Rezensionen 2008

Georg Decristel, weg bewegen/ moving away   

Eine Auswahl aus seinen Werken
Mit Beiträgen von: Heinz Gappmayr, Heidi Grundmann, Bodo Hell, Friederike Mayröcker, Rosa Pock-Artmann, Eva Schmidt / Terry Fox, Ernst Trawöger, Liesl Ujvary.“

2003 im scarabäus-Verlag Innsbruck erschienen. 

„WEGGEHEN VON…: konzentration auf die kategorie des sich entfernens, zum beispiel weggehen vom rauschen des wassers bis zum ende des hoerens des rauschens des wassers; dann stehen bleiben und maultrommeln. im verlauf entwickeln sich MYSTIFIKATIONEN DES WEGGEHENS VON… dem entsprechend etwa konzentration auf das rauschen eines tonbandes, weggehen vom rauschen des tonbandes bis zum ende des hoerens des rauschens des tonbandes …“[1]

     Dieses Buch widmet sich der Arbeit des Künstlers Georg Decristel (1937-1997), wurde von seiner Partnerin Sonja und den Söhnen Michael und Stefan Bahn in Zusammenarbeit u. a. mit Silvia Eiblmayr (Beratung) und Elisabeth Zimmermann (ORF-kunstradio – CD-Produktion) herausgegeben und präsentiert eine Sammlung von Texten (jeweils Deutsch und Englisch) jener oben genannten illustren Runde, sowie Arbeiten von Decristel selbst: Faksimiles von Texten und visuellen Arbeiten sowie eine Audio-CD.
     Der schön und stimmig gestaltete Band umkreist Person und Werk des Künstlers gleichsam, ohne eine Biographie im herkömmlichen Sinne zu sein, vielmehr indem er Decristels Arbeiten für sich selber sowie Künstler-Kollegen über ihn sprechen läßt. Biografische Daten finden wir darin von ihm selbst verfaßt als „Biobibliografien 1976-78“ und in Form der transkribierten „Biobibliografischen Notizen – 1978-1995“, die er auf Tonband aufgezeichnet hat. Hier erfahren wir, daß er 1937 in Hall in Tirol geboren wurde, diverse Studien in Innsbruck, London und Klagenfurt betrieb, „sehr viel reiste“: „in spiralen trete ich  trete ich auf  trete ich auf der stelle“ und 1977 das Österreichische Staatsstipendium für Literatur erhielt, aber auch der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik angehörte, was symptomatisch für seine Arbeit ist, die an der Schnittstelle von Literatur, Musik, bildender und darstellender Kunst angesiedelt war.
     So stand im Zentrum seines Tuns stets die Maultrommel: In unseren Breitengraden als Musikinstrument kaum ernst genommen und abgesehen von volksmusikalischen Zusammenhängen höchstens als Kuriosum gehandhabt, kommt sie in anderen Kulturen in verschiedenen Bauweisen und als vollwertiges (Musik)Instrument etwa im schamanistischen Kontext zum Einsatz oder genießt einen besonderen Status als verführerischer Klangerzeuger. Ihr spezieller Klang, der durch den starken Anteil an Obertönen zustande kommt und mithilfe der Veränderung der Mundhöhle als Resonanzraum modifiziert werden kann, veranlaßte Menschen dazu, ihm überirdische Qualität zu zusprechen und übte offensichtlich eine starke Faszination auch auf Georg Decristel aus. Seiner spezifischen künstlerischen Position, die gerade darin bestand, Kunst und Leben untrennbar zu verschmelzen, mag sie besonders entgegengekommen sein, vereint sie doch Leichtigkeit und Unspektakuläres mit Eindringlichkeit und Intensität. Bezeichnend für Decristels Position war auch, nach einer Aufzählung von durchaus prominenten Aufführungsorten seiner Performances zu schreiben: „die angaben solcher schwerpunkte sind irreführend, gleichbedeutend für mich ist die arbeit dazwischen, räumlich und zeitlich, zusammen mit anderen in zahllosen stillen workshops […]“.
    
 Aus Georg Decristels biografischen Notizen erfahren wir, daß er zunächst zu zahlreichen Lesungen von Dichtern seine "wandelmaultrommeleien“ beisteuerte; Performances mit Maultrommel in diversen Konstellationen wurden wesentlicher Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit, die weniger im Erzeugen von Objekten oder abgeschlossenen Werken bestand (er verweist z. B. auf „bücherschemel“, „textwände“, „textobjekte“ „literaturpartituren“ u. a. m.), als vielmehr in subtilen Interventionen, in zahlreichen künstlerischen Handlungen, die er „konfrontationen“, „mystifikationen“, „intrigante verquickungen“ nannte und unter denen die  „strolling performances“ („wandel-aufführungen“) eine zentrale Position einnahmen. Das subversive, marginale künstlerische Agieren, das sich nicht mit großem Gestus gebärdet sondern leise filigranes Material einschleust (oftmals in Performances von anderen Künstlern), betrieb Georg Decristel mit konsequenter Beharrlichkeit.
     „verführung zum maultrommeln, zu einer kunstübung im bereich ungewohnter sinnesempfindungen, modifizierte realitätswahrnehmung fördernd. Schallerzeugung vorwiegend im schatten, minimalisierung. […] fündig in den widersprüchen jeder atemwende, spiralisierende illusionen hervorrufend oder deren zerstörung erzeugend  […] von zusammenfluß zu zusammenfluß, von kunstgalerie zu kunstgalerie, durch die maultrommel sprechend nach einem vorhandenen (eingebildeten) rhythmus der außen- (innen)welt.“.
    
 Hochpoetisch waren seine Äußerungen in welchem Medium auch immer, eindrucksvoll auch Poesie, Konzentration und Konsequenz seiner akustischen Arbeiten: Geräuschhaftes mischt sich mit Clustern aus maultrommelerzeugten Obertönen, oftmals geistert Decristels Stimme rezitierend darin, sphärische, nicht zuordenbare und durch die Hinfälligkeit der von ihm verwendeten Tonbandkassetten zusätzlich verfremdete Klangströme pulsieren und wabern und erzeugen eine dichte Atmosphäre der Ereignislosigkeit ohne je in gefällig Meditatives abzugleiten. Hinter der unheimlichen Ruhe dieser akustischen Aufzeichnungen ist ein rastloser Geist spürbar, der mit dem Unfertigen spielt.
     Faszinierend ist die Einheit von Decristels Werk, das sein Thema mit allen Mitteln umkreiste – faszinierend etwa auch seine überarbeiteten Sonogramme. Für die Qualität seiner Arbeit, die so angelegt war, daß sie zwar im internationalen Kunstdiskurs mithalten, im Kunstmarkt aber nicht Raum greifen, sondern nur über andere Kanäle einen Weg finden konnte, spricht schließlich, wer in diesem Buch über ihn geschrieben hat. Einer dieser Kanäle war das ORF-kunstradio, dessen Initiatorin Heidi Grundmann als Wegbereiterin einer neuen Kunstform Unschätzbares zutage gefördert hat und die als solche auch für Decristel eine wichtige Ansprechperson war, wie u. a. sein „kassettenbrief“ an sie, sowie ihre Erzählung über ihn bezeugen.
     Bei so vielen und schönen Würdigungen fällt es schwer, auszuwählen. Mit einem Ausschnitt aus dem Beitrag des Tiroler Künstlers Ernst Trawöger sei geendet und empfohlen, selber in diesem Buch zu blättern und zu lesen, zu schauen und zu horchen.
     „[…] Die offenen, nicht hierarchisch, der Improvisation Spiel lassenden Konzepte der Performances entzogen jeglicher Vereinnahmung den Boden. Das periphere Abtasten räumlicher Parameter durch Tun war für mich ein Schlüsselerlebnis, wie sensibel & entmaterialisiert Kunst sein kann. […]“[2]

Milena Meller.



[1] Ausschnitt aus: Georg Decristel: „WEGGEHEN VON…“, Text, 1978 in: „Georg Decristel / weg bewegen / moving away“, Innsbruck, 2003: S. 7.
[2] Ausschnitt aus: Ernst Trawöger: „2, 3, Zen“ in: „Georg Decristel / weg bewegen / moving away“, Innsbruck, 2003: S. 145.