Rezensionen 2008

Günther Loewit, Mürrig. Roman
Skarabaeus Verlag 2008

Beim Lesen des dritten Romans von Günther Loewit verrät die jedem Kapitel vorangestellte weltpolitische Rückschau anfänglich nicht mehr als ihre Gleichzeitigkeit mit den nach Lebensjahren gegliederten Stationen der Titel gebenden Romanfigur. Ein erster Zusammenhang zeichnet sich ab, als der mittlerweile vierjährige Karl Georg in vermeintlich friedlichster Eintracht mit seinem Vater vor dem magischen Radioapparat gebannt Nachrichten hört. So will es zumindest seine Mutter sehen. Gerade in der Weltpolitik aber findet der heranwachsende Mürrig endlich Verbündete in der Auflehnung gegen den autoritären und in seiner Erziehung regelmäßig von körperlichen Züchtigungen Gebrauch machenden Vater.
Aus diesem allmählichen Ineinandergreifen von Weltpolitik und Lebensgeschichte heraus entwickelt sich eine spannende Komposition und Struktur. In Form eines gegenläufigen Prinzips setzt sich ein komplexes Verhältnis in Gang. Günther Loewits neuer Roman führt von der anfänglichen Parallel- zu einer Engführung.
Vor allem vom Ende her betrachtet erweisen sich die einzelnen Etappen von Mürrigs Lebensweg als eigentlich rückläufig, da sie unaufhaltsam einer Zuspitzung der allzu einengenden familiären Ausgangsbedingungen entgegen treiben. Eine Entwicklung dagegen lässt sich einzig in seiner Beziehung zur Medienwelt ausmachen und ablesen. In deren logischer Konsequenz und bei fortschreitender Verstrickung der Protagonist schließlich in der Geschlossenheit einer psychiatrischen Anstalt landet. Bis auf sein Intermezzo als Famulant wird er im Gegensatz zu seinem Vater niemals auf der Seite der Ärzte stehen.
Mit dem schwarzen Bürgerrechtskämpfer Steve Bico bricht eine beunruhigend neue Welt auf den jungen Studenten herein. Als Vorbild und eindeutige Identifikationsfigur verkörpert dieser zwar vor allem Rebellion gegen und Aufbruch aus der verschwiegenen NS-Vergangenheit des Vaters und einem Leben der Pflichterfüllung. Der intensiv durchlebte und gepflegte Kontakt mit Bico bindet ihn letztendlich nur noch stärker an eine Parallelwelt, die mehr und mehr Eigenleben, Gewicht und Raum beansprucht. Am Ende sucht er nur mehr Ruhe und Erholung „von der Welt, und wenn Sie hier keine Nachrichten haben und ich bleiben kann, das ist ja nicht so einfach mit dem Bleiben, irgendwo, immer muss ich wieder Platz machen, für neue, die die Nachrichten zugrundegerichtet haben“. Bevor ihn die drohende Gefahr einer vollständigen Verdrängung einholt, erfährt seine fortschreitende fatale Identifizierung mit den Widerstandskämpfern und jeweiligen Opfern der aktuellen Geschichte eine selbstmörderische Steigerung, indem er leicht zeitversetzt selbst ein Opfer von 9/11 wird. Jedenfalls in der an die Stelle der Realität getretenen Vorstellung, die ihn zum Todessprung bringt.
Soweit die strukturellen Besonderheiten des vorliegenden sehr straff erzählten Romans. Der Erzähler hält dabei die verschiedenen Fäden und Stränge fest im Griff. Zum Teil schränkt das auch uns LeserInnen ein und bevormundet stellenweise. Über die Gedankensplitter und –gänge der Figuren hinaus bekommen wir oft Rückschlüsse und Interpretationen mitpräsentiert, die Leer- und Spielräume besetzen. Es entsteht der beklemmende Eindruck einer Geschlossenheit und weitgehenden Deckungsgleichheit von Form und Inhalt - ohne Ausweg.
Und der Stil? Sachlich, förmlich, distanziert und poetisch zugleich wird er allerdings immer wieder durchkreuzt von aufkeimenden Ausbrüchen und Entgleisungen. Am Schluss steht dann eine der in regelmäßigen Abständen unterbrechenden, lyrisch -verknappenden schönen Passagen, die ein retardierendes Moment in sich bergen, kurzfristig Innehalten und Entschleunigen ermöglichen. „Noch in dieser Nacht, das weiß er, wird er aus dem Trichter, in dem er sich bis zur Unerträglichkeit beschleunigt und zugleich verengt, eingeengt fühlt, fliehen, entweichen. Er wird sich fallenlassen. In die Tiefe. Irgendwohin. Zurück.“ Diese letzten Sätze schließen inhaltlich und stilistisch direkt an folgende Schilderung seiner Geburt an, die sich wie ein Fazit liest: „Zu allem Überfluss setzten die Wehen aus. Das Licht der Welt rückt in weite Ferne. Der erwartete Erdenbürger steckt im Geburtskanal fest. Kann nicht vor und nicht zurück.“

Manuela Schwärzler