Rezension 2010

Elfriede Kehrer, schärfe die schatten. Gedichte
Innsbruck: Skarabaues 2010

„und misst die welt in den rahmen des fensters“( S. 68)

Elfriede Kehrers neuer Gedichtband ist ein unplakativ, gleichwohl sorgfältig gestaltetes Buch: 85 Seiten schmal, ein Umschlagbild der Künstlerin Konstanze Rainer-Stocker und vier Zeilen am Buchrücken, die ein erstes Hängenbleiben, einen Eindruck der Lyrik intendieren. Auf den Innenseiten ist viel leerer weißer Raum zu finden, auf jedem Blatt eine, maximal zwei Textzeilen, eine Handvoll Worte, ohne Satzzeichen und konsequent klein geschrieben. Eine Meisterschaft der gründlichen Reduktion. Auch wenn man angesichts dieser zarten lyrischen Gebilde Kehrers augenblicklich an Haikus denken mag, (ohne deren Formstrenge einfordern zu wollen), solchermaßen reduzierte Gedichte gehen einen Schritt weiter. Man denkt an die Musik von John Cage oder man assoziiert eine Nähe zur „visuellen Poesie“, jene Sprach-Bildkunst, wie sie etwa von Heinz Gappmayr entwickelt worden ist. Allerdings, in seinen visuellen Texten beanspruchen die einzelnen Silben und Wörter nicht nur eigene Buchseiten, sondern mitunter ganze Wände im Raum, nicht zuletzt um Wahrnehmungs- und Verstehensmuster plakativ zu aktivieren, bewusst zu machen oder ironisch zu brechen. Dies jedoch haben die Gedichte Elfriede Kehrers nicht im Sinn. Sie beziehen sich nicht auf einen realen, sie umgebenden Außenraum, sie spielen auch nicht mit der Kombinatorik von Sprachzeichen und dessen Bedeutungen. Die Wörter in Kehrers Kürzestgedichten laufen vielmehr - wie die Tradition der Schriftlichkeit es uns vorgibt bzw. ‚vorschreibt’ - von links nach rechts, in Zeilen von oben nach unten, linear wie eine Partitur und wie diese eben auch polyphon. Selbst wenn nur zwei Wörter untereinander stehen, wie: „erschrecken / am hochblau“ (S. 9), verbleibt das Lesen im tradierten Verständnismuster, verknüpft sich das ‚erschrecken’ mit dem ‚hochblau’. Das Geheimnis verbirgt sich dahinter: weil sich diese und nur diese drei Worte anbieten, sich vor einem Hintergrund abheben, eine scharfe Grenze zum verschwiegenen Rest ziehen, beginnt das Interpretieren, Sinnieren, Assoziieren in die durch die Reduktion entstandenen Leere hinein. Wo ist die Sprache in diesen Gedichten hin verschwunden? Konzentration. Beim wiederholten Lesen bemerkt man immer mehr, dass diese ‚Gedichte’ wie Satzreste, wie Spuren sind, die von einem ‚Ganzen’, einem Gedanken, einem Bild herrühren, vielleicht verdichtete Hinweise darauf oder - wie der Titel nahe legt - „geschärfte Schatten“ davon sind. Es ist wie bei der Figur-Grund-Wahrnehmung, die Worte bilden die Umgrenzungen eines Raumes, den man ausfüllt der eigenen Sprache und sich ausmalt mit eigener Phantasie. Assoziationsketten ins Offene. Oder solche, die in einer sprichwörtlichen „Eindeutigkeit“ münden - immer dann, wenn etwas ist, was es ist: „an den bergen / spiegeln sich dächer // ein tag mit blauen tüchern“.
Denkt man die einzelnen ‚Gedichte’, Verse und Zeilen des Bandes zusammen und lässt sie ineinander klingen, ergibt sich eine Art Langgedicht mit vielen Bedeutungsfreiräumen, die sich letztlich nur in der eigenen individuellen Lesart erschließen. Dieses offene Lesen ermöglicht ein ‚kreatives’ Wahrnehmen, eine Art Meditation vielleicht, und darin liegt auch der außergewöhnliche Reiz dieses Gedichtbandes.

Christine Riccabona