Rezension 2009

Karl Lubomirski, Palinuro
Hall: Berenkamp 2008. (Reihe Erlesen, Band 16)

„Im Bergwerk der Sprache“. Zum neuen Gedichtband von Karl Lubomirski.

Im Bergwerk der Sprache, so hat es einmal Werner Kraft benannt, arbeiten auch jene Dichter, die abseits vom literarischen Mainstream nach dem Dauerhaften, dem ‚Wesentlichen’ schürfen. Karl Lubomirski zählt seit Jahren für Kenner zu diesen stillen, beharrlichen Autoren, die wenig am Gebäude der Sprache selbst verändern, wenig für das formale Experiment übrig haben, die vielmehr mit vorhandenen Mitteln die Tiefe der Existenz – der subjektiven wie der ins allgemein Menschliche gesteigerten -  auszumessen trachten. Darin liegt nicht zuletzt ein traditioneller Kern des Poetischen, und so sind denn auch seine Lyrikpublikationen, inzwischen mehr als zehn Gedichtbände, in viele Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Polnische, Russische, Tschechische, Ukrainische, Bulgarische, Türkische, Hebräische, Georgische, Litauische, Aserbaidschanische, Chinesische, Arabische, Spanische.
Insbesondere zum Italienischen hat Karl Lubomirski allein durch seinen Wohnort Mailand eine besondere Beziehung, südliche  mediterrane Landschaften gehören zu den feststehenden Motiven seiner Dichtung. Außerdem wurde ihm zuletzt 2007 der „Premio Internazionale di Castrovillari“, der Literaturpreis von Kalabrien, für seinen Gedichtband „Gekenterte Zeit“ zuerkannt. Nun ist im Verlag Berenkamp ein weiterer Gedichtband mit dem Titel „Palinuro“ als Band 16 in der Reihe „Erlesen“ erschienen. Joseph P. Strelka hat ein Vorwort dazu verfasst, den Buchdeckel ziert ein Bild des sizilianischen Künstlers Salvatore Fiume. Palinuro ist nicht nur ein Küstenort im süditalienischen Cilento, hinter dem Titel „Palinuro“ steht auch Palinurus, jener Steuermann des Äneas auf seiner Irrfahrt von Troja nach Italien (so steht für alle im Band zu lesen, die in der antiken römischen Mythologie nicht so bewandert sind), der diese Überfahrt allerdings nicht überlebt hat. Aber Palinurus hat Äneas „die Richtung gewiesen für den Neubeginn“.  Diese Verbindung des Gegenwärtigen mit dem Älteren, das Schürfen nach den antiken Schichten und Ablagerungen in den Formen der Gegenwart ist typisch für den Lyriker Lubomirksi.  Mythen, Motive und Topoi der Antike begleiten und überspannen seine Lyrik wie ein Gestirn.
Lubomirski war bis vor kurzem in seinem bürgerlichen Beruf ein Reisender, ist - dies zeigt seine Prosa, in der er seine Reisen und Aufenthalte in fremden Regionen literarisch schildert und verarbeitet wie in „Gefangene des Himmels“ (Berenkamp 2006), „Bruder Orient“ (Berenkamp 2004) -  ‚Reisender’ in essentiellem Sinn, was nichts weniger bedeutet, als in Bewegung zu sein, ohne den Schwerpunkt zu verlieren, ohne aus dem Lot zu kommen. Sprache, das Gedicht, erweist sich so wie eine Rückbindung an einen Lebensgrund ohne Grenzziehungen zwischen dem Vertrauten und Fremden, wie ein Anker im existentiellen Dasein jenseits konkreter Örtlichkeiten.
Oder ganz und gar umgekehrt: Die Sprache, das Gedicht öffnet sich ganz und gar für das konkrete ‚Hier und Jetzt’, um zu positionieren, auf das Örtliche im Sinne des Wortes antworten zu können. Werner Kraft hat dies einmal so formuliert: „sie (die Gedichte) sind welthaft unterströmt“ (in: Werner Kraft: Österreichische Lyriker. Von Trakl zu Lubomirski. Aufsätze zur Literatur. Wien 1984). So gibt es auch im neuen Band eine Reihe von Gedichten mit direktem Ortsbezug wie z. Bsp. „Monterone“, „Castrovillari“, „Sevilla“, u. a.  Der Reiz dieser Texte liegt darin, dass sie die konkreten äußeren Orts- und Landschaftserfahrungen zu jenem innern Punkt hin entwickeln, „wo die Gefühle ankern, von wo das Leben aufbricht und wohin es zurückkehrt; das einzige wahre Leben jedes von uns, jenes der Bewußtseinsgrade.“ (Prof. Donatella Laudadio, aus der Laudatio von anlässlich des Literaturpreises von Kalabrien)     
Viele Gedichte Lubomirskis sind eigentlich Epigramme, die in knapper Fassung einen Sinn freilegen, gerade so, wie es darüber schon in einem Vers von Klopstock hieß: „[…] ist das Epigramm ein Pfeil / Trifft mit der Spitze […] Ist manchmal auch, (die Griechen liebten’s so); / Ein klein Gemäld, ein Strahl, gesandt, zum Brennen nicht, nur zum Erleuchten.“   
So wirken diese Gedichte als Sinngedichte, als erhellende Gedanken, die die Aufmerksamkeit lenken, mitunter aufrütteln, nachdenklich stimmen. So einfach und überraschend schlicht diese Lyrik immer wieder erscheint, Lubomirskis Gedichte versuchen dennoch nichts weniger als mit Worten die Koordinaten der Existenz, ihren ‚Urgrund’ ausfindig zu machen, sie bewegen sich daher auch in der Nähe zur Metaphysik, zu jenem nach Kant ‚unhintergehbaren Bedürfnis’ des Menschen. Lubomirkis Gedichte sind nicht zuletzt daher lesenswert, sind geeignet im Strom des Alltags, der Zeit, kleine Wegmarken des (Nach)Denkens zu setzen. 

Christine Riccabona

 

Castrovillari

Hier weh'n die Winde
von Meer zu Meer.
Die Saaten reifen früh,
Kapellen teilen sich mit Quellen
verborgene Heiligtümer.
Keine Kreuze,
keine Glockentürme
abgelegene Wege weisen zwischen Adlern in den Himmel.

Wo letzte Wölfe zieh'n,
wacht wie ein Hirt die helle Wolke
übers Gebirge,
bis der Mond
ihm einen Silbermantel umlegt.

Stille saugt den Felsen ihre Härte aus,
dämpft die Schritte,
legt der Zeit die Hand
auf die raue Schulter.

[aus: Palinuro. Hall: Berenkamp, 2009, S. 68.]