Rezensionen 2008

Otto Licha, Geiger  
Hohenems, Limbus, 2008

Geiger ist nach Rand der Berge (1990), Die Begegnung (2003) und Zuagroaste (2005) das vierte Buch von Otto Licha, der in seinen diversen früheren Leben auch ein brillanter Physiker, Computer-Fachmann, exzellenter Musiker, Liedermacher und Autor etlicher ebenso engagierter wie sehenswerter Dokumentarfilme war und – akzentfrei (versichern Muttersprachler) - mindestens vier Fremdsprachen spricht. Ein barockes Universalgenie sozusagen.
Sein neuer Roman ist u.a. ein Versuch, Ereignisse aufzuarbeiten, die zur Zeit des Nationalsozialismus und danach in Innsbruck stattgefunden haben. Erzählt werden, z.T. in Flash back-Technik, die Geschichten von David Lehar und einer ganzen Reihe anderer Personen, mit denen dieser und sein Sohn Simon in Kontakt kommen.
Der Roman beginnt im Jahr 1959 mit der Anmeldung des Sechsjährigen in der Musikschule. Der hochbegabte Simon soll erreichen, was sein Vater nicht geschafft hat, weil er vor den Nazis nach Italien (und dann weiter nach Tanger) fliehen musste und sich bei dem Übergang ins Pfitscher Tal Erfrierungen zuzog, die seinen Lebenstraum, Geiger zu werden, zunichte machten. Simon erreicht dieses Ziel, allerdings auf Kosten einer unbeschwerten Kindheit. Schwere Depressionen im Erwachsenenalter machen lange Aufenthalte in der psychiatrischen Klinik nötig. Schließlich gibt er seine Karriere als Konzertgeiger auf. Im zweiten Teil des Buches versucht er, zumindest teilweise nachzuholen, was er in seiner Jugend versäumt zu haben glaubt; er liest, lernt Italienisch und versucht in Erfahrung zu bringen, was seinem Vater und einer Reihe anderer Personen nach dem Anschluß an das Dritte Reich widerfuhr. Er grübelt über Langzeitfolgen von traumatischen Erlebnissen, mit denen sich die Überlebenden herumschlagen mussten, und die manchmal, wie in seinem Fall, sogar auf die nächste Generation weitergewälzt wurden. In Italien schließt er neue Freundschaften, bekommt bei den alten Bekannten seines Vaters Informationen, die ihn in seinen Erkundungen und menschlich weiter bringen und ihm helfen, „mit [s]einen Ursprüngen [...] ins Reine“ zu kommen (S. 263).
Ein Nicht-Tiroler wird Geiger als ebenso spannenden wie berührenden historischen Roman lesen und zudem viel Interessantes über Musik erfahren. Er wird beeindruckt sein, wie akribisch recherchiert wurde: „Simon blickte [...] in Richtung Patscherkofel. Er konnte ihn nicht sehen, weil ein Haus davorstand.“ (S. 217) Irgendwie drängt sich mir im Zusammenhang mit Lichas Erzählweise der Terminus  „Hyperrealismus“ auf: Die geschilderte Wirklichkeit mutet zeitweise geradezu phantastisch an. Für den Innsbrucker Leser wird dieser Eindruck noch dadurch verstärkt, daß der Autor einige wenige fiktive Figuren unter viele reale, z.T. prominente Personen gemischt hat, die sich an Orten aufhalten, Veranstaltungen besuchen und Dinge erleben, die der Leser ebenfalls kennt. Die Erzählung entwickelt sich parallel zu dem, was er selber erlebt hat, und so ist er ständig versucht vorauszublättern, ob er sich nicht vielleicht auf der nächsten Seite selbst begegnet.
Eine interessante Leseerfahrung also. Wenn ich eine Germanistin auf der Suche nach einem Diplomarbeitsthema wäre, würde ich diesen Roman zusammen mit Christoph W. Bauers vor kurzem erschienenem Graubart Boulevard besprechen.

Sylvia Tschörner