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Universität Innsbruck
Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Florian Braitenthaller

 

 

 
Judith W. Taschler: Apanies Perlen.
Vier Erzählungen
Wien: Picus 2014

Vier Erzählungen versammelt dieser Band, deren Abfolge gut gewählt ist, nimmt doch die Intensität des Erzählten kontinuierlich zu.

In „Oskar oder Who the fuck is Waldheim?“ wird das Unwahrscheinliche zur Normalität. Der Protagonist heißt Matzerath, Oskar Matzerath; so zu heißen verdankt er der Bösartigkeit einer Mutter, die dem ungewünschten Sohn die Bürde dieses Namens mit auf den Lebensweg gibt. Zuletzt wird ein Mörder entdeckt, dem es gelungen war, sein ganzes Leben lang Versteck zu spielen.

Man bemerkt bald: Diesen Figuren ist nicht zu trauen. Man sollte dem nicht trauen, was sie selbst für wahr halten, denn hinter jeder scheinbar plausiblen Lebensgeschichte steckt ein Verrat, eine Täuschung, eine List. Darüber hinaus vermittelt der Text, der mit Versatzstücken aus Literatur und Zeitgeschichte arbeitet, ein seltsames Vergnügen an Grauslichkeiten: üble Gerüche, üble Geschmäcker, üble Gedanken. Das Muster dieser Erzählung ist einfach gehalten: Man nehme eine Biografie, füge das Thema Nazi-Vergangenheit hinzu, Kriegsverbrechen, schlimme Kindheit und mixe alles kräftig durcheinander.

„Bis der Tod uns scheidet“ parodiert die Geschichte eines Mörders. Ein Ich beobachtet eine Frau: Ausführlich erzählt dieses Ich ihre gemeinsame Geschichte, die vier Jahre zuvor begonnen hat und deren Ende vor Kurzem eingetreten sein muss. Sie heißt Maria, ist religiös, weshalb sich der Mann nun mit der Liturgie der „heiligen Messe“ beschäftigt. Er hat sich ein Buch besorgt, das diese im Detail erklärt. Ausschnitte daraus wechseln sich mit seinen Beobachtungen und Erinnerungen ab. Da wird kein Klischee ausgelassen. Maria muss sterben, damit aus dem gemeinsamen Sohn kein katholischer „Knierutscher“ gemacht werden kann. So landet dieser mit dem sorgeberechtigten Vater auf der Couch vorm Fernseher. Es ist eine eigenartige Männerfigur, die hier konstruiert wird: ein Dummkopf als Selbstdarsteller, ein vermeintlicher Frauenversteher, der nichts kapiert, aber handelt, und wie nebenbei über Leichen geht.

Die Atmosphäre des Unheimlichen wird in „Worst Case“ eindringlich geschildert. 2015: Etwas Schlimmes muss geschehen sein, man weiß nicht, was, aber die Auswirkungen sind fatal: Die österreichische Bevölkerung scheint in einen Zustand wie nach dem 2. Weltkrieg versetzt. Obwohl die Katastrophe schon drei Monate zurückliegt, gibt es keinen Strom, keine funktionierenden Medien, keine Lebensmittel. Wer kann, flieht aus der Stadt aufs Land. So auch der Protagonist, Julius Maier. Es ist Winter, kurz vor Weihnachten. „Jeder Tag ähnelte dem anderen, er konnte sie nicht voneinander unterscheiden, selbst die Stunden verrannen ineinander. Er half ab und zu seinem Vater bei Waldarbeiten. Sein Vater war trotz Winter und Schnee besessen davon, Brennholz herbeizuschaffen. Julius saß in seinem Zimmer auf dem Bett und versuchte, seine alten Jugendbücher zu lesen, andere waren nicht vorhanden: Mark Twain, Karl May. In der Küche schälte er mit seiner Tante Erdäpfel und schnitt mit seiner Mutter Kraut. Er kehrte das Stiegenhaus und den Gang. Sein Leben kam ihm elend vor.“

Die Stimmung der Resignation und Trostlosigkeit als Reaktion auf etwas Furchtbares ist präzise erfasst, subtil geschildert. Einmal hat Julius die Idee, die Katastrophe könnte (wie in dem Film „Truman Show“) nur inszeniert sein, sie würden von fremden, politischen Mächten beobachtet, die sich auf ihre Kosten amüsierten. „… in jedem Stück Dreck witterte er pure Beobachtung.“ Überhaupt spielt das Beobachten in den Erzählungen Taschlers eine zentrale Rolle: Ständig beobachtet jemand jemanden, meistens mit einer bösen Absicht. Die darauf folgende Handlung führt dann zu einem tragischen Ereignis. Leider entpuppt sich die „Katastrophe“ am Ende als ein Vorfall, der den geschilderten Folgen nicht gerecht wird.

Sinnfälliger ist die letzte Erzählung, „Apanies Perlen“, die in der Südtiroler Gegenwart beginnt, dann aber märchenhafte Züge annimmt. Apanie, das ist ein Aborigine-Mädchen, das im Jahre 1867 gezwungen wird, nach Perlen zu tauchen. Ein Tauchgang, bei dem sie 100 Perlen findet, endet tödlich. Die „Hauptfigur“ dieser Erzählung ist eine aus diesen Perlen geformte Kette. Ihr Besitz bewirkt vorerst Glück und Segen, wird dann aber zum Fluch. Über hundertfünfzig Jahre lang wird der wechselvolle Besitz dieser Perlenkette nachgezeichnet, die von Australien nach Europa, von Broome und Sydney bis Wien und Salzburg gelangt und schließlich in Südtirol landet. Am Ende dieses Staffellaufs sind wir wieder am Anfang angelangt, der Kreis schließt sich.

Zumeist geht es bei diesen Geschichten um Blut und Gewalt, und immer ist da jemand, der beobachtet. Sadistische Täter und ahnungslose Opfer. Und immer geht es um Familien und darum, wie sie funktionieren oder besser: nicht funktionieren. „Seine Kinder waren ihm entglitten, besonders seine zwei Großen. Sein Sohn schrie ihm ins Gesicht, dass er ihn hasse, seine älteste Tochter Nora, sie war immer sein Liebling gewesen, wollte ihn auf ihrem Maturaball nicht dabeihaben. An diesem Abend betrank er sich bis zur Bewusstlosigkeit, um nicht mehr daran denken zu müssen, dass ein anderer Mann, seine Exfrau hatte einen neuen Partner, mit seiner Erstgeborenen den Vater-Tochter-Walzer tanzte.“ Und immer ist der Tod ganz nah. Die Motivation der Figuren, das, was sie antreibt, bleibt manchmal rätselhaft.
 

 


  

 

 
Herbert Rosendorfer: Martha. Von einem schadhaften Leben.
Roman
München: LangenMüller 2014

„Martha. Von einem schadhaften Leben“ heißt der letzte Roman von Herbert Rosendorfer und er erzählt genau dies: die Geschichte einer Frau, die in das 20. Jahrhundert hineingeboren und von Orten, mit denen sie eine Koexistenz führen wird. Denn lange bevor Martha geboren wird, gibt es einen Menschenschlag in einer weltabgekehrten Gegend, die einem mythisch-magischen Terrain gleicht. Dort fristen die Menschen eines Südtiroler Bergdorfes an der Grenze zur Schweiz ihr ewig gleichbleibendes, vom Aberglauben geprägtes, karges Dasein. Darüber plaudert ein Erzähler in einem halbernsten Ton gutmütig, liebevoll, auch kritisch. Beinahe mündlich wirkt dieses Erzählen, lebendig, elliptisch, mit eingestreuten tirolerischen Wendungen, gleichzeitig distanziert und ironisierend.

Der Erzähler selbst wirkt wie einer dieser Alten, der sein jahrhundertelanges Schweigen aufgibt und sich alles von der Seele redet. Ohne Rücksicht auf Konventionen und Althergebrachtes betrachtet er den Lauf der Welt im Allgemeinen und die Eigenarten der Südtiroler responsive italienischen Verhältnisse im Besonderen. Politische Mächte tauchen in Form von Herrschern auf, die in dieser Gegend höchstens Halt machen, um Symbole ihrer Macht zu hinterlassen und Soldaten zu rekrutieren. Dass sich der Staat einmal als k. u. k., dann als italienisch erweist, spielt weiter keine Rolle. All das ist von einer tiefen Sympathie für die Figuren durchzogen, abgesehen von politischen Witzfiguren.

In dieses Geflecht von Betrachtungen und Überlegungen hinein wird Martha als zweites Kind des Serafin Punggera geboren, ihre Mutter stirbt bei der Geburt. Aufgezogen von der ungeliebten Großmutter eröffnen sich für Martha („Sie war immer schon anders“) neue Perspektiven, als sie in jungen Jahren zu ihrer Tante zieht, die für einen Orden den Haushalt führt. Ihr weiterer Lebensweg hängt von zufälligen, doch richtungsweisenden Begegnungen ab. Eine schöne Zeit verbringt sie in Rom, bevor sie für vier harte Jahre zurück in die „Heimat“ muss, um ihre Großmutter Rosa de Lima zu pflegen. „‚Nein, das ist kein Leben‘, dachte Martha oft, ‚nur ein schadhaftes solches.‘“ Die Liebschaft mit dem Friseur Mario spiegelt die politische Situation Südtirols wider, inklusive gesprengter Strommasten und Selbstbestimmungsbestrebungen der deutschsprachigen Bevölkerung.

Besonders angetan hat es Martha ein Deutscher namens Gabs, dem sie sexuell hörig wird. Auf seine Versprechungen hin bricht sie ihre Zelte in Südtirol ab und reist nach München. Selbst als sie erkennt, dass dieser Mann ihr nichts als Lügen auftischt, kann sie sich von ihm nicht lösen. Gleichzeitig trifft sie immer wieder auf Menschen, die sie freundschaftlich unterstützen, die sie beruflich voranbringen, die ihrem Interesse für die schöne Kunst Nahrung geben. So spannt sich ein großer erzählerischer Bogen über das gesamte 20. Jahrhundert, in dem Martha Höhen und Tiefen eines Lebens erlebt, in dem sie von Dämonen verfolgt wird.
Sylvia, die Malerin, zu Martha: „‚Du musst sie abschütteln.‘ ‚Wen? ‘ ‚Die Dämonen, die Steinernen. Die Großmutter ist nur einer davon. Das Land ist voll. Herrschen über Wind und Wetter, haben Macht über den Fels und das Eis. Kennst du sie nicht? Weißt du nichts davon? Unsere Leute kommen aus dem Stein, nicht aus Lehm wie Adam. Aus dem Fels. Die Croderes, die Urmenschen, die Steinmenschen. Sehen aus wie Menschen, haben aber ein Herz aus Stein.‘“

Köstlich amüsant erscheint die knarzige Art und Weise, in der der Erzähler Dinge auf den Punkt bringt. Gern lauscht man diesem gescheiten Alten, der ganz eigensinnige, konservative Ansichten zur Malerei hat. Schon Albin Egger-Lienz ist ihm verdächtig, dass Mussolini ihn als „zweiten Michelangelo“ bezeichnete, dient ihm nur zu Spott und Häme. Aber auch Künstler wie Sol LeWitt und Mark Rothko („Öd-Langweiler“) hält er für Scharlatane. Besonders gelungen sind jene Textpartien, in denen der rechtskundige Rosendorfer Gerichtsszenen vorführt, dabei geht sein Temperament im besten Sinne mit ihm durch, das ist Komik von allerhöchsten Graden.

Der letzte Satz des Romans: „Nein, neidisch war sie nicht, aber hätte es nicht auch anders mit ihr kommen können?“ eröffnet einen Möglichkeitsraum und ist zugleich Programm: eine Lebensgeschichte präsentieren, die an wichtigen Wegmarken des 20. Jahrhunderts dank Herkunft und Schicksal vorbeischrammt. Ein „schadhaftes“ Leben, wie immer wieder leitmotivisch betont wird.  Ein beinahe langweiliges Leben mit Höhen und Tiefen, Glücksfällen und Pech, im Grunde genommen durchschnittlich, unaufgeregt. Großartig erzählt, mit dieser Verve des abgeklärten und doch leicht böswilligen Erzählers, der sich gerne lustig macht über die Dummheit, Naivität und Abhängigkeit vom Urteil anderer. Der Wunsch, frei zu sein vom Milieu, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, diese Freiheit zu leben, weil da tiefere Ströme Richtungen einschlagen, denen man folgen muss. „Da ist die große Welt, da ist die kleine Welt Südtirol, da ist die noch kleinere Welt Tschagoi …“ Und die Dämonen, die an jeder Ecke lauern und die Herkunft bewusst halten, Herkunft, die Schranken errichtet, die letztlich unüberwindlich sind.
 

 


  

 

 
Birgit Unterholzner, Für euch, die ihr träumt.
Roman
Innsbruck: edition laurin 2013.

Letztlich spielt sich alles in diesem Roman in, an und auf den Körpern der Frauen ab. Mit „Für euch, die ihr träumt“ legt Birgit Unterholzner eine zum Titel gewordene Widmung vor. Die bereits zu Beginn in Peter Bieris Motto angesprochene „Kultur der Stille“ wird dem Text zur Lebensaufgabe. Extrem welthaltig, poetisch und nüchtern, mit einem manchmal gnadenlosen, manchmal auch zärtlichen Blick auf „… Gedanken und Worte zwischen Menschen, die unausgesprochen bleiben“. Dabei doch genau hinschauend, auf jedes Leid, auf jeden Kummer, auf Falten und Altersflecken, aber stets die Würde der Figuren achtend, deren Schmerz, und deren Erniedrigung niemals voyeuristisch betrachtend.

Kapitelweise werden Lebensgeschichten primär von Frauen aufgerollt, deren Verbindungen zueinander teils lose, teils eng geknüpft sind. Fast immer sind es unerfüllte Wünsche, die das Leben dieser Figuren vergiften. Und über allem schwebt der Tod: verstorbene Eltern und tote Kinder, die zu Sternen werden oder die nach solchen benannt sind. Tode, denen kein Sinn eingeschrieben wird, die einen Abgrund öffnen, der betroffene Mütter mitunter wie Tiere handeln lässt. Dann ist es vorbei mit Humanismus, Moral und zivilisiertem Verhalten.

Der Text scheint als Tableau vivant zu fungieren. Figuren gruppieren sich zu szenischen Darstellungen, und abwechselnd, kapitelweise, treten diese einzeln oder paarweise aus dem Bild, um ihre Rollen zu spielen. Regine, Lelee, Bjarki und vor allem Marilena, die zentrale Figur in diesem Buch. Sie ist 40 Jahre alt, Fotografin, seit zehn Jahren verheiratet mit Konstantin; sie haben einen 7-jährigen Sohn. Völlig unerwartet erhält sie eine Ansichtskarte von ihrer Jugendliebe Bjarki, der ankündigt zurückzukommen. Mit ihm öffnet sich plötzlich die Vergangenheit, die Erinnerung an Island und ein dort verbrachtes Studiensemester. Bjarki, der Sohn der Gastgebereltern, eine große Liebe. Seine Nachricht zieht Marilena den Boden unter den Füßen weg, wischt die letzten zehn Jahre Ehe mit Kind weg wie nichts. „Sie verspürt Lust auf ein Leben, das sich noch verspielen lässt.“ Doch dem Herzen folgt man nicht, wenn man Verpflichtungen hat, wie ihr Tante Regine unmissverständlich zu verstehen gibt.

Hier wird Poesie eingesetzt, um Lebensuntüchtigkeit zu veranschaulichen, denn dieser Vagabundierenden ist nicht zu trauen. Weder dem, was sie tut, noch dem, wovon sie träumt. An Bjarki, den Gedichteschreiber, erinnert sich Marilena mit Wehmut. Er repräsentiert das Prinzip der Phantasie in einer nüchternen, gnadenlosen Welt. „Poesie sei die Welt hinter der Welt, sagte er“, und in einem Brief an Marilena: „Gedichte, die uns Flügel wachsen und wie über eine Klippe in eine andere Welt schauen ließen.

Das Figurenensemble erweitert sich um die ungleiche, leichtlebige Schwester Cäcilie und den Pflegefall Tante Regine als das personifizierte Realitätsprinzip. „Wenn sie doch liegen würde unter der Erd’, denkt Marilena“, die die gebrechliche, einmal lebenstüchtige Regine hasst, sich aber doch um sie kümmert. Diese Familienfiguren bewegen sich nicht im luftleeren Raum, sie sind eingebettet in aktuelle Ereignisse, die selten so konkret beim Namen genannt werden. „Lampedusa“, die Flüchlingsinsel mit ihren Dramen, konkretisiert sich in der Figur Lelees, der die Flucht gelingt und die über Marilena Aufnahme in einem Genossenschaftsheim findet. Sie hat eine tragische Reise hinter sich. An ihr, dem aus Äthiopien stammenden, über Lybien nach Europa eingewanderten Flüchtling, entlädt sich ein besonders grausames Schicksal. Mit „Fukushima“ wird eine Umweltkatastrophe thematisiert, mit „Gaddafi“ das gewaltsame Aufbegehren im „arabischen Frühling“. Zwischengeschaltet sind Reflexionen über das Leben, über den Zustand der Welt. Und man begegnet Paaren, die nicht dem Ideal entsprechen: Frauen, die mit Männern verheiratet sind, die man nur als zweite Wahl bezeichnen kann, weil die erste Wahl bereits vergeben oder verschwunden ist. Beziehungen, aus denen Kinder resultieren, die diese Beziehungen nicht retten können. Und doch gibt es Zufluchtsorte, die jedoch jenseits der zivilisierten Welt angesiedelt sind. „Marilena hat die Augen immer noch geschlossen. Als wäre sie abgetaucht, an den Grund eines Flusses, eines Meeres, in eine andere Sphäre. Niemand kann ihr etwas anhaben. Nicht einmal die durchsichtigen Haie, die an ihr vorbeischwimmen. Marilena wünscht sich ein Leben an Flüssen, Meeren und Gewässern. In Bewegung bleiben bis ans Ende der Zeit.“

Birgit Unterholzner gelingt mit ihrem Text der einfühlsame Blick in das Seelenleben einer Frau, die, zwischen Vergangenheitstragik und unbeugsamem Zukunftsvertrauen ausgespannt, einen Weg beschreitet, der allen Widrigkeiten zum Trotz ein mögliches Gelingen in sich birgt. Zärtlich, poetisch und gnadenlos zugleich.  

 


    

  

 
Otto Licha, Sieben
. Hypo-Roman
Innsbruck: Limbus Verlag 2013.

In seinem jüngsten Buch „Sieben“ erzählt Otto Licha die Geschichte zweier Freunde, von ihrer Kindheit bis zum Mannesalter. Der eine, Alessandro, begabt, intelligent, erfolgreich, der andere, Maximilian, durchschnittlich, psychisch krank und untalentiert. Alessandro weiß schon als Kind, dass er Bankdirektor werden will, und verfolgt dieses Ziel mit einer unbeirrbaren Strebsamkeit. Seiner Umgebung nötigt er für sein mit Leichtigkeit geführtes Leben Bewunderung ab. Das Erlernen von Sprachen, Fußballspielen, das Lösen von Sudokus, die Schule, das Studium – all das gelingt ihm ohne jede Mühe. Maximilian dagegen verbringt sein Leben stets einen Schritt hinter oder neben Alessandro. Dieser Freundschaft zuliebe verzichtet Alessandro darauf, in die Jugend-Mannschaft von Manchester United einzutreten, was dem Talentierten angeboten wurde. Aus einem gemeinsamen Trainingslager rührt seine Bekanntschaft mit den späteren Fußballgrößen Paul Scholes, Steve Gerrard, Ryan Giggs und Nani. Nur was das Heiraten und Familiengründen betrifft, ist Maximilian Alessandro einen Schritt voraus.

Von dieser Zweier-Grundkonstellation ausgehend, entwirft der Roman ein Kaleidoskop skurriler Einfälle und Begebenheiten. In die Lebensgeschichte der beiden mischen sich deren Eltern, die teils schablonenhaft gezeichnet sind. Alessandros Mutter zum Beispiel kann als überzeugte Deterministin nichts aus der Ruhe bringen, was litaneiartig in Sätzen wie „Alles sei vorherbestimmt“ wiederholt wird. Wie ein Magier und Jongleur nimmt der Autor Ideen auf, wirft sie in die Luft und fängt sie neu geordnet wieder auf. Alessandros Erfolgsgeschichte führt ihn nicht nur nach Manchester, sondern als Bankdirektor genauso in die Finanzmetropole Frankfurt am Main, wo ihm in Gestalt einer Anhängerin der Occupy-Bewegung die Liebe begegnet. Seelenverwandtschaften stellen sich ein, sowohl mit einem japanischen Finanzguru wie mit einer österreichischen Bundespräsidentin. Die inzwischen reich gewordenen Jugendfreunde von Manchester United fungieren als Sponsoren seiner Bankenidee. Ein geheimnisvolles Buch mit dem Titel „Parallelstruktur“ begleitet Alessandro bei all seinen Unternehmungen. Die Ereignisse nehmen einen parallelen Verlauf. Gesundheit und Krankheit, Österreich – Deutschland, Nord- und Südtirol, Manchester United und Wacker Innsbruck, Bankensektor und Protestbewegung Occupy. Dieser Text ist auf der Höhe der Zeit und an Aktualität kaum zu überbieten.

Erzählt wird äußerst humorvoll und beschwingt, in einem angenehmen, flotten Rhythmus. Das Leben, die Ereignisse purzeln dahin. Zwischen all dem Gebälk der geistreichen Konstruktion bleibt noch genügend Raum für allerlei ironische Seitenblicke auf zutiefst österreichische, im Besonderen tirolerische Belange. Zum Beispiel auf den Umgang Österreichs mit bestens ausgebildeten Migranten: „Als die Hürden nur mehr eine Ausreise aus dem Land zur Wahl stellten, heirateten Pilar und Maximilian. Nun mussten die beiden dem österreichischen Staat nur mehr beweisen, dass hier Liebe und nicht reine Zweckmäßigkeit als Ehegrund vorhanden war.  Dieser öffentlich gehaltene Liebesbeweis gelang, als Carmen geboren wurde. Andererseits wurde so die Fortsetzung von Pilars Architektenkarriere wieder aufgeschoben.“ Oder das schwer zu durchschauende Politsystem, in dem unsichtbare Fäden gezogen werden. „Auch war es in Tirol noch niemandem gelungen, die Macht bloßzustellen, damit alle sie sehen konnten. Es wollte ohnehin niemand die Macht sehen. Alessandro wähnte sich schon in Berührung mit ihr, da seine Vorgesetzten ihm in einer Sitzung bereits das Ende seiner Bankenidee vor deren Verwirklichung ankündigten. Die Idee sei so alt wie der Mond und schon längst verwirklicht.“ Im Verlauf des Romans wird Alessandro noch einmal mit dieser „Macht“ konfrontiert, als es darum geht, ein für Innsbruck revolutionäres Verkehrsprojekt auf Schiene zu bringen. „Innsbruck ist, was den Verkehr betrifft, die dümmste Stadt der Welt“, sagt Martin Flatscher, der eine Idee hat, die Alessandros Bank sponsern soll. So mangelt es nicht an gezielten Seitenhieben auf bestehende Verhältnisse wie auf Menschliches, Allzumenschliches: „Wieder wird bei den Menschen gespart, wieder macht man sie arm, wieder ‚muss jeder seinen Beitrag leisten‘. Und draußen herum wird nur Unsinn produziert, dafür geworben und gequatscht.“

Den Anstoß zu diesem und neun weiteren Buchprojekten gab die Hypo-Bank-Tirol, die zur 111-Jahr-Feier ihres Bestehens auf die Idee verfiel, zehn Romane zu fördern. Was in vorliegendem Fall wie ein Auftragswerk aussieht, unterläuft mit viel Ironie die Bedingungen seines Entstehens. Realität und Phantasie vermischen sich auf originelle Weise in einer erstaunlichen Leichtigkeit. Letztlich gelingt dem Autor das Bravourstück, eine Geschichte, die sich aus Fiktion und Realitätsfragmenten zusammensetzt, so plausibel zu montieren, dass man dem Fortgang der Story bis zur letzten Seite in einem Atemzug zu folgen bereit ist.  

 


 

 

 
Renate Scrinzi, Und Emilio lächelt.
Roman 
Bozen: Edition Raetia, 2011

Bereits 2011 ist im Bozener Verlag Edition Raetia ein Roman von Renate Scrinzi erschienen, der es allemal verdient, bekannt gemacht zu werden: „Und Emilio lächelt“. Er beginnt mit einem Zitat von und einem Hinweis auf Emil Zátopek (1922-2000), einem siegreichen tschechoslowakischen Langstreckenläufer, der sich während des Prager Frühlings verdient gemacht hat – eine erste historische Verortung. Darauf öffnet sich ein Rahmen um die Figur des Emilio, der sich 2001 auf einer Reise befindet, deren Ziel er nicht kennt und die am Ende des Buches wiederaufgenommen werden wird. Es folgen Tagebucheinträge eines deutschen Offiziers aus den Jahren 1942-1943, der Emilios Erzeuger genannt wird. Erst dann setzt unter dem Kapitelnamen „Anfang“ die Erzählung um Emilio selbst in vier Teilen ein, beginnend mit seiner Geburt 1945. Ein Junge, der ohne Vater aufwachsen wird, denn niemand außer seiner Mutter Angelina wird jemals wissen, wer sein Vater ist. Emilio ist ein Kind der reinsten Liebe, mit einem Merkmal ausgestattet, das ihm Herzen zufliegen lässt und ihm seinen Kosenamen „Sole“ einbringt. „Er kann sein Lächeln anknipsen, wenn ihn etwas überrascht. Spontane Freude zum Beispiel. Dann wieder knipst er es plötzlich und unerwartet aus. Die Welt hat keinen Anfang. Die Leute keine Ahnung. Da wird es dunkel und er selbst ist nicht mehr da. Nur wenn er lächelt, ist er da. Flüchtiger Moment des Glücks ohne fremde Zutaten.“ Wenn Emilio lächelt, wird es hell. „Ganz nach innen geht es dann, dieses Lächeln, und Soles ganze Gestalt taucht darin ein.“ Dieses Lächeln erleuchtet Räume und Menschen, aber er „macht“ nichts Besonderes daraus, es scheint fast unabhängig von ihm zu sein.

Emilio wächst bei seiner Mutter, den Großeltern und Onkel Aldo in der Toskana in einem Ort nahe am Meer auf. Als er fünf Jahre alt ist, zeigt Aldo ihm das Meer: eine Entdeckung und „Liebe auf den ersten Blick“. Dabei kommt es zu einer Epiphanie: „Über die Stufen hinab stolziert ein Mädchen. Ein Mädchen in einem weißen Kleid, barfuß, das weiße Handtuch hält es mit beiden Händen an den Oberkörper gedrückt. Emilio schaut. Ihm scheint, als ginge ein eigenartiges Licht von dem flatternden Kleid aus.“ Es ist ein magischer Moment, der nur im Blick erfolgt und für immer bleibt.

1967 heiratet Emilio Gertrud, eine deutsche Dolmetscherin, in der Marienkapelle, jenem Ort, an dem er gezeugt wurde. Mit seiner Frau zieht er nach München, Zwillinge werden geboren, er ist unglücklich. Als die Kinder 16 Jahre alt sind, bricht er zusammen, verlässt seine Familie und macht sich auf den Weg zurück nach Italien. Bei einem Sturz verliert er sein Gedächtnis, setzt jedoch die Reise fort, getrieben von der Sehnsucht nach dem Meer. In Marseille begegnet Emilio einem, der ihn kennt und zurück zu seinem Geburtsort Massa bringt. Dort, am Hafen, wartet die engelhafte Erscheinung vom ersten Tag am Meer, inzwischen 60 Jahre alt. Ein Kreis schließt sich.

Was an dieser Auf- und Nacherzählung vordergründig bedeutsam scheinen mag, Emilios Herkunft als einem Spross aus der Verführung eines italienischen Mädchens durch einen deutschen Soldaten gegen Ende des II. Weltkrieges und seinem Schicksal als vaterlosem Buben im Nachkriegsitalien stellt sich für die Erzählung als marginal heraus. Und obwohl die Ereignisse zeitlich verortet werden, scheinen diese Zeitangaben nicht von Belang zu sein. Was jedoch deutlich wird, ist ein Spiel mit Korrespondenzen, das hier aufgenommen wird. Das reicht von der Namensähnlichkeit Emils mit Emilio über den Beruf des deutschen Offiziers, er ist Dolmetscher, mit der späteren Frau Emilios, bis zu deren deutscher Herkunft. Die Geburt der Zwillinge macht die Verdoppelung buchstäblich.

Erzählt wird eine Lebensgeschichte, die pränatal beginnt. Auch eine Geschichte der reinen, ewigen Liebe, die durch äußere Unstimmigkeiten nicht beschädigt werden kann. Über das Lächeln kommuniziert Emilio rein mimisch mit der Welt und pflanzt so die Liebe des Mädchens Angelina fort. Die „Handlung“ wirkt in der Nach-Erzählung banal, so banal wie jedes x-beliebige Leben. Wichtiger als Handlungen und Taten ist die Innenschau, sind poetische Erkundungen. Die Sprache, in der all das erzählt wird, sucht ihresgleichen. Sie erreicht stellenweise eine Abstraktheit, die für erzählende Texte ungewöhnlich wirkt. So pendelt der Stil des Romans zwischen lyrisch-poetisch, abstrakt und genau beschreibend. Über die Lust an der Sprache gewinnen die Welt und das Leben eine Kontur. Selten wird die Tatsache, dass ein Text etwas „Gewebtes“ ist, so deutlich wie in diesem Buch. Die Sprache arbeitet, sie bringt die Figur Emilio zum Leben, wo vorher nichts war, lässt ihn entstehen. Scrinzi durchdringt damit die Figuren, taucht in sie ein, leuchtet sie aus, macht sie durchscheinend, belässt ihnen aber ihr Geheimnis. Dies erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen will. Am Ende kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, ein zauberhaftes Märchen gelesen zu haben.  

 


 

 


Hans Platzgumer, Trans-Maghreb
. Novelle vom Bauträger Anton Corwald
Innsbruck: Limbus, 2012

In der Novelle „Trans-Maghreb“ lässt Hans Platzgumer das Erdbeben in Japan und den „Arabischen Frühling“ Revue passieren, mithin die ersten Monate des ereignisreichen Jahres 2011. Selten ist Gegenwartsliteratur so nah am aktuellen Weltgeschehen. Selten reflektiert sie die Medien, die uns dieses Weltgeschehen via Bildschirm in die Wohnzimmer liefert. „Die Welt geht unter, wird mir vermittelt. Fukushima brennt. Und Libyen, mein Lebensmittelpunkt der letzten Monate, zerbricht. Und ich chille auf der Couch und genieße mein Goldfassl.“ Das Zeitgeschehen wird über die Perspektive eines Beteiligten vermittelt, dessen hervorstechendes Merkmal Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit ist. So erfährt man außer den ohnehin bekannten Fakten, die über die BBC verbreitet wurden, nichts, und auch wenig über die Befindlichkeit eines 38-jährigen Muttersöhnchens. Auf indirektem Wege zeigt sich in dieser Gestalt das Exemplar eines gewöhnlichen, einsamen Zeitgenossen, der selbst im Auge des Taifuns blind und taub ist für die ihn umgebenden Turbulenzen.

Ein namenlos bleibendes, erzählendes Ich: Tiefbauingenieur, wohnhaft in Wien, Angestellter einer international tätigen Firma. Er soll den Bau einer Eisenbahn (die „Trans-Maghreb“) für den „Spinner“ Muammar al-Gaddafi vorantreiben. Während der Arbeiten an diesem Projekt bricht die Revolution in Libyen aus, von der der Ingenieur und seine Kollegen nur peripher etwas mitbekommen. Obwohl sie in der Nähe von Gaddafis Geburtsstadt Sirte, jener bis zuletzt umkämpften Festung seiner treuesten Anhänger, stationiert sind, registrieren sie die vor sich gehenden Veränderungen nicht. Erst als ihr Lager, das voller Gastarbeiter ist, eingezäunt und zu einem Internierungslager umfunktioniert wird, Lebensmittel und Wasser knapp werden, entwickeln sie ein Bewusstsein für ihre aktuelle Lage.

Doch die eigentliche Hauptfigur ist der Bauträger Anton Corwald, ebenfalls Österreicher.  Diese Figur, von der die Arbeiter inklusive Ich-Erzähler so gut wie nichts wissen, außer dass er ihr Boss ist, bleibt bis zuletzt ein mysteriöses Individuum. Verstrickt in allerlei Machenschaften, gelang es ihm, der Erzählung zufolge, ein weltumspannendes Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten aufzubauen. Corwald wird zur Schlüsselfigur des internationalen Handels stilisiert, dem schließlich sogar die Organisation der NATO-Hilfe für die in Libyen eingeschlossenen Ausländer anvertraut wird. Bewundernd blickt der Erzähler auf, wenn es um den Bauträger geht. Der versteht es Macht auszuüben, der ist das genaue Gegenteil von ihm, sein Antipode: weltgewandt, einflussreich, phantasievoll. „Ich kann mit Menschen nicht kommunizieren, jonglieren, wie Anton Corwald es kann. Ich kann mich nicht mit ihnen zusammensetzen, plaudern, verhandeln, Geschäfte machen, wie er es tut.“ Während der Ich-Erzähler seine Freizeit vor dem Fernseher verbringt, umsorgt von seiner Mutter, ist es Corwald, der sich engagiert zeigt, dabei aber undurchschaubar bleibt. „Wenn Sie meinen, dass Sie Libyen kennen, dann müssen Sie wissen, dass Sie nur den äußersten Rand dieser Unendlichkeit gesehen haben. Die Einheimischen wissen, dass das Meer im Norden und die Wüste im Süden ein bodenloser Abgrund sind, über dem sie sitzen. Was immer sie da hinunterwerfen, verschwindet.“

Die Erzählstruktur folgt einem klaren Aufbau. Die im Präsens gehaltenen Passagen berichten vom Aufenthalt in Wien, nachdem der Erzähler das Job-Abenteuer überstanden hat. Dazwischengeschnitten sind im Präteritum erzählte Passagen von der Zeit in Libyen. Aber was ist das für ein Mensch, der diese Erlebnisse vor seinem geistigen Auge wie einen Film ablaufen lässt? Viel erfährt man nicht über ihn. „Ich war in die Wüste geschickt worden, um die Ausführungsplanung vor Ort zu überwachen. Da half kein Jammern über Straßenrowdys, die ihre Cola-Dosen aus dem Fenster warfen. Ich hatte mich mit langen Monaten in der Wüste abzufinden, bis dieser Job erledigt war, oder zumindest, bis meine Firma Erbarmen mit mir hatte und einen anderen schickte, der mich ablöste.“ Die Mentalität des Landes, die Menschen und ihre Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten bleiben ihm fremd, auch das Feilschen um Preise ist ihm zuwider. Jede Reise in, jeder Gedanke an seine Heimat ist ihm lieber als Libyen. „Was war ich froh gewesen, wieder zurück im Abendland zu sein, wo es Schweinefleisch, Bier und Frauen gab.“ Er verhält sich wie ein Ignorant, als der er letztlich dargestellt ist.

Erzählt wird routiniert, wenn zum Beispiel der Erzähler höchst anschaulich in einem Taxi durch die libysche Wüste chauffiert wird. Als sich die Ereignisse zuspitzen, wird der Erzählrhythmus atemlos. Dass die Figur des Bauträgers Corwald blass wirkt, ist wohl der Perspektive des erzählenden Ichs geschuldet. Revolutionen, die ein ganzes Land und die Welt erschüttern, bleiben wie das Erdbeben in Japan mit seinen verheerenden Folgen für diesen Gelangweilten des 21. Jahrhunderts eine Meldung in den Medien.  

 


 

 


Otto Licha, Kripp
Innsbruck: Limbus, 2012

„Auf dem Stein unterhalb des Kreuzes sitze ich, um zu denken, um mich zu erinnern, Geheimnisse aus alter Zeit hervorzukramen, die mir scheinbar ohne Grund entfallen sind.“ Die Erinnerungen Otto Lichas, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen lassen, sind von einem doppelten Rahmen zusammengehalten: der Besteigung seines Hausbergs, von dem aus sich ein wunderbarer Blick auf Innsbruck eröffnet, und dem gemeinsamen Abendmahl mit vier Freunden. Was sie in ihrer Jugend zusammengebracht hatte, war die MK, die „Marianische Kongregation“, ein Jugendzentrum. Der doppelte Rahmen wird gespiegelt von einer doppelten Anrede des Ich-Erzählers an ein „Du“: Dadurch erhält der Roman den intimen Charakter eines Tagebuchs oder Briefes.

In den 1960er und 70er Jahren war der Katholizismus auch in Österreich zu einer Kraft geworden, die ein revolutionäres Potenzial in sich nicht länger leugnen wollte. Engagement, Kritik, Selbstständigkeit waren durchaus vereinbar mit einer Kirchenführung, die im II. Vatikanischen Konzil die Öffnung zur Welt propagiert hatte. Um sich dies zu vergegenwärtigen, braucht der Autor/Protagonist den distanzierten Blick von oben. Die Vogelperspektive ist zugleich eine Metapher für die weite Strecke zurück in Lichas Vergangenheit.

„Wer einen Traum antritt, weiß nie, wie er endet, was dabei herausspringt. Er nimmt den Traum in beide Hände und lässt sich von ihm ziehen. Nicht, dass er keinen Plan hätte, die Richtung bestimmend, aber der Plan ist nicht das Ziel, denn dieses torkelt vor ihm her und zieht, einmal hierhin, einmal da.“ Pater Kripp war Jesuit, einer, der sich für die Anliegen der Jugend engagierte. 1959 übernimmt er das Innsbrucker Jugendzentrum und baut es im Lauf der Jahre zum größten in Europa aus. Sein unorthodoxer Ansatz bringt ihn jedoch in Konflikt mit den Kirchenoberen, bis er 1973 abgesetzt wird und nach seinem Ausschluss aus dem Orden 1984 sein Betätigungsfeld nach Nicaragua verlegt. „Engagement“ ist sowohl für Kripp wie für den Protagonisten des Romans ein zentraler Begriff. Der Jesuit wird für viele Jugendliche zu einem Erzieher der besonderen Art. Er „wurde anders durch uns, die Erzogenen, die Gezogenen, die Gemaßregelten, die in die Schranken Gewiesenen. Er ließ von den Normen ab, schob sie beiseite und warf sie in den historischen Abgrund. Der Kripp ließ sich durch uns, die dummen Spät- und Neugeborenen, umerziehen, weil er erkannte, dass man Erfahrungslose ausreden lassen muss, damit ein neuer Gedanke, eine neue Dimension Besitz ergreift von der Weltgeschichte.“ Wesentlich für den Erzähler ist es, seine eigene Geschichte als untrennbar verknüpft mit jener der MK zu erzählen, eine Jugend im katholisch geprägten Tirol. Kripp war für den Erzähler ein Ermöglicher, jemand, der gewähren ließ und Vertrauen hatte in jugendliche Ideen, und die MK war der Ort dafür. „Der Kripp! Er unterstützte alles vom Basketball bis zum Film, vom Literaturkreis bis zum Theater. (…) Solange sich etwas der Allgemeinheit unterordnete und ihm schien, es würde derselben gut tun, förderte er die Beschäftigung damit, ohne sich um die genauen Inhalte zu kümmern.“

Vorherrschende Grundstimmung ist Melancholie. Im Ton des Abschiednehmens gießt ein Autor seine Lebenserinnerungen in ein Gedächtnisbuch mit dem Ernst der Verantwortung für die nächste Generation, mit einer durchaus frohen Botschaft, die in erzählerische Episoden transformiert ist. Immer wieder werden die berührenden Erinnerungen unterbrochen von mantraartigen, leitmotivischen Wiederholungen, die beruhigen, gleichzeitig intensivieren und dabei litaneihaft wie ein Rosenkranz klingen. Bei all dem geht es gar nicht so sehr um Kripp selbst, sondern um die Erlebnisse des Erzählers, und wie Kripp mit seiner Maxime: Phantasie und Engagement sein Leben beeinflusste.

Exemplifiziert an der Biografie des Ich-Erzählers, wird der immense Einfluss des Katholizismus auf sämtliche Lebensbereiche deutlich, aber auch der Versuch, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. „Links, rechts, Mitte: alles gab es in der MK. Es wurde keine Richtlinie des Guten ausgegeben, nur nachdenken sollte man.“ Allerdings war dieser Geschichte ebenso wie „dem Kripp“ das Scheitern eingeschrieben: „Was ein echter Tiroler ist, lässt sich jedoch nur schwer aus der Vergangenheit, also aus der Geschichte ableiten; nur aus dem Berg und aus der Sehnsucht, den Horizont endlich konvex zu begreifen wie einer, der sein Leben lang über das Meer blickt. Mein Berg aber ist inzwischen auch schon zur Gewohnheit geworden. “ Zum Schluss hält der Erzähler in einem Brief an seinen Sohn ein Plädoyer für Engagement und die heutige Jugend, die gegenwärtige technische Möglichkeiten wie social networks effizient nutzen soll, um den Weltfrieden zu fördern, soziale Ungerechtigkeit anzuprangern und die Mächtigen in die Schranken zu weisen. „Kripp“ ist eine Hommage an den großen Unsichtbaren des Romans, der aus dem Hintergrund die Fäden zog, indem er sie nicht zog.  

 


 

 


Irene Prugger, Letzte Ausfahrt vor der Grenze. Erzählungen
Innsbruck-Wien: Haymon Verlag 2011

Ein Grundmotiv all dieser Erzählungen ist „Die Unmöglichkeit, wirklich zueinander zu finden.“ Das schwebt als Drohung über allen Beziehungen angesichts der Banalität des Alltags: Beziehung und Beziehungslosigkeit, das Leiden am einen wie am andern, ohne darüber in selbstgefällige Larmoyanz zu verfallen. Das wird stilistisch auf hohem Niveau verhandelt, klug beschrieben und mit dem nötigen Humor präsentiert.

In achtzehn Erzählungen entwirft Irene Prugger einen Figurenreigen problematisierter Identitäten: Frauen, Ausländer, Randexistenzen, die sich ihres Platzes in der Gesellschaft nicht sicher sind, die ihre Standortbestimmung im Beziehungskosmos suchen: „Paartherapie“, „Rendezvous“, „Dark Room“. Was jedoch als Ausgangssituation vielleicht sogar banal klingen mag, ist als ausgeführte Erzählung alles andere als das.

Mit viel Einfühlungsvermögen verfolgt Prugger Ideen, Wünsche und Zweifel ihrer Figuren, die vom Menschlichen-Allzumenschlichen gequält sind. Präsentiert werden vorwiegend Handlungen und Situationen, die eine beobachtende Erzählerin reflektiert begleitet. Erzählanordnungen werden zu Versuchen, die Situationen, in die beziehungswillige Protagonisten geraten, verständlich zu machen. Daraus entsteht Ambivalentes, manchmal Vergnügliches, stets Ergreifendes. Einige Texte sind über Wortspiele konstruiert, die die Sprache auf ihre Doppelbödigkeit hin ausloten.

Die als Pointen formulierten Enden folgen einem Prinzip: der Überraschung und vermitteln bisweilen die Selbsterkenntnis, dass gerade eigene Erklärungsmuster anzuzweifeln sind. Auch zeichnen sich die Erzählungen durch große Lebensnähe und Perspektivenreichtum aus; das Schreiben hin zur Pointe funktioniert so gut, dass sich kein Ende erraten ließe.

Die Erzählstimme, aus einer bevorzugt weiblichen Perspektive, ist ihren Figuren sehr nah, sie kennt deren Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen. Präzise Beobachtungen weniger von Äußerlichkeiten, mehr von Vorstellungen, Erwartungen, Mutmaßungen, dem Durchspielen möglicher Begegnungen und deren Verlauf. Aggressionen werden raffiniert verborgen, sie wirken aus dem Untergrund – Frauen und Männer auf der Gefühlsschaukelbahn.

„Als er dann auch noch mit den Fingern in ihrem Gesicht herumfuhr, hatte Erna endgültig genug von der Heuchelei und dem stillen Darniederliegen. ‚Ich will leben‘, schrie es aus ihr, ‚ich will leben, ich will lieben!‘ Und sie brüllte zu Gott, der alle zu Staub macht und nichts als zu Staub: ‚Ich, ich, ich!‘“ (S. 41)

Alles ist belebt, alles ist beseelt: Sexpuppen, Tiere, Tote nicht anders als die „Lebenden“, das Spektrum „handelnder“ Protagonisten ist so ungewöhnlich wie plausibel. Warum sollen Tote nicht denken können? Im Sog des Existierens sind alle der erzählenden Reflexion ausgesetzt – jenseits aller Grenzen.  

 


 

 


peter giacomuzzi, frann. novela
Zirl: Edition BAES 2010

Mit Peter Giacomuzzis „frann“ legt die Zirler Edition BAES eine Prosa auf, die 1999 unter dem Titel „mannfrau“ als e-book erschienen war. „mann“, „frau“ und „frann“ – das sind die drei Kapitel der so genannten „novela“. Abwechselnd wird hier aus der „er“- bzw. „sie“- und „ich“-Perspektive erzählt, was zu einer komplexen Verschränkung der schwer fassbaren Figuren im Kopf des Lesers/der Leserin führt.

Der Ort, an dem sich die erzählende Stimme von „mann“ aufhält, ist ein Gasthaus, die Zeit unbestimmt. „eigentlich müsste ich schon längst krepiert sein, eigentlich bin ich schon lange zugrunde gegangen.“ Was diese Figur von sich gibt, ist eine verbal-aggressive Attacke gegen den Zustand der Welt. In seinem Räsonnieren erscheint die Familie als trostlos, sie gibt keinen Halt, alles ist ein Gegeneinander der Geschlechter. „mann und frau, das ging nicht mehr zusammen.“ Die Arbeit ist unbefriedigend und bedeutungslos, der tägliche Gang ins Gasthaus eine lustlose Gewohnheit. Unbemerkt von den anderen löst sich dieses „ich“ / „er“ auf, „fließt“ zu Boden. „die gedanken existierten alleine, die sprache ohne worte, das fleisch ohne formen.“ Diese Figur fühlt sich nicht. Und langsam wird klar: Es ist ein alltägliches Leben, das sich schonungslos ausspricht, mitsamt dem Ekel daran, der sich wortreich und grauslich artikuliert. Mit dieser Figur des Mannes kotzt sich einer gründlich aus. „arbeiten war sein einziger zweck, arbeiten und am abend in die gaststätte gehen.“ Nur das Körperliche gilt ihm als Lebensäußerung. Als seine Frau stirbt, geht er kotzen, um sich zu spüren. Dass sie so einfach eines Morgens tot im Bett gelegen hat, verzeiht er ihr nicht. Eine namenlose, prototypische Allerweltsfigur beleuchtet ihr geheimnisloses Allerweltsschicksal, in dem nichts von Bedeutung geschieht und alles, was geschieht, von der Fadesse der Wiederholung affiziert ist.

Im Kapitel „frau“ destilliert sich aus der kunstvollen Verschränkung der Perspektiven eine weibliche Figur, die einfühlsamer erzählt wird. Diese Frau ist eine Gestalt mit einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer selbst, das sie zu den Dingen, Ideen, Wünschen und ihren Vorstellungen in eine Beziehung treten lässt. Sie besitzt Erinnerungen an glückliche Momente ihrer Kindheit, die sie ebenso prägen wie ihre späteren Aufsässigkeiten, und einen Gestaltungswillen, mit dem sie den Dingen um sich herum das ihr gemäße Aussehen verleiht. Es ist bei allem, was sie tut, ein gewisser Experimentalcharakter am Werk, mit dem sie durchs Leben geht. Ohne Vorbehalte, immer rein in die Herrenwelt, schonungsloses Erfahrungmachen, und auch immer gleich wieder weg. Von Ehe und Scheidung erfährt man in einem Satz, scheinbar Bagatellen in ihrem Leben. Diese Frau ist neugierig, ja gierig aufs Leben. „ihre wohnung war sie selbst, und niemand war jemals bis hierher gedrungen. kein telefon, keine adresse, kein briefkasten.“ Namenlos auch sie.

Im dritten Kapitel, „frann“, der Synthese aus „frau“ und „mann“, werden der Mann und die Frau zusammengeführt: Sie finden sich anfangs zu einer belanglosen sexuellen Aktion zusammen. Aus einer Begegnung sexualisierter Körper entsteht die Beziehung zweier Zerflossener, Aufgelöster, die mehrere Leben hinter sich haben. In weiteren Begegnungen der beiden kommt es zu Verletzungen, Erwachsenenspielen zwischen Verliebtheit und der Sucht nach Erniedrigung des anderen. „sie trafen sich, wie alle liebespaare mit erfahrung sich treffen. wie raubtiere, die um die gegenseitige gefährlichkeit bestens informiert sind. offen, selbstsicher, nur keine blößen zeigen, die alle weiteren schritte in eine ungewünschte richtung gelenkt hätten.“ Zum Ende hin wird dieses Verhältnis sehr subtil herausgearbeitet. Gut beobachtet, gut geschrieben, gut gedacht von Peter Giacomuzzi. Ein Text, der sein Alter nicht verrät.  

 


 

 


Birgit Unterholzner, Flora Beriot. Roman
Innsbruck: edition laurin 2010

Mit Birgit Unterholzners Romandebüt, erschienen in der „edition laurin“, gelingt dem neuen Innsbrucker Verlag ein beachtlicher Einstieg. Flora Beriot, die titelgebende Protagonistin, ist Goldschmiedin in Florenz, Tochter von Gabriella und Jakob Beriot, einem berühmten verstorbenen Maler. Auf die Spuren dieses Malers begibt sich Vincent Merz, der vorgibt, ein Buch über Kinder prominenter Menschen schreiben zu wollen, und deshalb Kontakt zu Flora aufnimmt. Was die Autorin in dieser Prosa entwickelt, ist die Familiengeschichte Flora Beriots, ihre Beziehung zum Vater, zur Mutter, zu ihrem Handwerk und zu Vincent, dem Zuhörer.
„Immer seltener vermag ich zu arbeiten. Leblose Materie zu Schmuckwaren fassen. Geringe soziale Kontakte. Was hätte ich außer Goldschmiedin werden können? Geschichtenerzählerin? Vielleicht. Aber es gibt genug Geschichtenerzähler und am Ende kommt es darauf an, wer am glaubwürdigsten erzählt.“ Durch wechselnde Perspektiven wird der Text bereichert, doch vorherrschend bleibt die von Flora: „‚Ich bin voller Geschichten. Gabriella fütterte mich damit.‘“ Das Erzählen der Lebensgeschichte, das Sich-Einlassen auf die Interview-Situation ist Pakt mit dem recherchierenden Vincent. Alles ist in Schwebe, denn Floras Wissensstand, ihre Befindlichkeit strukturiert den Ablauf des Geschehens, ihr Erzählen entfaltet den Plot. Ihre Aussagen sind als direkte Rede markiert und im Präteritum geschrieben. Im Präsens stehen dagegen Floras Beobachtungen, Eindrücke, Empfindungen und Gedanken zur aktuellen Situation, in ihrem Atelier, in der Anwesenheit Vincents. Dazu kommen Kindheitserinnerungen und die aktuelle Interviewsituation, die teilweise Züge eines therapeutischen Gesprächs annimmt. So fügt die Autorin unterschiedliche Splitter zu einem Mosaik zusammen, dessen Stil unaufdringlich, sanft, aber ganz präzise ist. Poetisch aufgeladene Metaphern wie „‚Meine Erinnerung an diese Zeit fühlt sich an wie ein schrecklich nasses Geräusch‘“ und realistische, naturalistische, auf konkreten Beobachtungen fußende Passagen ergeben Empfindungssätze, die das Innenleben der Protagonistin darlegen und Gegenstände sinnlich erfahrbar werden lassen.
Vincent Merz’ Geschichte wird in der zweiten Hälfte des Romans erzählt, seine Herkunft aus einem süddeutschen Dorf, heimlich von einer 16-jährigen Mutter geboren. „Es ist unglaublich, jeder trägt einen unsichtbaren Sack, gefüllt mit Vergangenheit. Dem einen wiegt Geschichte, als schleppe er Pflastersteine, dem anderen, als flögen darin Schmetterlinge.“ Die verschränkten Geschichten von Flora, Vincent und Gabriella kulminieren bei einem Neapelbesuch, wo sie sich anlässlich einer Ausstellung von Porträts Jakob Beriots im Museo lunatico einfinden.
Am Ende entfaltet sich die ganze Schönheit der Konstruktion: Zu Beginn erfährt man Jakobs / Gabriellas Geschichte(n) aus der Perspektive Floras, die die Geschichten ihrer Mutter wiedergibt, ohne zu verstehen, wie sehr diese Erzählungen zurechtgerückte Wahrheiten, erfundene Wirklichkeiten sind. Im Verlauf des Romans erzählt Vincent diese Geschichten noch einmal, anders, nämlich so, wie Gabriella sie ihm vermittelt hat. „Mit siebenunddreißig Jahren finde ich heraus, dass meine Vergangenheit zu einem beachtlichen Teil aus Verheimlichungen und Erfindungen besteht“, muss Flora schlussendlich feststellen.
Die Wahrheit, die Birgit Unterholzners Figuren suchen, ist eine durchs Erzählen vermittelte und zugleich ernüchternde. Ein beachtliches Debüt und ein Lehrstück darüber, was gekonntes Erzählen vermag.   

 


 

 


Heinz D. Heisl, Greiner
Berlin: Dittrich-Verlag 2009

„Du hättest dich niemals darauf einlassen dürfen. Nie und nimmer. Ich atmete durch. Atmen. Atmen. Nie hättest du schreiben sollen. Niemals auch nur eine Zeile. Einatmen. Ausatmen.“ Ein beinahe 60-jähriger Mann, ehemaliger Komponist und Schriftsteller, sitzt einen ganzen Tag lang im „Excelsior Caffé“ in Tokyo und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Wie seinerzeit Thomas Bernhards Schriftsteller in „Holzfällen“ gibt sich in Heinz D. Heisls Roman „Greiner“ die Figur des Konrad Greiner dem Beobachten und Sinnieren hin. Seine Erinnerungen und Reflexionen sind durchmischt mit vom jeweiligen Standort aus getätigten Beobachtungen japanischen Alltagslebens: im Lokal, auf der Straße, von der ihn nur die spiegelnde Glasscheibe des Lokals trennt. Wie bei Bernhard ist die Sprache rhythmisiert, sind die Sätze kunstvoll und kompliziert ineinander verschachtelt, werden die Dinge schonungslos beim Namen genannt, wird die Verdorbenheit und Schlechtigkeit der Menschheit im Allgemeinen und des Erzählers im Besonderen zur Sprache gebracht. Was dem einen Wien, ist dem anderen Innsbruck. So ähnlich ist Heisl dem Bernhard’schen Duktus des Formulierens, dass sich beim Lesen die Frage aufdrängt, was es mit dieser Ähnlichkeit auf sich haben mag. Schöpfen beide Autoren aus den Quellen einer musikalischen Schreiblust, die ihnen einen verwechselbaren Stil aufdrängt?

Greiner ist eine Kunstfigur, eine literarische Gestalt, die sich Bernhard’scher Topoi bedient, stilistisch wie inhaltlich: ausgefeilte Satzperioden, lautlich-musikalisch organisierte Textgewebe, Konzentration auf Komposition und Stil, die Kenntnis der Musik, die Liebe zur Philosophie, alles, was bei Thomas Bernhard vorkommt, entfaltet Heisl mittels Greiner vor unseren Augen und erschafft so eine Figur, die sich aus biografischen Elementen Bernhards ebenso zusammensetzt wie aus Charakteren in dessen Romanen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Parodie. „Scheiße, ein Wort, welches ich niemals schreiben würde, nein…, nein…, Scheiißße, neiin, sonna koto da, niemals, dachte ich, würde ich Scheiße schreiben. Und sollte ich das, was ich soeben denke, aufschreiben, dachte ich weiter, und alles momentan Gedachte und Notierte publizieren lassen, so würde man – nachdem man es gelesen, oder sagen wir, überflogen hätte – zu sagen wissen, dass man das Ganze bereits kenne, solches hätte ja der… und, na ja…, jener also, und, genau so…, und zur Genüge, gütiger Gott, zur Genüge.“

Greiner ist am Ende, sein Existieren ist ein melancholisches Herumtasten. Trotz des Erfolgs, den er sowohl mit seinen Kompositionen wie mit seinem Schreiben verbuchen konnte, traut er seinen Hervorbringungen nicht, hält sie vielmehr für wertlos und hat sich vorgenommen, nichts mehr zu schreiben. Die Konstruktion ist eines Thomas Bernhard würdig: Denn der Text, den wir lesen, ist der von einem Autor namens Heisl geschriebene, jedoch von einer Figur namens Greiner gesprochene bzw. gedachte Text, den genau dieser, Greiner, niemals zur Veröffentlichung freigeben wollte. Fazit: Indem der Autor den inneren Monolog Greiners publiziert, betrügt er seine Figur.

Der Text hat etwas Katholisch-Litaneihaftes, einen Rhythmus, der immer wieder durch kurze Einsprengsel von japanischen Wörtern unterbrochen wird, was ihm eine spröde Fremdheit verleiht, zu der aber auch griechische, lateinische, polnische, englische Sätze beitragen. „Der Komplizenschaft eines Schreiber- und Schreiberinnengesindels und Verleger- und Verlegerinnengesindels ausgeliefert habe ich mich, dachte ich auf dem Hocker, und dachte, dass die Geistesnatur aller Verlegenden, wie auch die Geistesnatur aller Schreibenden, und also naturgemäß auch die meine, die eigene Geistesnatur eine bis ins Letzte hinein verdorbene Geistesnatur sei, eine Geistesverluderung.“ Greiner liebt es, Wortungetüme, monströse Wortkonglomerate zu kreieren („Bergwaldfelsgratgipfelabhänge“), vergisst aber nie zu gendern. Es ist ein radikales, schonungs- und rücksichtsloses, detailgetreues Beschreiben und Beobachten, bis hin zu sexuellen Handlungen, rein deskriptiv. Die Erinnerungen an seine Biografie, seine Familie beschäftigen Greiner, vor allem die Erniedrigungen, die Qualen seiner Vergangenheit. „Wie meinte doch B: ‚Im Grunde existiert nur, was uns gequält hat.‘ Die Wohnung in Saggen habe ich dann gekauft, um meine Ruhe zu haben und um mich, wie ich heute weiß, einem anderen Betrieb und einer anderen mit diesem Betrieb verbundenen Verzweiflung entgegenzuschreiben.“

Heinz D. Heisl lässt mit Greiner 20 Jahre nach dem Tode Thomas Bernhards eine bernhardeske Kunstfigur erstehen, und wirft mit ihr einen „bernhardesken“ Blick auf das aktuelle Zeit- und Literatur(betriebs)geschehen. „Greiner“: Das ist eine letztlich gelungene Hommage, die sich auf sehr schmalem Grat bewegt und bis zum letzten Satz nicht abstürzt. Trotz einer scheinbar durchschaubaren Offensichtlichkeit birgt dieser Text ein Geheimnis, das er nicht freigibt. Bis zum Schluss.   

 


 

 


Markus Köhle, Bruchharsch

Innsbruck: Skarabäus 2009

„Bruchharsch“ verweigert sich einer einfachen Kategorisierung. Die drei Teile, „firn“, „harsch“ und „sulz“, unterscheiden sich voneinander fundamental und stellen damit die Vielseitigkeit Köhle’schen Schreibens unter Beweis. Setzt sich der erste Teil vorwiegend aus einer Ansammlung disparatester Texte zusammen, präsentiert der zweite eine dialogische Struktur, während der dritte sich konventionellen Erzählschemata annähert.

„firn“ beginnt als fleurale Dichtkunst, ein lockeres, luftiges, aufgrund der fleuralen Deskriptionen beinahe duftendes Schreiben. Hier bringt sich ein ICH in Beziehung: zur Welt und zu anderen, hier stiftet Sprache ein Beziehungsgeflecht – auch zur Tradition: eine Dichtung, die die Reflexion über ihr Metier ins Dichten integriert, dabei aber durchaus selbstbewusst-ironisch verfährt. „Rezept: Als Dichter musst du aus dem Sozialen Ästhetisches rauspicken und dies dann klischeefrei hochwürgen. Ein Dichter ist also Umweltpicker und Wahrheitswürger. Besser als Hühnerficker und Spießbürger.“ Was folgt, sind Gedankenströme, Erinnerungen, Kommentare, Kalauer, Selbstgespräche. „Wer Lausbubenstreichkäse verschmiert, muss kein Radaubesetzer sein.“ Das Spiel mit zusammengesetzten Mehrsinnwörtern droht überhandzunehmen. „Schwachsinn, ich weiß.“, kontert das Ich selbst am Ende einer Aufzählung parodierender Liebesvergleiche. Selbsterkenntnis ist dem Autor nicht abzusprechen, und er setzt sie geschickt ein. Ebenso den Nonsens, denn der von Köhle produzierte Unsinn hat einen schönen Klang und einen stimmigen Ton. „Heute geht’s ganz gut Hut ab und zu muss man an den Wänden rütteln.“:  So reihen sich persiflierte Sprichwörter und Sinnsätze an verballhornte Lebensweisheiten.

Eine weitere stilbildende Ebene stellen Zitate dar: Rilke, Schwab, Schuh, Wittgenstein, Heidegger, Céline, Sontag, Beckett, Chamfort, Kant, Deleuze/Guattari, Rimbaud. Es darf vermutet werden, dass die zitierten Autoren Bezugspunkte darstellen, als Gefährten der schreibenden Zunft, auch wenn sich die Texte dann doch nicht mit dem Zitierten befassen. Die Zitate selbst, so wie sie in das Textgeflecht eingefügt sind, stehen isoliert und vereinsamt da, wie Inseln in einem See von Wörtern, da findet keine Auseinandersetzung mit den zitierten Autoren und deren Gedanken statt. Aber so präsentiert sich „firn“ insgesamt: Textbausteine werden gesammelt und montiert, wobei der Text rhythmisch zu lesen ist.

Der zweite Teil („harsch“) ist formal „dialogisch“ aufgebaut, ein Zwiegespräch, aber es ist deshalb nicht leicht verständlich, trotz Zuruf: „– Drück dich nicht vor Ausdrucksklarheit, bemüh dich, verstanden zu werden.“ In diesen „Zwiegesprächen“ stellt einer Fragen, auf die sinnfreie „Antworten“ folgen. „Ich habe ein Galgenhumorgen in mir. Wenn man so will, könnte man auch Dummheiterkeit sagen.“ Quelle für den zu produzierenden Sprachsondermüll ist alles, wo Sprache anzutreffen ist: Reklame, TV, Zeitungen, Prozessberichte, Splitter aktueller Politik, Namen, Wissen aller Art, biologische, philosophische, religiöse, literarische Kenntnisse: Aus all dem werden Wörter extrahiert, zerlegt, neu angeordnet und ein „Dialog“ konstruiert, der aber nicht wirklich ein Dialog ist, sondern eine Montage zweier oder mehrerer oder (un)endlicher Monologe. Köhle lässt eine Sprachmüllmaschine arbeiten, die durchaus mit aufblitzenden Einsichten aufwarten kann.

Der dritte Teil („sulz“) präsentiert sich völlig anders. Mit den hier aufgenommenen Erzählungen führt Köhle seine eigene Art Erzählkunst vor. Amüsant-deprimierend zu lesen etwa die Leiden eines werdenden Autors, der sich um Publikationsmöglichkeiten bewirbt, als Kreuzwegstationen inszeniert. Mit dem letzten Satz des Buches schlägt Köhle eine beliebte postmoderne Volte, indem er das Ich von „Todesdienst“ das Buch „Bruchharsch“ schreiben lässt. Immerhin: Köhles Schreiben fügt sich parodierend, teils widerstrebend, letztlich doch selbstbewusst in die Tradition literarischen Schreibens ein und setzt sie auf eigenwillige, amüsante, originelle und konstruktive Weise fort. „Ich bin Freelancer des Geistes. Ich bin für das Protowirsche und das Metabarsche oder auch für das Kryptowirsche und das Semibarsche. Hauptsache halbwegs hermetisch.“   

 


 

 


Bernhard Aichner, Schnee kommt
. Roman
Innsbruck–Bozen–Wien, Skarabaeus 2009 

Mit Valentin, einem LkW-Fahrer, der seine geliebte Frau unabsichtlich tötet, fängt alles an:
„Sie lag im warmen Wasser. Ihre Augen weit geöffnet, zu einem Schrei auseinandergerissen, reglos trieb sie in der Wanne, kleine, unscheinbare Wellen auf der toten Haut. Ihr Kopf untergetaucht, die Haare wild durcheinander, das einzige, das sich noch bewegte. Valentins Frau war tot.“

Im neuen Roman „Schnee kommt“ von Bernhard Aichner begegnen einem Unfälle und Unglücksfälle aller Art. Doch Unglück und Glück sind nicht weit voneinander entfernt. So wie Valentin seine Frau geliebt hat, lieben oder liebten sich Melih und Dina, Suza und Maurice, Uschi und Bertram, Ruben und Lisbeth. „Schnee kommt“ führt diese und weitere Figuren an einem Ort in einer Nacht, in der es zum ersten Mal in jenem Winter schneit, schicksalhaft zusammen.

Die kurz gehaltenen Kapitel tragen stets den oder die Namen jener Protagonisten, deren Geschichte darin erzählt wird. Die erwähnten Figuren bewegen sich eine Passstraße hinauf, auf einen Tunnel zu, vor und in dem sich etwas ereignen wird, das ihr aller Leben radikal verändert. Es handelt sich um Miniaturen, um short cuts über deren Vorleben und über ihre Situation jetzt. Die Konstellation der ersten Geschichte ist dabei exemplarisch für den Roman. Zumeist handelt es sich um eine glückliche Zeit, die zu Ende geht, die jäh zerstört wird. Es geht um Sterben, Tod und verhindertes Glück.

Aichners sinnliche Sprache lebt von variierten Wiederholungen, sie ist stark rhythmisiert, einzelne Satzteile kommen immer wieder, bis zur Aufdringlichkeit, vor. Dabei wird einfühlsam, eindringlich und anschaulich beschrieben, was die Figuren denken, wünschen, hoffen, was sie fühlen, die Ambivalenz ihrer Gefühle. Oft sind sie mit ihrem Leben unzufrieden, sie wagen Ausbruchsversuche aus eingefahrenen Situationen. Gefühle werden mit Sinnesempfindungen kombiniert („Er regte sich nicht. Lange blieb er so stehen, roch seine Angst.“), was leichte Verfremdungseffekte hervorruft, aber der Autor geht sorgsam genug damit um. Da wird nichts ausgespart, das kurze Glück, das lange Leiden. Schmerzen, Blut und Sperma. Und alle haben ihre Verletzungen und Wunden, physisch, psychisch. Subtil beobachtet sind Gesten, die Gefühle beschreiben, atmosphärische Stimmungen, Zorn, Gleichgültigkeit; auf diese Weise entsteht ein Panoptikum gescheiterter Lebensentwürfe. „Nichts mehr war übrig. Kein Stück Glück, keine Aussicht darauf.“

Aichner gibt den Autor als Demiurg, der Figuren erfindet und sie wie auf einem Schachbrett herumschiebt. Die Charakterbilder sind, vielleicht abgesehen vom „Zyniker“, der etwas zu konstruiert daherkommt, lebendig und gelungen. Allmählich beginnen sich die Geschichten zu verschränken. Trotz der zum Teil haarsträubenden Schicksalsschläge, von denen die meisten der Protagonisten getroffen werden, erscheinen die Geschichtsverläufe nicht absurd oder unglaubwürdig. So manch eine Querverbindung stellt sich erst im Verlauf der Lektüre als solche heraus – und sorgt dann für Überraschung.   

 


 

 

Kai Roßmann, Wiederholte Störungen. Gedichte
Bilder: Helmut Ascher
Innsbruck: Berenkamp 2006
  

2006 kam im Berenkamp-Verlag der Band „Wiederholte Störungen“ mit Gedichten von Kai Roßmann und Bildern von Helmut Ascher heraus.

Die Themen sind im Grunde die Banalitäten des Alltags. Kurz-Phantasien und Sekunden-Träume eines Beobachters, der von konkreten Szenen ausgeht. – So betritt zum Beispiel in Gedicht Nr. 35 eine Person einen Bus auf Kreta, es ist ein Reiseleiter, der phantasiert, wie Touristen am Strand vom Minotaurus gemetzelt werden. – Und diese Szenen werden dann verfremdet, in surreale Entitäten aufgelöst, sodass am Ende das seltsame Gefühl einer Verfremdung übrigbleibt. Dabei ist den Gedichten eine gewisse Selbstverliebtheit nicht abzusprechen, eine gewisse Eitelkeit, die sich am Klang der aneinandergereihten Wörter berauscht, die einfach so vor sich hin purzeln, sich dem Verständnis aber verweigern.

Und es zeigt sich rasch: Es handelt sich um Grenzbereiche, die in den Texten evoziert werden. Grenzen zwischen Leben und Tod, Gesundem und Krankem, der Normalität und dem Wahnsinn. Letzterer aber fügt sich einer strengen Ordnung. Roßmanns Gedichte sind von 1 bis 81 durchnummeriert, das Inhaltsverzeichnis übernimmt zumeist als „Titel“ jeweils die ersten Worte einer Zeile. Auch lassen seine Gedichte eine angenehme Sprachmelodie erkennen, Binnenreime, selten Endreime strukturieren ihr melodiöses Geflecht. Der vollständige Verzicht auf Interpunktion bewirkt, dass auch jedes Ende, jeder letzte Satz ins Offene strebt.

Es entsteht der Eindruck, dass sich diese Lyrik selbst genügt: Braucht sie einen Leser? Die absurden Kombinationen und surrealen Szenarien beleuchten psychisches Grenzgängertum: Anstaltsszenen, die an Psychiatrisches gemahnen, wie etwa in Nr. 16, „Ziemlich krank“: „Scheiß auf die Wände / schmier die Mauern voll / bevor die Wärter kommen sing ein Lied / am Ende wandere im Karussell / …“ Gerade wenn es um Krankheitsmetaphern – psychischer wie physischer Natur – geht, scheint der Autor in seinem Element zu sein. Da gelingt es, etwa Fieberschübe von innen her darzustellen, da evoziert Nr. 37 selbst das Fieber, ohne in einer rein äußerlichen Beschreibung steckenzubleiben. Lebendig, man möchte fast sagen: authentisch wird es eben dann, wenn es gelingt, in die Innenschau eines Phänomens vorzudringen, wenn der Sprachklang vom Inhalt gedeckt wird. Und so halten sich die manieristisch-konstruierten Elaborate mit den gefühlt-empfundenen die Waage.

Nicht absprechen kann man den Gedichten zudem einen gewissen Hang zum Morbiden, auch Aggressiven, so in Nr. 48: „… / und ich lauf weg / spring über Friedhofsmauern / und finde dich in einem Mückenschwarm / und rücksichtslos / küsse ich deinen Mund / zu Schrott //

Den leicht unterkühlten Stimmungen der Gedichte entsprechen auf subtile Weise die Bilder von Ascher, die von einer kühlen Farbigkeit geprägt sind. Kubische Formen in einer verhaltenen Chromatik. Weder illustrieren diese Malereien die Texte von Roßmann, noch nehmen die Gedichte auf die Bilder Bezug. Beide koexistieren in ein- und demselben fragilen Grenzraum.   

Druckversion: http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/tirol/rezensionen/braitenthaller.html | gedruckt am: 17.09.2014