Rezension 2011
Siegfried Höllrigl, Was weiß der Reiter vom Gehen. Zu Fuß an den Bosporus
Innsbruck: iup (edition laurin), 2011
Nachdenkliche Menschen sind meist einer Meinung: Die immer schneller werdende Mobilität gereicht der Menschheit nicht nur zum Nutzen, es geht dabei auch viel verloren, in dem Sinne des Indianers, der bei der Ankunft vom Pferd steigt und auf das langsame Nachkommen seiner Seele wartet. Kein Wunder, dass die Langsamkeit des Gehens wieder als Wert entdeckt und dass ‚Gehen‘ in letzter Zeit, besonders in der alternativen Tourismusbranche, ein wohlfeiler Begriff geworden ist. Pilgerwege und Fernwanderrouten bilden inzwischen ein wiedergefundenes Geh-Netzwerk, das sich über die zivilisierten Räume Mitteleuropas zieht und das nebenbei so manch ökonomischen Mehrwert einbringt. Auch der Buchmarkt bietet an: Wegweiser, Erfahrungsberichte, philosophische und spirituelle Texte über die ‚Kunst des Gehens‘, Geschichten vom Wandern, oft genug leichte Lesekost.
Mit all dem hat Siegfried Höllrigl nichts am Hut. Sein Buch „Was weiß der Reiter vom Gehen“, in dem er seinen Fußmarsch über sechs Grenzen hinweg durch sechs Länder mehr protokollierend festhält denn beschreibt, ist anders. Nicht nur, dass er mit seinem Projekt „Zu Fuß an den Bosporus“ vorerst nichts weiter im Sinn hatte, als das Einlösen einer vor langer Zeit gefassten Idee (und das ist, wenn es ohne Halbheiten geschieht, reichlich genug), der Autor kommt auch in seinem Text ohne überhöhte Bedeutsamkeit aus. „Meine inneren Blicke gingen Richtung Süden. Ich zog eine Linie zwischen Basel und Istanbul, und ich stellte mir vor, (…) diese Strecke zu gehen“, erinnert sich der Autor. 2004 setzt er schließlich den Plan in die Tat um, bricht auf und geht los: „belastet und befreit“. Und er schreibt auf, als wäre die Sprache das Leitseil des Weges.
Siegfried Höllrigl, der seit den 1970er Jahren Texte in Zeitschriften und Anthologien sowie einen Gedichtband publiziert hat, ist von Beruf und Passion Handpressendrucker, der in seiner eigenen Meraner Handdruckerei Offizin S. bibliophile Editionen, Kalender, Kunstdrucke und grafische Textblätter herstellt. Die Kunst in seiner Werkstatt ist eine der Hände und der Augen, eine Kunst, die sich in Langsamkeit und Leidenschaft gründet. Die Hände des Künstlers werden während der drei Reisemonate ruhen, (nicht ganz zwar, denn es entstehen immer wieder Skizzen und er nützt auch die Gelegenheit, in Handpressen am Weg Drucke von unterwegs geschnitzten Holzschnitten herzustellen). Das Sehen aber wird sich auf dem Weg mit dem Gehen verbinden, wird die Wörter und Erinnerungen in das Denken holen, wird Landschaften lesen, dem Erzählen seinen Rhythmus geben.
Der Autor hat keine bereits vorgezeichneten, erprobten Wanderrouten zur Verfügung, die andernorts üblicherweise beschildert und in leicht zu verdauende Abschnitte zu portionieren sind. Er muss vielmehr ein ‚wilder‘ Geher sein - quer über den Balkan, auf Strecken, die für touristisches Wandern gar nicht gedacht sind, durch Städte und Dörfer Italiens, Kroatiens, Sloweniens, Bosniens, Serbiens und Bulgariens, bis er sich schließlich durch die Türkei seinem Ziel Istanbul nähert. Auf Überlandstraßen, Fahrbahnen ohne Gehsteige, auf Feldwegen, auf Um- und manchmal auch auf Abwegen erreicht er Städte und Orte, kommt an kleinen Gehöften und Behausungen vorbei, wandert durch Niemandsland, hybride Zwischenräume, in denen Spuren der Vergangenheit den Gehenden und Lesenden berühren. Nicht selten sind es Nachwirkungen des letzten Krieges der 1990er Jahre, sichtbar an Friedhöfen und beschädigten Gebäuden, die in der Armut und in den Erzählungen der Menschen noch immer deutlich spürbar sind.
Jegliche Romantik des ‚Gehens‘ erstickt im Staub des Verkehrs der Verbindungsstraßen, verliert sich im lauten Getriebe der Städte, in mehr oder weniger komfortablen Nachtlagern, in manchmal heruntergekommenen Orten und Szenarien. Anstelle romantisierender ‚on-the-road‘-Philosophie aber entfaltet sich ein waches Schauen und Notieren, das Schönes und Hässliches im selben Bild erfasst, wie etwa das ‚verrückte‘ Neben– und Gegeneinander von unberührter Natur und von den Spuren des zwar langsamen, dennoch unaufhaltsamen technischen Fortschritts. Dabei entstehen Szenarien, denen die vorgefasste Optik abhanden gekommen ist und die auf stille unspektakuläre Weise überraschen und staunen machen. Der Text, ein Tagebuchbericht von 88 täglichen Einträgen, lebt von dieser Aufmerksamkeit im Sehen, von jener entschleunigten Form der genauen Wahrnehmung, in der sich wortwörtlich Schritt für Schritt die Details aneinanderreihen und zum Ganzen fügen.
Im Text äußert sich dies in einem steten sprachlichen Fluten der Eindrücke, das manchmal von kleinen beiläufigen Alltagsreflexionen unterbrochen wird oder mitunter durch Erzählungen und Begegnungen mit Menschen einen anderen Rhythmus bekommt. Manchmal bewirkt dies ein wahrhaft kühnes Hintereinander der Sätze, das Unzusammenhängendes aneinanderreiht, weil es so doch auch in Wirklichkeit geschieht. Bauern bei der Ernte, Frauen in Muslimtracht, Eisverkäuferinnen, die Fußballübertragungen in Bars, malerische Plätze an der Drina, Friedhöfe, Strapazen im Regen, das gute Glas Wein, der gereichte Slivowitz, Gastfreundschaft, wortkarge Gespräche und Abgewiesen-werden, das Glück im Schatten von Bäumen zu sitzen, die Müdigkeit, die Ödnis der Stadtränder und Motels usw., all dies schachtelt sich ineinander wie in einem kubistischen Bild. Dergestalt wird die literarische, die ‚poetische‘ Form des Textes selbst zur Aussage. Scheinbar ungeordnet weben die Sätze einen Teppich, der in seinen Verknüpfungen nicht selten auch ein surreales Bild der Realität spiegelt.
Durchgängig ist diesem Text die wohltuende Zurückhaltung des Autors anzumerken. Wiewohl hier ein Ich erzählt und berichtet, stülpt dieses Ich der Umwelt so wenig wie möglich seine Optik und seine Weltdeutung über. ‚Sehen was da ist‘, diese Art der Begegnung hat weniger mit misstrauischer Vorsicht oder mit scheuer Distanziertheit zu tun, als vielmehr mit Respekt und Offenheit. So erst kann ein Raum für das Andere, oft genug auch Fremde entstehen. In dem, was der Geher notiert und festhält ist viel Platz für das Besondere der Orte und die Geschicke der Menschen. Im genauen Niederschreiben des Erlebten, Beobachteten und Gehörten, das sich auch in der Verwendung original-sprachlicher Begriffe aus dem Alltagsleben zeigt, verändert sich wie von selbst, unmerklich und stetig, den Orten entsprechend die Atmosphäre der Lebensarten, der Lebensbedingungen, die manchmal auch nachdenklich stimmen.
Was weiß der Reiter vom Gehen - die Titelfrage des Buches (eine Anspielung auf das chinesische Sprichwort „der auf dem Pferd Reitende kennt die Bitternis des Weges nicht“) lässt die Lesenden bis zuletzt nicht los. Siegfried Höllrigl hat mit seinem Buch, das ein wunderbares Nachwort von Ilma Rakusa enthält, eine bemerkenswerte Reiseliteratur verfasst, die für ein beschönigendes Imaginieren und romantisierendes Lesen nicht zu gebrauchen ist. Man wird nach der Lektüre zwar bestimmt behaupten, dass, um nach Istanbul zu kommen, der Flug in jedem Fall anzuraten sei. Dennoch, und das macht der Text sichtbar, was können wir schon erfahren aus der flüchtigen Vogelperspektive. Höllrigls Text vermittelt vielmehr das wahre Ineinander von den Mühen und der Bitterkeit des Wegs und dem Glück des Ankommens.
Christine Riccabona