewegung, flüchtig. Hans Winkler spricht dem Motiv des Verschwindens große Bedeutung zu: „Aber wird nicht gerade die Leerstelle in Anbetracht der künstlerischen Überproduktion und der inflationären Tendenzen durch die Vielzahl an Biennalen, Großausstellungen und Trends – zur konsequentesten künstlerischen Haltung – und das Verschwinden schließlich zur Kunstform?“ Nichtsdestotrotz festgehalten wurde das Projekt im vorliegenden bei Folio erschienenen dreisprachigen Katalog, der die Arbeiten der letzten sieben Jahre anhand zahlreicher Bilder und Texte dokumentiert.
Iris Kathan