Rezensionen von Florian Braitenthaller
- Judith W. Taschler,
- Irene Prugger,
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In seinem jüngsten Buch „Sieben“ erzählt Otto Licha die Geschichte zweier Freunde, von ihrer Kindheit bis zum Mannesalter. Der eine, Alessandro, begabt, intelligent, erfolgreich, der andere, Maximilian, durchschnittlich, psychisch krank und untalentiert. Alessandro weiß schon als Kind, dass er Bankdirektor werden will, und verfolgt dieses Ziel mit einer unbeirrbaren Strebsamkeit. Seiner Umgebung nötigt er für sein mit Leichtigkeit geführtes Leben Bewunderung ab. Das Erlernen von Sprachen, Fußballspielen, das Lösen von Sudokus, die Schule, das Studium – all das gelingt ihm ohne jede Mühe. Maximilian dagegen verbringt sein Leben stets einen Schritt hinter oder neben Alessandro. Dieser Freundschaft zuliebe verzichtet Alessandro darauf, in die Jugend-Mannschaft von Manchester United einzutreten, was dem Talentierten angeboten wurde. Aus einem gemeinsamen Trainingslager rührt seine Bekanntschaft mit den späteren Fußballgrößen Paul Scholes, Steve Gerrard, Ryan Giggs und Nani. Nur was das Heiraten und Familiengründen betrifft, ist Maximilian Alessandro einen Schritt voraus. Von dieser Zweier-Grundkonstellation ausgehend, entwirft der Roman ein Kaleidoskop skurriler Einfälle und Begebenheiten. In die Lebensgeschichte der beiden mischen sich deren Eltern, die teils schablonenhaft gezeichnet sind. Alessandros Mutter zum Beispiel kann als überzeugte Deterministin nichts aus der Ruhe bringen, was litaneiartig in Sätzen wie „Alles sei vorherbestimmt“ wiederholt wird. Wie ein Magier und Jongleur nimmt der Autor Ideen auf, wirft sie in die Luft und fängt sie neu geordnet wieder auf. Alessandros Erfolgsgeschichte führt ihn nicht nur nach Manchester, sondern als Bankdirektor genauso in die Finanzmetropole Frankfurt am Main, wo ihm in Gestalt einer Anhängerin der Occupy-Bewegung die Liebe begegnet. Seelenverwandtschaften stellen sich ein, sowohl mit einem japanischen Finanzguru wie mit einer österreichischen Bundespräsidentin. Die inzwischen reich gewordenen Jugendfreunde von Manchester United fungieren als Sponsoren seiner Bankenidee. Ein geheimnisvolles Buch mit dem Titel „Parallelstruktur“ begleitet Alessandro bei all seinen Unternehmungen. Die Ereignisse nehmen einen parallelen Verlauf. Gesundheit und Krankheit, Österreich – Deutschland, Nord- und Südtirol, Manchester United und Wacker Innsbruck, Bankensektor und Protestbewegung Occupy. Dieser Text ist auf der Höhe der Zeit und an Aktualität kaum zu überbieten. Erzählt wird äußerst humorvoll und beschwingt, in einem angenehmen, flotten Rhythmus. Das Leben, die Ereignisse purzeln dahin. Zwischen all dem Gebälk der geistreichen Konstruktion bleibt noch genügend Raum für allerlei ironische Seitenblicke auf zutiefst österreichische, im Besonderen tirolerische Belange. Zum Beispiel auf den Umgang Österreichs mit bestens ausgebildeten Migranten: „Als die Hürden nur mehr eine Ausreise aus dem Land zur Wahl stellten, heirateten Pilar und Maximilian. Nun mussten die beiden dem österreichischen Staat nur mehr beweisen, dass hier Liebe und nicht reine Zweckmäßigkeit als Ehegrund vorhanden war. Dieser öffentlich gehaltene Liebesbeweis gelang, als Carmen geboren wurde. Andererseits wurde so die Fortsetzung von Pilars Architektenkarriere wieder aufgeschoben.“ Oder das schwer zu durchschauende Politsystem, in dem unsichtbare Fäden gezogen werden. „Auch war es in Tirol noch niemandem gelungen, die Macht bloßzustellen, damit alle sie sehen konnten. Es wollte ohnehin niemand die Macht sehen. Alessandro wähnte sich schon in Berührung mit ihr, da seine Vorgesetzten ihm in einer Sitzung bereits das Ende seiner Bankenidee vor deren Verwirklichung ankündigten. Die Idee sei so alt wie der Mond und schon längst verwirklicht.“ Im Verlauf des Romans wird Alessandro noch einmal mit dieser „Macht“ konfrontiert, als es darum geht, ein für Innsbruck revolutionäres Verkehrsprojekt auf Schiene zu bringen. „Innsbruck ist, was den Verkehr betrifft, die dümmste Stadt der Welt“, sagt Martin Flatscher, der eine Idee hat, die Alessandros Bank sponsern soll. So mangelt es nicht an gezielten Seitenhieben auf bestehende Verhältnisse wie auf Menschliches, Allzumenschliches: „Wieder wird bei den Menschen gespart, wieder macht man sie arm, wieder ‚muss jeder seinen Beitrag leisten‘. Und draußen herum wird nur Unsinn produziert, dafür geworben und gequatscht.“ Den Anstoß zu diesem und neun weiteren Buchprojekten gab die Hypo-Bank-Tirol, die zur 111-Jahr-Feier ihres Bestehens auf die Idee verfiel, zehn Romane zu fördern. Was in vorliegendem Fall wie ein Auftragswerk aussieht, unterläuft mit viel Ironie die Bedingungen seines Entstehens. Realität und Phantasie vermischen sich auf originelle Weise in einer erstaunlichen Leichtigkeit. Letztlich gelingt dem Autor das Bravourstück, eine Geschichte, die sich aus Fiktion und Realitätsfragmenten zusammensetzt, so plausibel zu montieren, dass man dem Fortgang der Story bis zur letzten Seite in einem Atemzug zu folgen bereit ist. |
Bereits 2011 ist im Bozener Verlag Edition Raetia ein Roman von Renate Scrinzi erschienen, der es allemal verdient, bekannt gemacht zu werden: „Und Emilio lächelt“. Er beginnt mit einem Zitat von und einem Hinweis auf Emil Zátopek (1922-2000), einem siegreichen tschechoslowakischen Langstreckenläufer, der sich während des Prager Frühlings verdient gemacht hat – eine erste historische Verortung. Darauf öffnet sich ein Rahmen um die Figur des Emilio, der sich 2001 auf einer Reise befindet, deren Ziel er nicht kennt und die am Ende des Buches wiederaufgenommen werden wird. Es folgen Tagebucheinträge eines deutschen Offiziers aus den Jahren 1942-1943, der Emilios Erzeuger genannt wird. Erst dann setzt unter dem Kapitelnamen „Anfang“ die Erzählung um Emilio selbst in vier Teilen ein, beginnend mit seiner Geburt 1945. Ein Junge, der ohne Vater aufwachsen wird, denn niemand außer seiner Mutter Angelina wird jemals wissen, wer sein Vater ist. Emilio ist ein Kind der reinsten Liebe, mit einem Merkmal ausgestattet, das ihm Herzen zufliegen lässt und ihm seinen Kosenamen „Sole“ einbringt. „Er kann sein Lächeln anknipsen, wenn ihn etwas überrascht. Spontane Freude zum Beispiel. Dann wieder knipst er es plötzlich und unerwartet aus. Die Welt hat keinen Anfang. Die Leute keine Ahnung. Da wird es dunkel und er selbst ist nicht mehr da. Nur wenn er lächelt, ist er da. Flüchtiger Moment des Glücks ohne fremde Zutaten.“ Wenn Emilio lächelt, wird es hell. „Ganz nach innen geht es dann, dieses Lächeln, und Soles ganze Gestalt taucht darin ein.“ Dieses Lächeln erleuchtet Räume und Menschen, aber er „macht“ nichts Besonderes daraus, es scheint fast unabhängig von ihm zu sein. Emilio wächst bei seiner Mutter, den Großeltern und Onkel Aldo in der Toskana in einem Ort nahe am Meer auf. Als er fünf Jahre alt ist, zeigt Aldo ihm das Meer: eine Entdeckung und „Liebe auf den ersten Blick“. Dabei kommt es zu einer Epiphanie: „Über die Stufen hinab stolziert ein Mädchen. Ein Mädchen in einem weißen Kleid, barfuß, das weiße Handtuch hält es mit beiden Händen an den Oberkörper gedrückt. Emilio schaut. Ihm scheint, als ginge ein eigenartiges Licht von dem flatternden Kleid aus.“ Es ist ein magischer Moment, der nur im Blick erfolgt und für immer bleibt. 1967 heiratet Emilio Gertrud, eine deutsche Dolmetscherin, in der Marienkapelle, jenem Ort, an dem er gezeugt wurde. Mit seiner Frau zieht er nach München, Zwillinge werden geboren, er ist unglücklich. Als die Kinder 16 Jahre alt sind, bricht er zusammen, verlässt seine Familie und macht sich auf den Weg zurück nach Italien. Bei einem Sturz verliert er sein Gedächtnis, setzt jedoch die Reise fort, getrieben von der Sehnsucht nach dem Meer. In Marseille begegnet Emilio einem, der ihn kennt und zurück zu seinem Geburtsort Massa bringt. Dort, am Hafen, wartet die engelhafte Erscheinung vom ersten Tag am Meer, inzwischen 60 Jahre alt. Ein Kreis schließt sich. Was an dieser Auf- und Nacherzählung vordergründig bedeutsam scheinen mag, Emilios Herkunft als einem Spross aus der Verführung eines italienischen Mädchens durch einen deutschen Soldaten gegen Ende des II. Weltkrieges und seinem Schicksal als vaterlosem Buben im Nachkriegsitalien stellt sich für die Erzählung als marginal heraus. Und obwohl die Ereignisse zeitlich verortet werden, scheinen diese Zeitangaben nicht von Belang zu sein. Was jedoch deutlich wird, ist ein Spiel mit Korrespondenzen, das hier aufgenommen wird. Das reicht von der Namensähnlichkeit Emils mit Emilio über den Beruf des deutschen Offiziers, er ist Dolmetscher, mit der späteren Frau Emilios, bis zu deren deutscher Herkunft. Die Geburt der Zwillinge macht die Verdoppelung buchstäblich. Erzählt wird eine Lebensgeschichte, die pränatal beginnt. Auch eine Geschichte der reinen, ewigen Liebe, die durch äußere Unstimmigkeiten nicht beschädigt werden kann. Über das Lächeln kommuniziert Emilio rein mimisch mit der Welt und pflanzt so die Liebe des Mädchens Angelina fort. Die „Handlung“ wirkt in der Nach-Erzählung banal, so banal wie jedes x-beliebige Leben. Wichtiger als Handlungen und Taten ist die Innenschau, sind poetische Erkundungen. Die Sprache, in der all das erzählt wird, sucht ihresgleichen. Sie erreicht stellenweise eine Abstraktheit, die für erzählende Texte ungewöhnlich wirkt. So pendelt der Stil des Romans zwischen lyrisch-poetisch, abstrakt und genau beschreibend. Über die Lust an der Sprache gewinnen die Welt und das Leben eine Kontur. Selten wird die Tatsache, dass ein Text etwas „Gewebtes“ ist, so deutlich wie in diesem Buch. Die Sprache arbeitet, sie bringt die Figur Emilio zum Leben, wo vorher nichts war, lässt ihn entstehen. Scrinzi durchdringt damit die Figuren, taucht in sie ein, leuchtet sie aus, macht sie durchscheinend, belässt ihnen aber ihr Geheimnis. Dies erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen will. Am Ende kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, ein zauberhaftes Märchen gelesen zu haben. |
In der Novelle „Trans-Maghreb“ lässt Hans Platzgumer das Erdbeben in Japan und den „Arabischen Frühling“ Revue passieren, mithin die ersten Monate des ereignisreichen Jahres 2011. Selten ist Gegenwartsliteratur so nah am aktuellen Weltgeschehen. Selten reflektiert sie die Medien, die uns dieses Weltgeschehen via Bildschirm in die Wohnzimmer liefert. „Die Welt geht unter, wird mir vermittelt. Fukushima brennt. Und Libyen, mein Lebensmittelpunkt der letzten Monate, zerbricht. Und ich chille auf der Couch und genieße mein Goldfassl.“ Das Zeitgeschehen wird über die Perspektive eines Beteiligten vermittelt, dessen hervorstechendes Merkmal Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit ist. So erfährt man außer den ohnehin bekannten Fakten, die über die BBC verbreitet wurden, nichts, und auch wenig über die Befindlichkeit eines 38-jährigen Muttersöhnchens. Auf indirektem Wege zeigt sich in dieser Gestalt das Exemplar eines gewöhnlichen, einsamen Zeitgenossen, der selbst im Auge des Taifuns blind und taub ist für die ihn umgebenden Turbulenzen. Ein namenlos bleibendes, erzählendes Ich: Tiefbauingenieur, wohnhaft in Wien, Angestellter einer international tätigen Firma. Er soll den Bau einer Eisenbahn (die „Trans-Maghreb“) für den „Spinner“ Muammar al-Gaddafi vorantreiben. Während der Arbeiten an diesem Projekt bricht die Revolution in Libyen aus, von der der Ingenieur und seine Kollegen nur peripher etwas mitbekommen. Obwohl sie in der Nähe von Gaddafis Geburtsstadt Sirte, jener bis zuletzt umkämpften Festung seiner treuesten Anhänger, stationiert sind, registrieren sie die vor sich gehenden Veränderungen nicht. Erst als ihr Lager, das voller Gastarbeiter ist, eingezäunt und zu einem Internierungslager umfunktioniert wird, Lebensmittel und Wasser knapp werden, entwickeln sie ein Bewusstsein für ihre aktuelle Lage. Doch die eigentliche Hauptfigur ist der Bauträger Anton Corwald, ebenfalls Österreicher. Diese Figur, von der die Arbeiter inklusive Ich-Erzähler so gut wie nichts wissen, außer dass er ihr Boss ist, bleibt bis zuletzt ein mysteriöses Individuum. Verstrickt in allerlei Machenschaften, gelang es ihm, der Erzählung zufolge, ein weltumspannendes Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten aufzubauen. Corwald wird zur Schlüsselfigur des internationalen Handels stilisiert, dem schließlich sogar die Organisation der NATO-Hilfe für die in Libyen eingeschlossenen Ausländer anvertraut wird. Bewundernd blickt der Erzähler auf, wenn es um den Bauträger geht. Der versteht es Macht auszuüben, der ist das genaue Gegenteil von ihm, sein Antipode: weltgewandt, einflussreich, phantasievoll. „Ich kann mit Menschen nicht kommunizieren, jonglieren, wie Anton Corwald es kann. Ich kann mich nicht mit ihnen zusammensetzen, plaudern, verhandeln, Geschäfte machen, wie er es tut.“ Während der Ich-Erzähler seine Freizeit vor dem Fernseher verbringt, umsorgt von seiner Mutter, ist es Corwald, der sich engagiert zeigt, dabei aber undurchschaubar bleibt. „Wenn Sie meinen, dass Sie Libyen kennen, dann müssen Sie wissen, dass Sie nur den äußersten Rand dieser Unendlichkeit gesehen haben. Die Einheimischen wissen, dass das Meer im Norden und die Wüste im Süden ein bodenloser Abgrund sind, über dem sie sitzen. Was immer sie da hinunterwerfen, verschwindet.“ Die Erzählstruktur folgt einem klaren Aufbau. Die im Präsens gehaltenen Passagen berichten vom Aufenthalt in Wien, nachdem der Erzähler das Job-Abenteuer überstanden hat. Dazwischengeschnitten sind im Präteritum erzählte Passagen von der Zeit in Libyen. Aber was ist das für ein Mensch, der diese Erlebnisse vor seinem geistigen Auge wie einen Film ablaufen lässt? Viel erfährt man nicht über ihn. „Ich war in die Wüste geschickt worden, um die Ausführungsplanung vor Ort zu überwachen. Da half kein Jammern über Straßenrowdys, die ihre Cola-Dosen aus dem Fenster warfen. Ich hatte mich mit langen Monaten in der Wüste abzufinden, bis dieser Job erledigt war, oder zumindest, bis meine Firma Erbarmen mit mir hatte und einen anderen schickte, der mich ablöste.“ Die Mentalität des Landes, die Menschen und ihre Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten bleiben ihm fremd, auch das Feilschen um Preise ist ihm zuwider. Jede Reise in, jeder Gedanke an seine Heimat ist ihm lieber als Libyen. „Was war ich froh gewesen, wieder zurück im Abendland zu sein, wo es Schweinefleisch, Bier und Frauen gab.“ Er verhält sich wie ein Ignorant, als der er letztlich dargestellt ist. Erzählt wird routiniert, wenn zum Beispiel der Erzähler höchst anschaulich in einem Taxi durch die libysche Wüste chauffiert wird. Als sich die Ereignisse zuspitzen, wird der Erzählrhythmus atemlos. Dass die Figur des Bauträgers Corwald blass wirkt, ist wohl der Perspektive des erzählenden Ichs geschuldet. Revolutionen, die ein ganzes Land und die Welt erschüttern, bleiben wie das Erdbeben in Japan mit seinen verheerenden Folgen für diesen Gelangweilten des 21. Jahrhunderts eine Meldung in den Medien. |
„Auf dem Stein unterhalb des Kreuzes sitze ich, um zu denken, um mich zu erinnern, Geheimnisse aus alter Zeit hervorzukramen, die mir scheinbar ohne Grund entfallen sind.“ Die Erinnerungen Otto Lichas, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen lassen, sind von einem doppelten Rahmen zusammengehalten: der Besteigung seines Hausbergs, von dem aus sich ein wunderbarer Blick auf Innsbruck eröffnet, und dem gemeinsamen Abendmahl mit vier Freunden. Was sie in ihrer Jugend zusammengebracht hatte, war die MK, die „Marianische Kongregation“, ein Jugendzentrum. Der doppelte Rahmen wird gespiegelt von einer doppelten Anrede des Ich-Erzählers an ein „Du“: Dadurch erhält der Roman den intimen Charakter eines Tagebuchs oder Briefes. In den 1960er und 70er Jahren war der Katholizismus auch in Österreich zu einer Kraft geworden, die ein revolutionäres Potenzial in sich nicht länger leugnen wollte. Engagement, Kritik, Selbstständigkeit waren durchaus vereinbar mit einer Kirchenführung, die im II. Vatikanischen Konzil die Öffnung zur Welt propagiert hatte. Um sich dies zu vergegenwärtigen, braucht der Autor/Protagonist den distanzierten Blick von oben. Die Vogelperspektive ist zugleich eine Metapher für die weite Strecke zurück in Lichas Vergangenheit. „Wer einen Traum antritt, weiß nie, wie er endet, was dabei herausspringt. Er nimmt den Traum in beide Hände und lässt sich von ihm ziehen. Nicht, dass er keinen Plan hätte, die Richtung bestimmend, aber der Plan ist nicht das Ziel, denn dieses torkelt vor ihm her und zieht, einmal hierhin, einmal da.“ Pater Kripp war Jesuit, einer, der sich für die Anliegen der Jugend engagierte. 1959 übernimmt er das Innsbrucker Jugendzentrum und baut es im Lauf der Jahre zum größten in Europa aus. Sein unorthodoxer Ansatz bringt ihn jedoch in Konflikt mit den Kirchenoberen, bis er 1973 abgesetzt wird und nach seinem Ausschluss aus dem Orden 1984 sein Betätigungsfeld nach Nicaragua verlegt. „Engagement“ ist sowohl für Kripp wie für den Protagonisten des Romans ein zentraler Begriff. Der Jesuit wird für viele Jugendliche zu einem Erzieher der besonderen Art. Er „wurde anders durch uns, die Erzogenen, die Gezogenen, die Gemaßregelten, die in die Schranken Gewiesenen. Er ließ von den Normen ab, schob sie beiseite und warf sie in den historischen Abgrund. Der Kripp ließ sich durch uns, die dummen Spät- und Neugeborenen, umerziehen, weil er erkannte, dass man Erfahrungslose ausreden lassen muss, damit ein neuer Gedanke, eine neue Dimension Besitz ergreift von der Weltgeschichte.“ Wesentlich für den Erzähler ist es, seine eigene Geschichte als untrennbar verknüpft mit jener der MK zu erzählen, eine Jugend im katholisch geprägten Tirol. Kripp war für den Erzähler ein Ermöglicher, jemand, der gewähren ließ und Vertrauen hatte in jugendliche Ideen, und die MK war der Ort dafür. „Der Kripp! Er unterstützte alles vom Basketball bis zum Film, vom Literaturkreis bis zum Theater. (…) Solange sich etwas der Allgemeinheit unterordnete und ihm schien, es würde derselben gut tun, förderte er die Beschäftigung damit, ohne sich um die genauen Inhalte zu kümmern.“ Vorherrschende Grundstimmung ist Melancholie. Im Ton des Abschiednehmens gießt ein Autor seine Lebenserinnerungen in ein Gedächtnisbuch mit dem Ernst der Verantwortung für die nächste Generation, mit einer durchaus frohen Botschaft, die in erzählerische Episoden transformiert ist. Immer wieder werden die berührenden Erinnerungen unterbrochen von mantraartigen, leitmotivischen Wiederholungen, die beruhigen, gleichzeitig intensivieren und dabei litaneihaft wie ein Rosenkranz klingen. Bei all dem geht es gar nicht so sehr um Kripp selbst, sondern um die Erlebnisse des Erzählers, und wie Kripp mit seiner Maxime: Phantasie und Engagement sein Leben beeinflusste. Exemplifiziert an der Biografie des Ich-Erzählers, wird der immense Einfluss des Katholizismus auf sämtliche Lebensbereiche deutlich, aber auch der Versuch, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. „Links, rechts, Mitte: alles gab es in der MK. Es wurde keine Richtlinie des Guten ausgegeben, nur nachdenken sollte man.“ Allerdings war dieser Geschichte ebenso wie „dem Kripp“ das Scheitern eingeschrieben: „Was ein echter Tiroler ist, lässt sich jedoch nur schwer aus der Vergangenheit, also aus der Geschichte ableiten; nur aus dem Berg und aus der Sehnsucht, den Horizont endlich konvex zu begreifen wie einer, der sein Leben lang über das Meer blickt. Mein Berg aber ist inzwischen auch schon zur Gewohnheit geworden. “ Zum Schluss hält der Erzähler in einem Brief an seinen Sohn ein Plädoyer für Engagement und die heutige Jugend, die gegenwärtige technische Möglichkeiten wie social networks effizient nutzen soll, um den Weltfrieden zu fördern, soziale Ungerechtigkeit anzuprangern und die Mächtigen in die Schranken zu weisen. „Kripp“ ist eine Hommage an den großen Unsichtbaren des Romans, der aus dem Hintergrund die Fäden zog, indem er sie nicht zog. |
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Mit Peter Giacomuzzis „frann“ legt die Zirler Edition BAES eine Prosa auf, die 1999 unter dem Titel „mannfrau“ als e-book erschienen war. „mann“, „frau“ und „frann“ – das sind die drei Kapitel der so genannten „novela“. Abwechselnd wird hier aus der „er“- bzw. „sie“- und „ich“-Perspektive erzählt, was zu einer komplexen Verschränkung der schwer fassbaren Figuren im Kopf des Lesers/der Leserin führt. Der Ort, an dem sich die erzählende Stimme von „mann“ aufhält, ist ein Gasthaus, die Zeit unbestimmt. „eigentlich müsste ich schon längst krepiert sein, eigentlich bin ich schon lange zugrunde gegangen.“ Was diese Figur von sich gibt, ist eine verbal-aggressive Attacke gegen den Zustand der Welt. In seinem Räsonnieren erscheint die Familie als trostlos, sie gibt keinen Halt, alles ist ein Gegeneinander der Geschlechter. „mann und frau, das ging nicht mehr zusammen.“ Die Arbeit ist unbefriedigend und bedeutungslos, der tägliche Gang ins Gasthaus eine lustlose Gewohnheit. Unbemerkt von den anderen löst sich dieses „ich“ / „er“ auf, „fließt“ zu Boden. „die gedanken existierten alleine, die sprache ohne worte, das fleisch ohne formen.“ Diese Figur fühlt sich nicht. Und langsam wird klar: Es ist ein alltägliches Leben, das sich schonungslos ausspricht, mitsamt dem Ekel daran, der sich wortreich und grauslich artikuliert. Mit dieser Figur des Mannes kotzt sich einer gründlich aus. „arbeiten war sein einziger zweck, arbeiten und am abend in die gaststätte gehen.“ Nur das Körperliche gilt ihm als Lebensäußerung. Als seine Frau stirbt, geht er kotzen, um sich zu spüren. Dass sie so einfach eines Morgens tot im Bett gelegen hat, verzeiht er ihr nicht. Eine namenlose, prototypische Allerweltsfigur beleuchtet ihr geheimnisloses Allerweltsschicksal, in dem nichts von Bedeutung geschieht und alles, was geschieht, von der Fadesse der Wiederholung affiziert ist. Im Kapitel „frau“ destilliert sich aus der kunstvollen Verschränkung der Perspektiven eine weibliche Figur, die einfühlsamer erzählt wird. Diese Frau ist eine Gestalt mit einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer selbst, das sie zu den Dingen, Ideen, Wünschen und ihren Vorstellungen in eine Beziehung treten lässt. Sie besitzt Erinnerungen an glückliche Momente ihrer Kindheit, die sie ebenso prägen wie ihre späteren Aufsässigkeiten, und einen Gestaltungswillen, mit dem sie den Dingen um sich herum das ihr gemäße Aussehen verleiht. Es ist bei allem, was sie tut, ein gewisser Experimentalcharakter am Werk, mit dem sie durchs Leben geht. Ohne Vorbehalte, immer rein in die Herrenwelt, schonungsloses Erfahrungmachen, und auch immer gleich wieder weg. Von Ehe und Scheidung erfährt man in einem Satz, scheinbar Bagatellen in ihrem Leben. Diese Frau ist neugierig, ja gierig aufs Leben. „ihre wohnung war sie selbst, und niemand war jemals bis hierher gedrungen. kein telefon, keine adresse, kein briefkasten.“ Namenlos auch sie. Im dritten Kapitel, „frann“, der Synthese aus „frau“ und „mann“, werden der Mann und die Frau zusammengeführt: Sie finden sich anfangs zu einer belanglosen sexuellen Aktion zusammen. Aus einer Begegnung sexualisierter Körper entsteht die Beziehung zweier Zerflossener, Aufgelöster, die mehrere Leben hinter sich haben. In weiteren Begegnungen der beiden kommt es zu Verletzungen, Erwachsenenspielen zwischen Verliebtheit und der Sucht nach Erniedrigung des anderen. „sie trafen sich, wie alle liebespaare mit erfahrung sich treffen. wie raubtiere, die um die gegenseitige gefährlichkeit bestens informiert sind. offen, selbstsicher, nur keine blößen zeigen, die alle weiteren schritte in eine ungewünschte richtung gelenkt hätten.“ Zum Ende hin wird dieses Verhältnis sehr subtil herausgearbeitet. Gut beobachtet, gut geschrieben, gut gedacht von Peter Giacomuzzi. Ein Text, der sein Alter nicht verrät. |
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„Bruchharsch“ verweigert sich einer einfachen Kategorisierung. Die drei Teile, „firn“, „harsch“ und „sulz“, unterscheiden sich voneinander fundamental und stellen damit die Vielseitigkeit Köhle’schen Schreibens unter Beweis. Setzt sich der erste Teil vorwiegend aus einer Ansammlung disparatester Texte zusammen, präsentiert der zweite eine dialogische Struktur, während der dritte sich konventionellen Erzählschemata annähert. „firn“ beginnt als fleurale Dichtkunst, ein lockeres, luftiges, aufgrund der fleuralen Deskriptionen beinahe duftendes Schreiben. Hier bringt sich ein ICH in Beziehung: zur Welt und zu anderen, hier stiftet Sprache ein Beziehungsgeflecht – auch zur Tradition: eine Dichtung, die die Reflexion über ihr Metier ins Dichten integriert, dabei aber durchaus selbstbewusst-ironisch verfährt. „Rezept: Als Dichter musst du aus dem Sozialen Ästhetisches rauspicken und dies dann klischeefrei hochwürgen. Ein Dichter ist also Umweltpicker und Wahrheitswürger. Besser als Hühnerficker und Spießbürger.“ Was folgt, sind Gedankenströme, Erinnerungen, Kommentare, Kalauer, Selbstgespräche. „Wer Lausbubenstreichkäse verschmiert, muss kein Radaubesetzer sein.“ Das Spiel mit zusammengesetzten Mehrsinnwörtern droht überhandzunehmen. „Schwachsinn, ich weiß.“, kontert das Ich selbst am Ende einer Aufzählung parodierender Liebesvergleiche. Selbsterkenntnis ist dem Autor nicht abzusprechen, und er setzt sie geschickt ein. Ebenso den Nonsens, denn der von Köhle produzierte Unsinn hat einen schönen Klang und einen stimmigen Ton. „Heute geht’s ganz gut Hut ab und zu muss man an den Wänden rütteln.“: So reihen sich persiflierte Sprichwörter und Sinnsätze an verballhornte Lebensweisheiten. Eine weitere stilbildende Ebene stellen Zitate dar: Rilke, Schwab, Schuh, Wittgenstein, Heidegger, Céline, Sontag, Beckett, Chamfort, Kant, Deleuze/Guattari, Rimbaud. Es darf vermutet werden, dass die zitierten Autoren Bezugspunkte darstellen, als Gefährten der schreibenden Zunft, auch wenn sich die Texte dann doch nicht mit dem Zitierten befassen. Die Zitate selbst, so wie sie in das Textgeflecht eingefügt sind, stehen isoliert und vereinsamt da, wie Inseln in einem See von Wörtern, da findet keine Auseinandersetzung mit den zitierten Autoren und deren Gedanken statt. Aber so präsentiert sich „firn“ insgesamt: Textbausteine werden gesammelt und montiert, wobei der Text rhythmisch zu lesen ist. Der zweite Teil („harsch“) ist formal „dialogisch“ aufgebaut, ein Zwiegespräch, aber es ist deshalb nicht leicht verständlich, trotz Zuruf: „– Drück dich nicht vor Ausdrucksklarheit, bemüh dich, verstanden zu werden.“ In diesen „Zwiegesprächen“ stellt einer Fragen, auf die sinnfreie „Antworten“ folgen. „Ich habe ein Galgenhumorgen in mir. Wenn man so will, könnte man auch Dummheiterkeit sagen.“ Quelle für den zu produzierenden Sprachsondermüll ist alles, wo Sprache anzutreffen ist: Reklame, TV, Zeitungen, Prozessberichte, Splitter aktueller Politik, Namen, Wissen aller Art, biologische, philosophische, religiöse, literarische Kenntnisse: Aus all dem werden Wörter extrahiert, zerlegt, neu angeordnet und ein „Dialog“ konstruiert, der aber nicht wirklich ein Dialog ist, sondern eine Montage zweier oder mehrerer oder (un)endlicher Monologe. Köhle lässt eine Sprachmüllmaschine arbeiten, die durchaus mit aufblitzenden Einsichten aufwarten kann. Der dritte Teil („sulz“) präsentiert sich völlig anders. Mit den hier aufgenommenen Erzählungen führt Köhle seine eigene Art Erzählkunst vor. Amüsant-deprimierend zu lesen etwa die Leiden eines werdenden Autors, der sich um Publikationsmöglichkeiten bewirbt, als Kreuzwegstationen inszeniert. Mit dem letzten Satz des Buches schlägt Köhle eine beliebte postmoderne Volte, indem er das Ich von „Todesdienst“ das Buch „Bruchharsch“ schreiben lässt. Immerhin: Köhles Schreiben fügt sich parodierend, teils widerstrebend, letztlich doch selbstbewusst in die Tradition literarischen Schreibens ein und setzt sie auf eigenwillige, amüsante, originelle und konstruktive Weise fort. „Ich bin Freelancer des Geistes. Ich bin für das Protowirsche und das Metabarsche oder auch für das Kryptowirsche und das Semibarsche. Hauptsache halbwegs hermetisch.“ |
Mit Valentin, einem LkW-Fahrer, der seine geliebte Frau unabsichtlich tötet, fängt alles an: Im neuen Roman „Schnee kommt“ von Bernhard Aichner begegnen einem Unfälle und Unglücksfälle aller Art. Doch Unglück und Glück sind nicht weit voneinander entfernt. So wie Valentin seine Frau geliebt hat, lieben oder liebten sich Melih und Dina, Suza und Maurice, Uschi und Bertram, Ruben und Lisbeth. „Schnee kommt“ führt diese und weitere Figuren an einem Ort in einer Nacht, in der es zum ersten Mal in jenem Winter schneit, schicksalhaft zusammen. Die kurz gehaltenen Kapitel tragen stets den oder die Namen jener Protagonisten, deren Geschichte darin erzählt wird. Die erwähnten Figuren bewegen sich eine Passstraße hinauf, auf einen Tunnel zu, vor und in dem sich etwas ereignen wird, das ihr aller Leben radikal verändert. Es handelt sich um Miniaturen, um short cuts über deren Vorleben und über ihre Situation jetzt. Die Konstellation der ersten Geschichte ist dabei exemplarisch für den Roman. Zumeist handelt es sich um eine glückliche Zeit, die zu Ende geht, die jäh zerstört wird. Es geht um Sterben, Tod und verhindertes Glück. Aichners sinnliche Sprache lebt von variierten Wiederholungen, sie ist stark rhythmisiert, einzelne Satzteile kommen immer wieder, bis zur Aufdringlichkeit, vor. Dabei wird einfühlsam, eindringlich und anschaulich beschrieben, was die Figuren denken, wünschen, hoffen, was sie fühlen, die Ambivalenz ihrer Gefühle. Oft sind sie mit ihrem Leben unzufrieden, sie wagen Ausbruchsversuche aus eingefahrenen Situationen. Gefühle werden mit Sinnesempfindungen kombiniert („Er regte sich nicht. Lange blieb er so stehen, roch seine Angst.“), was leichte Verfremdungseffekte hervorruft, aber der Autor geht sorgsam genug damit um. Da wird nichts ausgespart, das kurze Glück, das lange Leiden. Schmerzen, Blut und Sperma. Und alle haben ihre Verletzungen und Wunden, physisch, psychisch. Subtil beobachtet sind Gesten, die Gefühle beschreiben, atmosphärische Stimmungen, Zorn, Gleichgültigkeit; auf diese Weise entsteht ein Panoptikum gescheiterter Lebensentwürfe. „Nichts mehr war übrig. Kein Stück Glück, keine Aussicht darauf.“ Aichner gibt den Autor als Demiurg, der Figuren erfindet und sie wie auf einem Schachbrett herumschiebt. Die Charakterbilder sind, vielleicht abgesehen vom „Zyniker“, der etwas zu konstruiert daherkommt, lebendig und gelungen. Allmählich beginnen sich die Geschichten zu verschränken. Trotz der zum Teil haarsträubenden Schicksalsschläge, von denen die meisten der Protagonisten getroffen werden, erscheinen die Geschichtsverläufe nicht absurd oder unglaubwürdig. So manch eine Querverbindung stellt sich erst im Verlauf der Lektüre als solche heraus – und sorgt dann für Überraschung. |
Kai Roßmann, Wiederholte Störungen. Gedichte 2006 kam im Berenkamp-Verlag der Band „Wiederholte Störungen“ mit Gedichten von Kai Roßmann und Bildern von Helmut Ascher heraus. Die Themen sind im Grunde die Banalitäten des Alltags. Kurz-Phantasien und Sekunden-Träume eines Beobachters, der von konkreten Szenen ausgeht. – So betritt zum Beispiel in Gedicht Nr. 35 eine Person einen Bus auf Kreta, es ist ein Reiseleiter, der phantasiert, wie Touristen am Strand vom Minotaurus gemetzelt werden. – Und diese Szenen werden dann verfremdet, in surreale Entitäten aufgelöst, sodass am Ende das seltsame Gefühl einer Verfremdung übrigbleibt. Dabei ist den Gedichten eine gewisse Selbstverliebtheit nicht abzusprechen, eine gewisse Eitelkeit, die sich am Klang der aneinandergereihten Wörter berauscht, die einfach so vor sich hin purzeln, sich dem Verständnis aber verweigern. Und es zeigt sich rasch: Es handelt sich um Grenzbereiche, die in den Texten evoziert werden. Grenzen zwischen Leben und Tod, Gesundem und Krankem, der Normalität und dem Wahnsinn. Letzterer aber fügt sich einer strengen Ordnung. Roßmanns Gedichte sind von 1 bis 81 durchnummeriert, das Inhaltsverzeichnis übernimmt zumeist als „Titel“ jeweils die ersten Worte einer Zeile. Auch lassen seine Gedichte eine angenehme Sprachmelodie erkennen, Binnenreime, selten Endreime strukturieren ihr melodiöses Geflecht. Der vollständige Verzicht auf Interpunktion bewirkt, dass auch jedes Ende, jeder letzte Satz ins Offene strebt. Es entsteht der Eindruck, dass sich diese Lyrik selbst genügt: Braucht sie einen Leser? Die absurden Kombinationen und surrealen Szenarien beleuchten psychisches Grenzgängertum: Anstaltsszenen, die an Psychiatrisches gemahnen, wie etwa in Nr. 16, „Ziemlich krank“: „Scheiß auf die Wände / schmier die Mauern voll / bevor die Wärter kommen sing ein Lied / am Ende wandere im Karussell / …“ Gerade wenn es um Krankheitsmetaphern – psychischer wie physischer Natur – geht, scheint der Autor in seinem Element zu sein. Da gelingt es, etwa Fieberschübe von innen her darzustellen, da evoziert Nr. 37 selbst das Fieber, ohne in einer rein äußerlichen Beschreibung steckenzubleiben. Lebendig, man möchte fast sagen: authentisch wird es eben dann, wenn es gelingt, in die Innenschau eines Phänomens vorzudringen, wenn der Sprachklang vom Inhalt gedeckt wird. Und so halten sich die manieristisch-konstruierten Elaborate mit den gefühlt-empfundenen die Waage. Nicht absprechen kann man den Gedichten zudem einen gewissen Hang zum Morbiden, auch Aggressiven, so in Nr. 48: „… / und ich lauf weg / spring über Friedhofsmauern / und finde dich in einem Mückenschwarm / und rücksichtslos / küsse ich deinen Mund / zu Schrott // Den leicht unterkühlten Stimmungen der Gedichte entsprechen auf subtile Weise die Bilder von Ascher, die von einer kühlen Farbigkeit geprägt sind. Kubische Formen in einer verhaltenen Chromatik. Weder illustrieren diese Malereien die Texte von Roßmann, noch nehmen die Gedichte auf die Bilder Bezug. Beide koexistieren in ein- und demselben fragilen Grenzraum. |