Rezensionen 2008
Elmar Drexel, Die silberne Gasse
Hohenems: Edition Portus-Bucher, 2007
Die silberne Gasse ist die erste Buchveröffentlichung des bekannten Tiroler Regisseurs, Schauspielers und Theaterleiters Elmar Drexel, der sein literarisches Talent schon verschiedentlich unter Beweis gestellt hat. Man denke an seine Bühnenadaptation von Mitterers Piefke-Saga für zwei Schauspielerinnen (UA Innsbruck, Bierstindl 2002), das Libretto zu einem Musical gleichen Namens (Musik Gregor Marini, UA 2005 Schwaz) und den 2004 an eben diesem Ort präsentierten Text Kellertheater.
Der bibliophile Band enthält drei Erzählungen, deren erste, Die silberne Gasse, von der Rückkehr des Protagonisten in das Haus seiner Großeltern handelt, in dem er als Kind Sommer- und Winterferien verbracht und das er vor kurzem geerbt hat. Während er durch die Räume wandert, werden Erinnerungen an Großeltern und Tanten, Mythen, Gewohnheiten und Zeitvertreibe der Familie lebendig, bleibt er an Keramik-Negerinnen, afrikanischen Holztieren und zwei Märchenbildern hängen, deren grotesk-laszive Erotik auch den Erwachsenen seltsam berührt. Die Großmutter und ihre sechs Töchter, die ihrerseits Mädchen in die Welt setzten und ihre Männer als Kasperln, Tanzbären und Vorzeigeaffen betrachteten, die entsorgt und ausgetauscht werden, wenn sie verbraucht sind, (S. 35) evozieren einen Bienen- oder Wespenstaat, und der Protagonist erscheint wie ein stachelloser, kleiner Drohn, der aus einem versehentlich unbefruchtet gebliebenen Ei geschlüpft ist. Die Erinnerung an die Vorbereitungen zu gemeinsamen Theaterbesuchen - narzißstischen Orgien, die viel wichtiger waren als die Aufführung - lässt ihn schließlich den Entschluß fassen, sich mittels Verkaufs von seinem Erbe und den damit verbundenen Verstrickungen zu befreien.
Im Zentrum der zweiten Erzählung, Karina, stehen ein junger Mann, der alle Grenzen sprengen und alles Denkbare denken, erleben und ausprobieren möchte, und ein Mädchen mit klar umrissenen, kleinbürgerlichen Vorstellungen von Glück. Dennoch ist ihre Beziehung nicht so problematisch, daß ein Selbstmordversuch, den sie unternimmt, nicht völlig überraschend für ihn käme. Der Abschiedsbrief an ihre Eltern wird ihm vorenthalten; eine Reihe von Rückblicken ergibt keine Anhaltspunkte, warum sie das getan hat. Dabei haben die beiden immer geredet. Es geht also um Kommunikationsdefizite, die gerade beim Reden entstehen; weiters um den Mangel an Proportion zwischen der Verzweiflungstat und den Reaktionen einer mit sich selbst beschäftigten Außenwelt, die sie als lästig oder gar als Zumutung empfindet. Die Relativität und Banalität menschlicher Gefühle wird offenbar, wenn der jungen Frau bereits zwei Tage nach dem missglückten Suizid ihre Beweggründe abhanden gekommen sind:
„Und bist du jetzt nicht froh, daß du lebst?“
„Doch!“, sagte sie fröhlich.
In der dritten Geschichte, Das gebrochene Herz, geht es um die platonisch-heroische Liebesgeschichte eines Schülers. Der (auch hier nicht genannte) Protagonist betet seinen Schulkollegen Gustav an, der ihm vor allem im sozialen Bereich überlegen ist und der seine diesbezüglichen Fähigkeiten auslotet, wenn die beiden in Gesellschaft anderer sind. Von den Eltern organisierte Lerngemeinschaften und die Lendenstolz-Rivalität seines Vaters, der „nur“ Gymnasiallehrer ist, mit Gustavs Vater, einem Professor an der Universitätsklinik, machen dem Sohn das Leben zusätzlich sauer. Eine unerwartete Lösung ergibt sich, als sich der Protagonist Jahrzehnte später einer Herzoperation unterziehen muß, die ausgerechnet Gustav durchführen wird. In dieser existentiellen Situation kommt genau jene Nähe auf, nach der er sich bis dahin gesehnt hat.
Formal gesehen besteht die Geschichte, wie auch die beiden anderen, aus einer Rahmenerzählung, in der das eigentliche Geschehen stattfindet, und jeweils einer Reihe von Rückblicken. Reflexionen nehmen mehr Raum ein als Dialoge. Drexel verzichtet auf Sensationelles, Spektakuläres und auf laute Töne: die Selbstmordgeschichte wird bezeichnender Weise nicht aus der Sicht der Person erzählt, die ihn begeht und auch nicht aus jener eines Menschen, der sie liebt. Drexel blufft nicht, weder inhaltlich noch sprachlich; er meidet Manierismen und setzt umgangssprachliche Ausdrücke – man ist versucht zu sagen: ordentlich - in Anführungszeichen, was einen gewissen Eindruck von Bedächtigkeit vermittelt, der dann jäh in Brüche geht angesichts von glücklichen Formulierungen wie dem pubertären „kopflosen Flügelschlagen, das irgendwo ein Astloch suchte.“ (S. 76)
Ein gelungenes Debüt, dem hoffentlich weitere Bücher folgen werden.
Sylvia Tschörner