Rezensionen 2008

Walter Klier, Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Roman
Innsbruck, Hohenems: Limbus 2008

Alte Familienbriefe sind wie Flaschenpost, die aus den Tiefen des Ozeans der Jahre an den Strand der Gegenwart gespült wurde. Die Faszination, die von alten aufbewahrten Briefen ausgeht, ist leicht erklärbar, leicht, weil sie jeder kennt: Es beginnt beim Papier, bei der Handschrift der Briefschreiber, bei den alten Schriftzeichen, den Briefmarken, den Poststempeln, kurzum: es weht uns die Aura der Vergangenheit an. Und vielleicht suggeriert der eigentlich juridische Begriff „Briefgeheimnis“, dass man einen verborgenen Blick sowohl auf die Verfasser wie auf die Empfänger erhascht. Da nisten Familiengeschichten, werden Ereignisse festgehalten, da wird ein Blick in Beziehungen gewährt, vom Wetter erzählt oder von politischen Umstürzen. Durch die Briefe hindurch lassen sich, wenn die schreibende Hand geschickt war, Spuren von gelebtem Leben ganz unmittelbar nachziehen, weil der Brief ein Medium der Mitteilung ist: Erzähltes aus erster Hand, unmittelbar, persönlich, selektiv und sehr oft auch schonungslos offen.
Vielleicht kommt von daher auch ein Interesse an fremden Briefen, die nicht selten in sorgfältig edierten Briefausgaben zu lesen und zu haben sind, wie etwa beispielsweise Franz Marcs „Briefe aus dem Feld“.
Ist es nicht so, dass man meint, den Atem der Zeit in solchen Briefbänden zu spüren, den Wind der Geschichte? Das Interessante an Briefen ist doch, dass man in dem, was privat mitgeteilt wird, die Signatur des großen Weltganzen im Leben des Einzelmenschen wiederfindet, auch wenn nur von Alltäglichem die Rede ist, von Tagesgeschäften, Krankheiten, Brotpreisen, neuer Mode oder von politischen Dingen – das Geschriebene wirkt authentisch. Die privaten großen und kleinen Tragödien sind aber selbstredend in den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang hinein gebunden. Und gerade dieser ist es, der in Briefen so unverstellt sichtbar wird, weil er völlig ohne Absicht und meist unbewusst einfach mitgeliefert wird. Nicht zuletzt deshalb sind Briefe wertvolle Quellen für die Geschichtswissenschaft und sie sind geeignet, die aus dem subjektiven Blickwinkel erlebte Geschichte für andere, für die Leser objektivierbar, nachvollziehbar und aneigenbar zu machen (so auch zur kollektiven Erinnerung beitragen) und zwar durch die „Vorführung eines tatsächlichen Lebens, bei der die Entstellung durch ästhetische oder gar moralische Sinnprogramme vermieden ist“ (Johnson).
Das wusste Walter Klier, als er aus den Briefen und Aufzeichnungen seines Großvaters und den Tagebüchern seines Urgroßvaters seinen jüngsten Roman verfertigte, dem er obiges Briefzitat Uwe Johnsons an Walter Kempowski als Motto  voranstellte.  Allein der Titel „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ wirft schon ein Blitzlicht seiner Zeit auf uns, denn in unserer unheilvollen Gegenwart samt Krieg, Terror, Flüchtlingsströmen und Migrationen würde wohl niemand mehr sagen: er „ziehe in den Krieg“. Aus dieser historischen Distanz bezieht das Buch auch seine Charakteristik: zwischen Dokumentation, Collage, Fragment und Kommentar entwirft es ein Panorama der Jahre vor und während des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive des Josef Prochaska, alias Leutnant Pepi, seines Vaters Heinrich und mitunter auch seines Enkels Walter Klier.
Klier öffnet also die verschnürten Briefpakete und Tagebücher, breitet aus, ergänzt das Geschriebene mit Zitaten aus Zeitungen und Büchern, fügt Tagebuchstellen und Briefe aneinander, schiebt die Teile ineinander – das Ganze als „Roman“ ist ein nicht immer leicht verdauliches Amalgam, aber wie immer mehr als die Summe seiner Teile.
Der erste Teil handelt von „Familiensachen“, beinhaltet u. a. auch Geschichten und Aufzeichnungen, die der Briefschreiber in den Jugendjahren vor dem Ersten Weltkrieg niederschrieb. Der zweite Teil ist der Hauptteil, bestehend aus den meisten Briefen und Tagebüchern der Kriegsjahre 1914-1918. Darin stehen Einzelheiten zum Kriegsgeschehen und zu Frontverläufen neben Informationen über tägliches Befinden und Bedürfnisse. Dieses scheinbar „arglose“ Nebeneinander ist für „Feldpost“  geradezu typisch, auch wenn es da bei aller Tragik des Weltkriegs manchmal auch skurril wird, wie etwa die Postkarte vom 2. 3. 1915 berichtet: „Lieber Papa! Heute in Rußland eingezogen. Die schöne Wallfahrtskirche gesehen. Schöne Aufnahmen gemacht. Sehr kalt und Schneesturm.(…)“ (S. 215)  Der dritte Teil besteht aus „Nachlässen“ und „Nachsätzen“. Es ist ein Nachspann, in dem Klier den Weitergang der Personen und Geschichten erzählt, zum Beispiel eine Liebesgeschichte von Anna und Pepi, in dem er auch ein wenig von seinen Recherchen zum Buch berichtet.
Der Klappentext stellt Klier in den Sog Walter Kempowski, mag sein, dass es Affinitäten gibt, mag auch sein, dass Walter Kliers Roman diesem Vergleich nicht stand hält, weil die Proportionen nicht stimmen, Kempowskis „Echolot“ ist schließlich ein Lebenswerk, das aus vier Bänden besteht. Dabei käme Kliers Buch auch ohne Vergleiche aus. Es ist ein durchaus gelungenes Romanprojekt, in dem sich der Autor als Erzähler zurückgenommen und als Konstrukteur im Hintergrund aus den Materialien seines Familienarchivs ein lesenswertes, interessantes, auch informatives Buch gemacht hat.

Christine Riccabona