Rezensionen 2008
Bernd Schuchter, Jene Dinge. Erzählung
Limbus Verlag 2008
Bernd Schuchters Erzählung „Jene Dinge“ könnte man als eine literarische Studie über Herkunft und Milieu lesen. Aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, dem die Eltern, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, Bildung und Weiterkommen ermöglicht haben. Was dieser seinerseits als Zumutung empfindet, entfernt es ihn doch naturgemäß von einer reibungslosen Identifikation und einer friktionsfreien Identitätsbildung (sofern es eine solche überhaupt gibt).
Mehrere Erzähl- und Sprachebenen sind es, die sich beim Erzählen dieser Geschichte überlagern. Da ist einerseits die Stadt mit ihren zahlreichen Brücken über den Inn, die den Erzähler jeweils in ihre unterschiedlichen Viertel und zu den unterschiedlichen Figuren führt, an die seine Erinnerungen festgemacht sind, da sind die Figuren, Vater, Mutter, die Großväter und Onkel, aus deren Leben wir streiflichtartig Episoden und Sequenzen erfahren. Da ist der Raum Tirol, an dem sich der Erzähler reibt und über deren scheinbar charakteristische Eigenschaften er sich auslässt. Klassische Eckpunkte einer Anti-Bildungs- und Entwicklungsgeschichte, die von den Verunmöglichungen in der gut gemeinten Ermöglichung spricht.
Großer Pate für dieses Unterfangen ist dabei sehr augenscheinlich Thomas Bernhard. Es finden sich einerseits ganz konkrete Anspielungen, so ist einer der Vorfahren in Amras begraben, die Familie leidet an einer nicht konkreter benannten Lungenkrankheit, die irgendwann einmal durch die originellere Orangen-Allergie abgelöst wird. Die hohen Berge sind, wie könnte es sein, die Feinde des Menschen. Der Text ist durchsetzt von Signalwörtern, da finden wir die Ursache, die Zumutung, die Verhältnisse und Voraussetzungen sind naturgemäß. Beengung, Beklemmung und Beklommenheit. Bleiern oft lastet diese Tradition, gegen die sich der Erzähler nicht wehrt, auf seinem Erzählstrom. Und doch dringt ein eigener Luftzug zum Lesenden durch, ein Luftzug der sich durch die Löcher der Erinnerung einschleicht und ordentlich durch die Seiten weht.
Und zwar dort, wo der Erzähler das Erinnerte immer wieder hinterfragt, relativiert und demontiert. Erinnerung geschieht großteils vermittelt, jemand erzählt, ein Bild, ein Gedanke setzt sich fest und wird so zum scheinbar Eigenen. Schuchter arbeitet mit der Distanz zum Erinnerten: „jemand erzählte mir“, ersetzt ein Erinnerungsfragment im Lauf der Erzählung durch ein anderes (Stichwort Lungenkrankheit – Orangenallergie). Rhetorische Figuren wie „wenn ich mich recht erinnere“, „soweit ich mich erinnere“ fügen dieser Erzählhaltung der Unsicherheit eine weitere Facette hinzu und stärken sie in ihrem letztendlich dann fast surreal anmutenden Schimmer. (Andere eingesetzte rhetorische Figuren hingegen wie „doch davon später“, inflationär eingesetzt, laufen sich tot.)
Die eigene Handschrift liest man weiters dort, wo die Erinnerungen, seien sie nun „wirklich“ oder nicht, ganz ins Konkrete gehen und ihre Stärke aus der Sachlichkeit und immanenten Zuneigung der Beschreibung beziehen: Mutters Geschichte, wie sie in der Nachkriegszeit das kostbare Stück Butter aufbewahrte, Vaters Erzählungen über das Schwimmen im Lanser Moor – hier gelingt es dem Historiker Schuchter, durch Einfügungen verschiedenster Details wie in diesem Falle dem, dass nach dem Krieg die Waffen in diversen Gewässern versenkt wurden – so wie die Erinnerungen an die Zeit davor -, glaubhafte literarische Verknüpfungen von individuellem und kollektivem Erinnern.
Und über all diesen konkreten Erinnerungen die Frage, wie man sich den tradierten Haltungen – denn Haltungen sind es vor allem, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und so „Stand“haftigkeit reproduzieren – entziehen kann. Die Bewusstwerdung ist der erste Schritt dazu – und dieser nähert sich der Erzähler in essayistischen Einschüben. Diese erstarken vor allem gegen Ende und bemühen dort, wo es um die sogenannten typischen Eigenschaften der Tiroler geht, in ihrem Duktus wiederum den Meister Bernhard und andere in seinem Gefolge. Insofern keine schonungslose Abrechnung, sondern eine erzählerische und argumentative Schonhaltung im Rückenwind der Wiederholung von kritisierenden Klischees. Die Haltung des unbegründeten Stolzes bei den Tirolern ist es, gegen die der Erzähler anläuft, auf der Seite des familiären Feldes ist es die unbegründete – aber letztendlich vielleicht doch erklärbare – Haltung der Scham der eigenen Herkunft gegenüber.
Der Autor hat keine Angst davor, große Worte zu bemühen. Der philosophische und reflexive Unterton, der manchmal ins Pathos ausschlägt, lässt einen schließlich überrascht über die letzten drei Zeilen des Textes stolpern, über ihre Zartheit und Versöhnlichkeit.
Anna Rottensteiner