Rezension 2009
Homer, ILIAS. Übertragen von Raoul Schrott. Kommentiert von Peter Mauritsch
München: Carl Hanser Verlag 2008
Homéros, hó arístos kaí theiotátos tôn poietôn
Dass »Homer der beste und göttlichste der Dichter« ist, wie es in Platons Ion-Dialog steht (530c), weiß so ziemlich jeder; auch dass er »der erste Dichter des Abendlandes« ist, wie ein Buch von »Trojas strengem Wächter« (so DIE ZEIT in einem Porträt des Basler Gräzisten, Nr. 51, 11.12.2008) Joachim Latacz aus 1989 heißt. Aber wer liest nun eigentlich noch das Werk dieses Genies?
Längst sind ja die Zeiten vorbei, als überspannte Jugendliche à la Werther ihren »kleinen Homer« stets bei sich trugen und ihn »dazwischen«, etwa beim »Abfädmen der Zuckererbsen«, lasen, aus einer griechisch-lateinischen Ausgabe wohlgemerkt. Solche Leser gab’s in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wiewohl, es gibt sie auch noch heute. In der Wissenschaftsbeilage des STANDARD war unlängst von einem niederösterreichischen Linguisten namens Hannes A. Fellner die Rede, der seit 2006 »an der Havard University tätig ist« (Fachgebiet: historisch vergleichende Sprachwissenschaft): »Forschung beschäftigt ihn eigentlich ständig: Oft reicht eine Ausgabe von Homers ‚Ilias’ ... und schon ‚suche ich nach Rätseln, Mustern, Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, vergleiche, rekonstruiere und stelle Theorien auf’, verrät der Forscher.« (24./25./26.12.2008)
Nicht zuletzt versuchen ganze Universitätsinstitute – etwa in einer Werbebroschüre der ortsansässigen Abteilung Gräzistik und Latinistik – Studienanfänger unter anderem mit Homer zu ködern: »Interessierst Du Dich für Sprachen? Würdest Du gerne große Autoren der Weltliteratur wie Homer, Sappho, Platon, Catull und Ovid im Original lesen? Willst Du zu den kulturellen Wurzeln Europas vorstoßen? Reizt es Dich, das vielfältige Nachleben der Antike zu erforschen, um so unsere Gegenwart besser zu verstehen?«
Raoul Schrott, der Homers Ilias im Auftrag des Hessischen Rundfunks (Koproduktion mit Deutschlandfunk) neu übersetzt hat, geht es weniger um diesen erlauchten Studentenkreis. Er hatte vielmehr die gesamtdeutsche Hörerschaft im Auge. Die Sendetermine sind mittlerweile Vergangenheit, 20 Audio-CDs mit der Stimmenvielfalt Manfred Zapatkas seit Herbst 2008 Gegenwart. Und eine Buchausgabe der Neufassung gibt es auch. Denn der Kontakt zur antiken Literatur sei, so befinden Radiosender, Verlag und Autor, »in den vergangenen Jahrzehnten bedroht«. Da möchte man dagegenhalten.
Insgesamt schaut die Ausgabe, die im Münchener Hanser Verlag erschienen ist, sehr schön aus: mit Einführung, Stellenkommentar, einer Liste der Ilias-Figuren, einem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis, einer Inhaltsangabe der Vor- (Kypria) und Nachgeschichte (Aithiopis), schließlich dazwischen eingebettet Homers Ilias, und dies alles schön luftig gesetzt. Übersetzt hat Schrott ganz in eigener Tradition, einmal mehr um einem Markstein der Literatur »Präsenz zu verleihen ... in der lingua franca eines Hier und Jetzt: non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu – nicht Wort für Wort, sondern Sinn um Sinn.« So steht es in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Gilgamesh (2001), und so praktizierte er das ja auch bei sämtlichen seiner Übersetzungen von Sappho bis Walcott.
Philologen haben diese Vorgangsweise nie goutiert. Der unlängst verstorbene Germanist und promovierte Altphilologe Wendelin Schmidt-Dengler etwa rügte Schrotts »Burschikosität und Unverfrorenheit« im Umgang mit klassischen Texten so: »Ich habe mich maßlos über seine Art geärgert, mit Catull, Sappho oder Properz umzugehen. Schrott kann nicht richtig Griechisch und übersetzt wie eine Wildsau.« (DIE PRESSE, 4.1.2008) Joachim Latacz hinwiederum hatte sein wissenschaftliches Sekundieren bei der Neuübertragung nach dem 2. Buch quittiert.
Vielleicht rieb sich der Homer-Forscher Latacz - neben vielem anderen – daran, dass diese Ilias-Version das Asterix-Obelix-Herr-der-Ringe-Artige nicht idealisiert. Schrotts Griechen bezeichnen das kämpferische Hin und Her zudem schon einmal als »scheiß krieg«, und natürlich geht es deftig zu, wenn Helena und Paris sich »liebten, dass die bettpfosten wackelten«. Dergleichen gibt es viel, und der Grazer Althistoriker Peter Mauritsch kommentiert dann stets besänftigend, etwa so: »Der Dichter gibt der Phantasie der Hörer Raum und erachtet den Moment danach als ausreichend zur Beschreibung des davor Geschehenen: die beiden ‚ruhten im gurtdurchzogenen Bett’.« Für die, die’s wirklich genau wissen wollen.
Man darf versichert sein, dass man Schrotts Ilias-Übertragung auch ganz gut ohne Kommentar verträgt. Sie ist süffig, plastisch, rhapsodisch, was heißt: »Sie adaptiert die homerische Diktion in einem modernen Duktus, der vom hohen Ton bis zum lakonisch Hingeworfenen und Derben« geht. Diese antiken Sagenhelden klingen zwar nicht so erhaben, »als ob sie Marmor scheißen« (das lässt Peter Shaffer seinen Mozart sagen), diese rhapsodische Prosa ist aber eben auch keinesfalls anspruchslos. Ein gewisser Goethe soll ein derart prosaisches Vorgehen übrigens nachgerade empfohlen haben: »Ich gebe zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre ... Für die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte Übertragung immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten unter einander.« (Dichtung und Wahrheit, III, 11).
Apropos Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, apropos Rätsel, Muster, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, apropos Theorie: Als Raoul Schrott sein Vorwort zur Ilias-Übersetzung verfasste (das schlussendlich konzis und klug ausgefallen ist), packte es ihn wohl ähnlich wie den oben erwähnten niederösterreichischen Linguisten Hannes A. Fellner. In der FAZ vom 22.12.2007 packte er dann seine Erkenntnisse vorab aus. Und so war die neue Homer-Diskussion längst vor Erscheinen der neuen Übersetzung ein Krieg der Worte. Schrott lokalisierte Homer nämlich als kilikischen Schreiber in assyrischen Diensten. »Dieses Profil nimmt Homers unleugbarem poetischen Genie nichts weg. Die Assyrer waren die zivilisatorische Großmacht dieser Epoche, ihre Schreiber auf allen Gebieten versierte Intellektuelle - und wenn Homer durch sie Zugang zu allem Wissen erhielt, ist das auch nicht anders als beim Ministerialen Hartmann von Aue, der sein Latein in einer Domschule erwarb und am französischen Hof auf Chrétien de Troyes' Werke stieß.«, merkt Schrott im Zug des folgenden medialen Schlagabtauschs an. (FAZ, 15.3.2008)
Dass Homer kein romantisches Originalgenie sein sollte, sondern ein gewöhnlicher Schreiber – da wurde die Gelehrtenwelt doch von einer Art horror vacui ergriffen. Und die Coverstory der LITERATUREN-Ausgabe vom November 2003 – »Raoul Schrott Genie oder Scharlatan?« – war wieder einmal aktuell. Ein gefundenes Fressen, schön dekoriert auf den Präsentiertellern des Feuilletons. Na, wie auch immer: Diese Ilias liest sich geradezu skandalös leicht, und das ist gut so. Homers Name wird populärer werden, wenn auch nicht so populär wie der Homer Simpsons. Und Homer wird viele neue Leser und Leserinnen bekommen. Immerhin.
Bernhard Sandbichler