Rezensionen 2008
Selma Mahlknecht, Im Kokon. Erzählung
Edition Raetia 2007, 167 Seiten
Nach Ausgebrochen und rosa leben ist nun Selma Mahlknechts dritte Prosaarbeit, die Erzählung Im Kokon, bei Raetia erschienen. Die junge Autorin nimmt sich hier die Jugend, genauer gesagt die verwirrenden Phasen der Pubertät vor, verknüpft die Pubertätsproblematik aber mit beinahe märchenhaften Elementen, wodurch das Buch einen ganz eigenen Charme bekommt.
Die junge, etwas burschikose Protagonistin, die sich gerne in den Wäldern herumtreibt und auch einmal Kratzer in Kauf nimmt, die in der Schule nur einen Hauch besser als der Dümmste der Klasse ist, entdeckt auf einem ihrer Streifzüge, dass in einem ansonsten unbewohnten, abgeschiedenen Häuschen jemand wohnt. Sie hört jemanden ein Märchen vorlesen und mit den Worten schließen: „Das war doch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Jetzt schlaf schön. Gute Nacht, mein Schatz!“ Das Mädchen kehrt nun jeden Abend wieder, lauscht den Märchen, bis sie nach drei Wochen einmal zu früh kommt und entdeckt, dass die Stimme einer jungen Frau, Nelly, gehört, die ihrem ungeborenen Sohn Kim vorliest. Nelly wohnt allein, ernährt sich von selbst Angebautem und Gesammeltem und verwehrt sich gegen alles, was modern ist. Das junge Mädchen fühlt sich sehr zu ihr hingezogen und baut sich eine Phantasiewelt auf, in der Nelly und sie glücklich bis an ihr Lebensende zusammenleben. Als Livia, eine junge Frau, die in der Bäckerei angestellt ist, Nelly ihre Hilfe anbietet, reagiert die Protagonistin zunächst mit Zorn. Versöhnung bahnt sich an, als Nelly am Ende ihrer Schwangerschaft schwer erkrankt, gegen ihren Willen von Livia ins Krankenhaus gebracht wird und nur die Protagonistin empfängt, doch die Schwärmerei verliert ganz von selbst an Intensität: „Dann befahl ich mir, eine meiner Szenen abzurufen. Kuss im Morgengrauen. Erwachen in der Waldlichtung. Hand in Hand am Bergsee. – Verblasste Postkartenmotive. Es nützte nichts: In diesem Trakt meiner Luftschlösser begannen die Fassaden zu bröckeln“ (152).
Nicht die erste unglückliche Verliebtheit im gewöhnlichen Sinn steht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern eher das Bedürfnis nach Geborgenheit, das man in diesem Alter oft in der eigenen Familie nicht mehr zu finden glaubt. Geschickt eingeflochten wird hier auch die geschlechtliche Orientierung. Mahlknecht weicht hierbei sehr gekonnt allen Klischees aus, die Liebe der Protagonistin zur schwangeren Nelly bleibt zwischen Mütterlichkeit und körperlicher Anziehung in der Schwebe, ohne dass sich die Phantasien des jungen Mädchens genau festmachen ließen.
Sehr stimmig ist die Art und Weise, wie sich die Hauptfigur in die Liebe hineinverstrickt und wie diese „Phase“ gleichsam von selbst wieder vorübergeht: Sind Gedanken erst einmal oft genug gedacht, verblassen sie beziehungsweise büßen an Reiz ein.
Parallel zur Nelly-Handlung erzählt Im Kokon auch vom ganz normalen Schulalltag: Schulfreundschaften, eine gemeine Lehrerin, ein nicht durchgehaltener Boykott von Hausübungen, der Klassenbeste Holger, Nachhilfeunterricht, Geburtstagspartys sind Themen, die junge Menschen beschäftigen. Auch der Familienalltag darf nicht fehlen – als die Protagonistin mehr Zeit mit Holger verbringt, der viel allein gelassen wird, erkennt sie, dass ihre Familie doch ganz in Ordnung ist.
Sprachlich findet Selma Mahlknecht zu einem Ton, der dem Thema angemessen ist, mit märchenhaften Zügen im Nelly-Erzählstrang und frechen, frischen Anklängen in den Passagen, die vom „wirklichen“ Leben des jungen Mädchens handeln. Glaubt die Protagonistin, auf eine große Erkenntnis gestoßen zu sein, unterstreicht Mahlknecht dies mit pathetischen Zeilen, die sehr gezielt eingesetzt werden und dadurch zum stimmigen Gesamtbild beitragen: „Ich wollte auch so sein können, so unantastbar, so beständig verankert, wollte auch aufhören, Fragen zu stellen und Wahrheiten zu suchen, wollte auch alles auf mich zukommen lassen, ohne etwas zu fürchten, im Grunde war doch genau das meine große Sehnsucht, dieses Verlangen nach Sicherheit, nach Letztgültigkeit, der Wunsch, unverrückbar fest zu stehen in der Welt, die ringsum dröhnt und scheppert und sich stets neu mit sich selbst überwirft“ (19).
Dieser durchaus solide komponierten Erzählung kann man einzig den Vorwurf machen, dass die Zielgruppe ein wenig unklar bleibt. Für eine literarische, an ein erwachsenes Publikum gerichtete Erzählung erhält sie zu wenig „Welt“, ist zu sehr auf die pubertären Erfahrungen beschränkt und weist nicht über sich hinaus. Für (jüngere) Jugendliche hingegen ist sie vielleicht zu wenig realitätsnah. Als Schullektüre für die Oberstufe, und das ist jetzt keinesfalls abwertend gemeint, ist dieses Buch jedenfalls wärmstens zu empfehlen.
Fazit: Eine recht gut gemachte, sprachlich und erzähltechnisch auf guter Basis stehende Erzählung.
Carolina Schutti