Rezensionen 2008
Waltraud Mittich, Grandhotel. Erzählung
Skarabaeus Verlag 2008
„Ich bin nicht die Erzählerin. Ich bin nur die, welcher erzählt worden ist. Oder ich bin eine, die dabei war, als alles geschah. Oder ich bin jene, der es widerfuhr.“ So beginnt Waltraud Mittichs erste Publikation „Mannsbilder“ aus dem Jahr 2002, in der sie die Vielschichtigkeit der Erzählhaltungen und –perspektiven literarisch zum Ausdruck bringt. Ein Entreé, das auch auf die soeben erschienene Erzählung „Grandhotel“ übertragen werden könnte. Und wir begegnen auch einer Figur wieder, Moia. War sie die dunkle Erzählerin damals? Moia, so jedenfalls heißt nun die Erzählerin. Sie sammelt die Geschichten, die ihr in Tagebüchern, Begegnungen, Gesprächen zugetragen werden. Doch sie ist auch Involvierte, taucht immer wieder auf, bevor sie dem Strom der Geschichte ihren Lauf lässt und wieder untertaucht. Kein Erzählband, sondern eine Erzählung ist es, deren Skelett die „mondän-melancholischen“ Kulissen der Grandhotels von Palermo über Opatija bis zum Pragser Wildsee darstellen. Die Häuser selbst sind dabei Protagonisten und Träger der Sehnsüchte jener, die sie aufsuchen – und die sich selbst aufsuchen. Dem Topos des „Hotels“ als Ort der Durchreise, des Ankommens im Zwischenreich, im Land der eigenen Sehnsüchte, Hoffnungen, in dem ein Rückblick auf Erreichtes und Verabsäumtes, Erhofftes und Erwunschenes möglich zu sein scheint, vermag Mittich mit ihrem Erzählstil dabei durchwegs neue und überzeugende Facetten entgegenzusetzen.
Die Hotels erscheinen wie märchenhafte Schleusen des Erinnerns, deren Spezifisches hervorzustreichen der Autorin mit wenigen Strichen gelingt. Da ist das Hotel, „das unter den Pfeilern der Autobahn steht“, das Palace in Gossensass. Oder Das Grandhotel Wildbad, Ruine und Märchenschloss in einem, „alle Zimmer mit Waldblick“. Die wehenden Vorhänge im Grandhotel Misurina. Die Palmen im Grandhotel e delle Palme in Palermo. Allesamt „Häuser der Sehnsucht“: „Die Flügeltüren des Sehnsuchtshauses sind Vogelflügel. Sie haben mich immer davongetragen“ Und so tragen sie die Erzählerin davon, hinein in die Leben von Frauen, Geschichten aus Gegenwart und Vergangenheit, von Liebe, Suche, Treue, Verrat, quer durch die Zeiten hindurch. Mit ihnen bevölkern sich die Zimmerfluchten der Grandhotels: Da ist Adriana mit dem vielsprechenen Namen Sciascia, Architektin, fünfzig Jahre alt, die sich in Palermo zurückzieht, dem Verfall der Stadt verfällt, den eigenen Wurzeln aber nicht auf den Grund kommt und letztendlich verschwindet, genauso wie Jole, die, nach einem Leben als Gattin eines neofaschistischen Eisenbahners, an den Ort und die Liebe ihrer Kindheit zurückkehrt, und in der Nähe des Grandhotels Wildbad im Schnee erfriert. Oder die Ukrainerin, schön, fremd, die im Hotel unter der Autobahnbrücke im Tourismusland Südtirol sich ein neues Leben aufzubauen versucht und im Lauf der Geschichte einen Namen bekommt: Mascha.
Neben diesen Geschichten, die der jeweiligen Erzählung den Grundton geben, webt Mittich zahlreiche weitere Namen und Begebenheiten ein, die inhaltlich zusätzliche Facetten dessen ergeben, was „Weiblichkeit“ oder konkreter „Frau-Sein“ sein könnte: da finden wir Anspielungen auf Verena Stefans „Häutungen“, auf die Revolutionärin Alexandra Rachmanova, aber auch auf lokal verankerte „Heldinnen“ wie Katharina Lanz, das mythenumwobene Mädchen von Spinges, oder die berühmte Hotelierin „Frau Emma“, auch sie ein Mythos als Pionierin in der Tourismuswelt.
Was Mittich von Anfang ihres Erzählens an ein großes Anliegen war, nämlich das Korsett der Zuschreibungen an die Weiblichkeit (aber auch an die Männlichkeit) zu sprengen, indem sie das spannungsgeladene Feld poetisch neu auflädt und die Vielfalt durch assoziative Verbindungslinien in neue Zusammenhänge bringt, gelingt ihr in „Grandhotel“ aufs Intensivste. Aber mehr noch: Die Linien durchkreuzen auch Vergangenheit und Gegenwart, verbinden Zeiten und Orte, um letztendlich zu einem großen Textgewebe zueinanderzufinden.
Sie durchwehen die Erzählungen, lassen einen transnationalen und transhistorischen Kosmos entstehen, in dem die K.und K. Monarchie, „deren letzte abgefuckte Nachfahren wir sind“, und die heißen Sechziger Jahre im Mailand der politischen Kämpfe in die Gegenwart mit ihrer Google-Süchtigkeit kippen. Mittichs kulturkritische Position (die an manchen Stellen vielleicht allzu deutlich benannt wird, was der Text nicht bräuchte): nicht nur die Welt von Gestern ist passé, auch die Welt von Heute ist dem Verfall preisgegeben. Sie will es nur noch nicht wahrhaben. Diese Aussage des Textes wird atmosphärisch verstärkt durch das Einflechten von literarischen Anspielungen: auf Thomas Manns Aschenwald und Tadzio in seiner Novelle „Tod in Venedig“ etwa, auf Schnitzlers „Fräulein Else“, auf Franz Kafka und Joseph Roth. Auch sie scheinen, wie die Figuren und ihre Geschichten, Gäste in den Zimmern des Grand Hotels mit Namen „Kontinent Europa“ zu sein, das seine neuen Gäste, seine „neuen Fremden“ und deren Positives, noch nicht wahrhaben, geschweige denn willkommen heißen will: „Ihr, die neuen Fremden ihr seid das wirklich Neue oder Aufregende. Was du hier siehst, noch einmal, sind die Überreiste einer schon untergegangenen oder gerade untergehenden Welt.“ So spricht Moia zu Mascha, der Ukrainerin. Und da darf auch eine Anspielung auf den ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch nicht fehlen, der „sein Europa“ und dessen Zentrum östlich der bisher angenommenen Mitte ansetzt.
Waltraud Mittich verwebt Imagination mit Historie zu einem eigenwilligen Kontinuum, dessen poetisch unverwechselbarer Ton von Sinnlichkeit, Wissen und Spiel getragen ist und sich von Herbheit, einer Spur von Bitternis, aber ebenso von Leidenschaft und Zuneigung speist.
Anna Rottensteiner