Rezensionen 2008
Konrad Rabensteiner, Der Befall
Roman
Bozen: Edition Raetia 2007, 1022 S., € 38
Um diesem Roman gerecht zu werden, braucht es vor allem Zeit. Zeit, um sich einzulassen auf eine Welt, die der heutigen jüngsten Generation schon völlig fremd erscheinen wird, obwohl sie kaum zwei Generationen zurückliegt. Bei den Älteren, vor allem bei jenen, die auf die siebzig zugehen, wird hingegen der Wiedererkennungseffekt groß sein. Allerdings nur dann, wenn sich diese Welt nicht zur "guten alten Zeit" verfestigt hat, die der heutigen als positives Gegenbild gegenübergestellt wird. Denn zurückwünschen sollte man sich eine solche Zeit ebenso wenig, wie man die heutigen Missstände und Zwänge unserer Konsumgesellschaft übersehen sollte.
Der Roman erzählt die Geschichte von Daniel Steinknecht, der in einem Eisacktaler Bergdorf zusammen mit einer großen Geschwisterschar aufwächst. Schon von klein auf eher ängstlich, zur schweren Feldarbeit wenig brauchbar, ist sein liebstes Spiel das Messelesen. Und weil er ein guter Schüler ist, ist sein Weg zum Priesterberuf vorgezeichnet. Er kommt Anfang der 1950er Jahre deshalb vorerst einmal ins Knabenseminar Johanneum in Dorf Tirol, wo es wie in einer Kaserne zugeht: ein streng geregelter Tagesablauf mit täglichem Kirchgang, Schule, Studierzeiten. Wer sich nicht daran hält, sich dem absolutistischen Regiment des vorwiegend aus Geistlichen bestehenden Lehrkörpers nicht beugt, fliegt gnadenlos hinaus. Und wer im Laufe des Studiums zur Einsicht gelangt, dass er sich doch nicht zum Priester berufen fühlt, darf dies nicht laut sagen, denn sonst muss er das Seminar verlassen und im staatlichen Gymnasium weiterstudieren, was den meisten aus Kostengründen nicht möglich ist. Daniel und sein Bruder Egon gehören zu den ärmeren, deren Eltern das Geld für das Studium schwer aufbringen, freilich tauchen im Johanneum die Söhne von Reichen auf, für die dann die Regeln im Seminar nicht mehr so streng gehandhabt werden, will man doch die reichen Wohltäter nicht verlieren.
Daniel freilich hat weder Zweifel an seiner Berufung noch Schwierigkeiten mit dem Studium und der Disziplin. Was es aber mit dem sechsten Gebot auf sich hat, das aufgrund der häufigen Erwähnungen, der nebulös blumigen Umschreibungen und der priesterlichen Nachfragen im Beichtstuhl so zentral zu sein scheint, kann er die längste Zeit nicht recht verstehen, auch nicht, dass Bubenfreundschaften gerade deswegen beargwöhnt werden. Doch genießt er die Freundschaft zum älteren Achmed, der freilich schon weiß, dass er nicht Priester werden will und Daniel auf einer gemeinsamen Bergtour 'aufklärt'. Manche Priester hätten nur nicht gewagt, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen und seien später zu menschlichen Wracks geworden und zu Alkoholikern verkommen. Als er dann behauptet, dass das Zölibat abgeschafft gehörte, da sich ja doch ein großer Teil der Geistlichen nicht daran hielte, ist Daniel völlig entsetzt. Noch mehr, als Achmed behauptet, der Sündenbegriff der Kirche sei nur dazu da, die Menschen ständig in Gewissensnöte zu bringen und damit niederzuhalten. Gerade in dieser Situation, wo Daniel natürlich entrüstet die katholische Kirche verteidigt, die ja schließlich wissen müsse, was Sünde sei, zeigt sich die Widersprüchlichkeit in seiner Persönlichkeit, der "Befall", der ihn später in die Psychiatrie bringen sollte. Er ist zugleich von Achmed doch wieder fasziniert und sogar sinnlich erregt vom Anblick des vorausgehenden Freundes, nur um im nächsten Augenblick wieder Reue über diese gedankliche Verfehlung zu empfinden. Dass Daniel für die harte Lebensrealität nicht ganz geschaffen ist und ihr nie gewachsen sein wird, sieht man an seinem Freund Iwan und seinem Bruder Egon sind. Egon hebt sich allein schon durch seine physische Überlegenheit vom Bruder ab, erlaubt sich aber auch eine größere Freiheit im Denken. Sein älterer Bruder glaubt zwar ihn leiten und bevormunden zu müssen, wirkt aber in seinem besserwisserischen Dünkel oft eher lächerlich. An Iwan, der ihm lebenslang – auch wenn er bereits Dekan geworden ist – die Treue hält, zeigt sich, dass die nicht gerade menschenfreundliche Umwelt im Seminar, später auch im Priesterseminar in Trient, eben doch nicht zwangsläufig krank machen muss.
Mit Iwan begibt sich Daniel auf eine Romreise, die sich zu einem außergewöhnlichen Ereignis in Daniels Leben entwickelt. Denn Rom ist eben nicht nur das Zentrum der katholischen Kirche, sondern die Stadt ist vor allem voll von Kunstdenkmälern, an denen die Studenten ihr theoretisches Wissen nun endlich praktisch erproben können. Dieser einwöchige Aufenthalt gerät demzufolge geradezu zu einer kunstgeschichtlichen Führung durch Rom. Fast möchte man im Zusammenhang mit dem Fortgang der Romanhandlung von Ab- und Ausschweifungen reden, denn diese wenigen Tage – es wird noch ein Abstecher nach Neapel angehängt – machen nahezu ein Viertel des Buchumfangs aus. Freilich haben die Seminaristen auch in den Vatikanischen Museen ein Problem. Da gibt es viel Nacktes zu sehen und sie müssen sich einreden, dass das ja Kunstwerke sind und die Betrachtung von sündigen Körperteilen daher nicht einmal eine lässliche Sünde ist.
Das sechste Gebot hat selbstverständlich aus Sicht eines Priesterkandidaten eine besondere Bedeutung. Dies heißt aber keineswegs, dass dieses Thema im Roman überbetont wäre. Wer dieses Buch liest, taucht in die Nachkriegsjahre in Südtirol ein. Auf Schloss Sigmundskron wird 1957 das "Los-von-Trient" ausgerufen, die aufgeheizte und brisante Atmosphäre der Bombenjahre führt auch zu Reibungen zwischen den italienischen und deutschen Studenten im italienisch geführten Priesterseminar in Trient. Zugleich bringt das 2. Vatikanische Konzil der 1960er Jahre tief greifende Veränderungen im kirchlichen Leben mit sich. Daniel wird ein begeisterter Befürworter dieser Neuerungen und gerät als Kooperator deswegen in Konflikt mit einem konservativen Vorgesetzten. Dabei scheint aber gerade diese Fortschrittlichkeit dem Naturell von Daniel nicht ganz zu entsprechen. Seine schleichende Krankheit zeigt sich auch vor der Subdiakonatsweihe, wo er in einen Weinkrampf verfällt, weil er seine geliebten Krawatten gegen das strenge Kollare (Kragen) vertauschen muss. Auch fühlt er sich für das Priesteramt noch nicht genügend vorbereitet und hätte noch gern ein Theologiestudium angehängt. Dies wird ihm aber nicht gewährt. Trotzdem fühlt er sich anfänglich als Kooperator recht wohl. Mehrmalige Versetzungen lassen ihn dann aber immer misstrauischer gegenüber dem bischöflichen Ordinariat werden, schließlich steigert sich dies zu einem Verfolgungswahn: Er fühlt sich immer mehr wie sein Namenspatron: als Märtyrer in der Löwengrube. Seine Versetzung als Präfekt in ein Knabenseminar empfindet er daher als Strafmaßnahme. Er vernachlässigt immer mehr seinen Dienst und flüchtet sich immer öfters heim zur Mutter. Seine psychische Krankheit verschlimmert sich, bis seine Angehörigen sich keinen anderen Rat mehr wissen, als ihn in die Psychiatrie nach Innsbruck zu bringen. Dort wird er – schon damals nicht mehr der neueste Stand der Therapie – mit Elektroschocks behandelt, was seine Persönlichkeit endgültig bricht.
Ins Innenleben von Daniel lässt uns der Autor übrigens nur wenig blicken, wie überhaupt die Darstellung der Priesterseminarzeit in Trient im Vergleich mit der Schilderung der Schulzeit im Johanneum blasser wirkt. Und unvermittelt sind gegen Ende des Romans dann auf einmal 25 Jahre vergangen, die Daniel inzwischen als Kaplan in einem Altersheim verbracht hat. Das hat wohl damit zu tun, dass Daniel hier dem Blick des Bruders Egon weitgehend entzogen ist, aus dessen Perspektive uns seine Lebensgeschichte ansonsten über weite Strecken vermittelt wird. Und dieser Bruder wiederum hat einen ziemlich parallelen Lebensgang mit jenem des Autors. Dieser Roman darf und wird von der älteren Generation wohl auch als Schlüsselroman gelesen werden. Aber er ist auf diese Lesart keineswegs angewiesen. Daniel ist ohne Zweifel eine gut ausgestaltete literarische Figur und der Roman vermittelt in seinem ruhigen, unaufgeregten und auch durchaus nicht geschönten Erzählton ein Stück Südtiroler Zeitgeschichte.
Anton Unterkircher