Boško Tomašević,Gesänge an Innsbruck. Gedichte
Aus dem Serbischen von Helmut Weinberger. Illustrationen: Benno Melis
Innsbruck: Berenkamp 2006 (= Erlesen. Band 12). 80 Seiten
Inwiefern lassen sich – mehr oder weniger auf Knopfdruck – Gedichte über Innsbruck oder irgendeine andere Stadt schreiben? Boško Tomaševićs versucht dies in seinem Gedichtband vom Vorjahr. „Gesänge an Innsbruck“ präsentiert sich als eine Reihe von dichterischen Notizen zu bestimmten Orten in und um Innsbruck, die den meisten Texten auch den Titel geben. Mal sind es bestimmte Bauwerke (Stift Wilten, die Hofburg, die Kapuzinerkirche, der Dom), mal wieder profanere Orte wie Lokale und Geschäfte (das Katzung, die Buchhandlung Tyrolia), dann wieder Landschaften und Ortschaften um Innsbruck (Igls, Lans) oder für die Region charakteristische klimatische Eigenheiten (der Föhn). In dieser Konzentration erscheint die Motivwahl – und der Umgang damit – einerseits äußerst beliebig, andererseits entsteht der Eindruck einer gezielten, bemühten Vorgangsweise des Autors.
Stets hat man es hier mit der Perspektive eines Einzelnen – und nicht selten eines Einzelgängers und dazu eines Fremden – zu tun: ganz unverhohlen bricht das Autobiographische der Texte durch. Diese Grundhaltung ist – wie manches andere – allzu deutlich spürbar; die Verwunderung des besagten Subjekts über etliche Tiroler und Innsbrucker Eigenheiten wird zu explizit ausgesprochen. Nur sehr selten gelingt es dem Autor, auf Auswüchse des Wirtschaftswachstums, des Tourismus oder der Schiindustrie über das Mittel der Ironie oder einfach nur mit Humor zu verweisen: im ersten (und vielleicht besten) Text des Bandes verknüpft er formale Anlehnungen an Celans „Todesfuge“ („Ski fahren wir, sanft, / wir fahren am Morgen, / wir fahren am Abend, / wir fahren und fahren Ski“) mit etlichen tirol- und österreichrelevanten Stichwörtern (Freud, Celan und Trakl schimmern durch). Während hier der Sprachduktus und die Metaphorik vollkommen überzeugen, tun sie das in sehr vielen anderen Texten nicht: eine vollständig ausgeführte Syntax erweist sich oft als der Hauptmangel dieser Gedichte. Nichts wird ausgespart, nichts verkürzt – was in Kombination mit dem Verzicht auf jegliche rhythmische Gliederung der Texte in manchen Fällen tatsächlich an Prosa mit Zeilenbruch denken lässt. Sätze wie „Von Igls schwingt er sich auf die Nordkette / und lässt sich wieder fallen, / sucht sich neue Tunnels / zu raschem Begeisterungstaumel“, „Innsbruck lebt weiter mit Alpengipfeln, / mit weißer / Chrysantheme über seiner Welt“ oder „Diese Häuser da am Inn schulden ihm / ihre Ewigkeit, die uralte Ruhe, / indem sie von ihm angenommen haben, / Moos und Erinnerung“ geben Zeugnis von dieser Problematik, an der im Übrigen unzählige Gedichte der Gegenwart kränkeln.
Ein weiteres Problem dieser Texte ist der schon erwähnte privatistische Zugang, eine zu sehr auf den eigenen Blickwinkel begrenzte Wahrnehmung. Zeilen wie „Ich sah das Gold von Stams. / Die Einsamkeit seiner Türme. / Verbrachte Jahre in seiner Bibliothek, / Tage in den Gewölben seiner Schreibstuben“, „Ich, ein Fremder, wer bin ich / hier in den Alpen?“ oder „Ich könnte in der Metropolitan sein, / in St. Martin in the Fields, / im Musikverein“ sind zu deutlich, zu unverarbeitet und für den Leser letzten Endes irrelevant. Zudem macht sich an manchen Stellen auch ein Abgleiten ins Kindliche, Naive bemerkbar, hauptsächlich durch Aufzählung von überflüssigen Details. Eine weitere Schwäche mancher Gedichte ist eine Überfülle an Ortsnamen, die fast an naturwissenschaftliche Texte erinnert. Charakteristisch ist hingegen für diese – wie auch für andere Tomašević-Texte – eine spürbare Präsenz des Religiösen und Metaphysischen. So wendet sich in „Cranachs Maria“ das Ich an die Mutter Gottes in der Hoffnung auf Erlösung (das Gedicht beeindruckt übrigens durch eine starke Metapher: „Himmel über dem Himmel“), in „Maria Himmelfahrt“ gelingt dem Autor eine selten lebendige, ja geradezu körperliche Darstellung einer Marienerscheinung über Innsbruck. Die Hinwendung an Gott wird in einem Text über Kapuzinermönche durch historische und intertextuelle Verweise weitreichender: „in der Rose, von der Borges spricht, / der in Rom / Veronikas Schweißtuch gesehen“. Sehr stimmig und zugleich abgeklärt ist übrigens auch das Erlebnis eines Heiligen Abends in Innsbruck.
Die Zeichnungen des Innsbrucker Graphikers Benno Melis, auf den ersten Blick oft harmlos-lieblich, zeigen beim genaueren Hinsehen etwas Bedrohliches, sei es durch einen konsequent dunklen, fast schwarzen Himmel oder eine oft angewendete Vogelperspektive, manchmal kombiniert mit einer Schieflage. Besonders interessant ist eine Ansicht von Alt-Pradl im deutlich expressionistischen Stil. Im Ganzen sind die Bilder von einer wohltuenden Heterogenität. Problematisch erscheint hingegen das – eher unoriginelle – Konzept, jede Zeichnung genau neben das inhaltlich entsprechende Bild zu platzieren.
Insgesamt bleibt hier die Genrezuordnung unklar, genauso der Adressat der Texte. Es entsteht – gerade durch die spürbar bemühte Suche nach Motiven und ihrer Verarbeitung – der Verdacht einer wie auch immer gearteten Auftragsarbeit, der der an sich erfahrene Lyriker so nicht nachkommen konnte. Besser wäre es vermutlich, einige wirklich gute Texte – darunter sicher „Innsbruck (ohne Georg Trakl)“ und den von Eingeweihten sehr geschätzten „Abend in Lans“ in andere Bände aufzunehmen.
Boško Tomašević, Celan trifft H. und C. in Todtnauberg. Gedichte Aus dem Serbischen von Helmut Weinberger
Berlin: Das Arsenal 2005
Inwieweit lassen sich Lyrik und Philosophie vereinen? Der 2005 erschienene Gedichtband des serbischstämmigen Philosophiedozenten und Lyrikers Tomašević weist schon durch seinen programmatischen Titel sehr genau auf seinen thematischen Schwerpunkt hin: „Celan trifft H. und C. in Todtnauberg“. Mit H. ist zum einen Heidegger gemeint, der in Todtnauberg im Schwarzwald seine Hütte stehen hatte, als Denk- und Rückzugsort gewissermaßen; zum anderen aber auch Hölderlin, zumal dessen Bildnis als Profil-Porträt aus dem Jahr 1823 den graphisch sehr stillvoll gestalteten Umschlag ziert. Das originelle Layout (inklusive kleiner Vignetten aus derselben Zeit mit einer Darstellung Hyperions) fällt auch im Buchinneren angenehm auf, sieht man einmal von dem allzu verspielten Umgang mit Schriftgraden und –arten ab: eine einfache kursive Hervorhebung einzelner Wörter hätte es auch getan. C. wiederum, der zweite, den Celan in der Heideggerschen Idylle trifft, ist René Char, französischer Dichter in der Tradition des Surrealismus und langjähriger Freund Heideggers (bis zu seinem Bruch mit ihm aufgrund von Heideggers NS-Vergangenheit). Chars Gedichte wurden im Übrigen von Celan (und auch von Handke) ins Deutsche übertragen.
Die Gedichte dieses philosophisch-lyrischen Bandes, in fünf Kapitel unterteilt, kreisen alle um die Fragen des Seins, des Denkens und des Schreibens. Das Sein – als Hauptelement des Heideggerschen Werks – findet sowohl direkt als auch indirekt eine häufige Erwähnung in den Texten: „Dasselbe Schöne / übertragbares Abendfeld, / welches das Sein / bis zum Morgengrauen / aufschiebt“ oder „Nicht Sein der eigene Teilhaber / des Seins, heuerntezeitig“. (Letzteres auch ein schönes Beispiel der meisterhaften Übersetzung durch den Innsbrucker Slawisten Helmut Weinberger!) Weiters scheint auch der Gesang – als metaphorische Umschreibung des Dichterwortes – auffällig oft als Schlüsselbegriff auf. Das Denken – ebenfalls wörtlich verwendet oder umschrieben – und die Schrift, die verewigte Sprache, bilden weitere Kerne dieser an Metaphern reichen Lyrik: „Und manches muss / im Denken / dorngleich / erklärt werden“, „So wird der Hammer / zerteilt / vor der Schrift“, „über alle Allegorien der Schrift hinweg“, „einen angestammten Gesichtskreis des Denkens“. An einer Stelle heißt es wörtlich: „So treffen das Denken des Dichtens und das Dichten des / Denkens / zusammen“. Ja selbst der konkrete Akt des Lesens findet sich in diesen sich großteils im Abstrakten bewegenden Gedichten: „dort unten / von einem, der liest“, „die Schrift der Gier / des Lesbaren“ oder „Unter wilderndem Stern liest dich Jabès“. Interessanterweise kommt auch den Anfängen eine besondere Bedeutung zu, so etwa im einzigen Text, der erotische Thematik wenigstens berührt: „noch eine / Steigerung / für noch einen / ungekannten / Anfang“. Auch vom „leichte[n] tödliche[n] Anfang“ ist die Rede; an einer anderen Stelle wird die Sehnsucht nach einem neuen Anfang deutlich: „einen völlig neuen Anfang ausbreitend, / eine völlig verhaltene Herausforderung“. Weitere thematische Punkte der Gedichte sind der Glaube und die Präsenz Gottes. Das lyrische Ich spricht mehrmals zu Gott. „Dies ist Dualität mein Gott“, „Schöngestalt / bedeckt Gott / die Hütte“, „Ist das meine Sprache? Mein Gott?“. Woanders heißt es wiederum: „Gott gibt es hier nicht“. Gleichzeitig liefern Motive und Symbole des christlichen wie jüdischen Glaubens – direkt oder nur angedeutet – weitere Elemente der Metaphorik: „in der ruhigen Teilbarkeit / der Tora“: „die Fahrt zum Kreuz und / zurück“, „kalt, dornig der Gebirgskamm“, „Teilung des Wassers“.
Zu einem großen Teil handelt es sich hier aber auch um poetologische Gedichte. Das Schreiben, die Übertragung der Gedanken in die lyrische Form und nicht zuletzt die (problematische) Dichterexistenz sind weitere Themen des Bandes. Gelegentlich zeigt sich der aus den Texten sprechende Dichter (und Denker) optimistisch: „Deine Zukunft existiert. / Abends lesen dich […]“ – wobei mit dem „Du“ genau genommen sowohl Celan, als auch Heidegger oder Char gemeint sein können. Ähnlich zuversichtlich auch die Zeilen „Erneut, entschwunden, verlässt sich die Sache auf dich“ oder „Morgen ist meine Zeit, / mein Tag“. Manchmal erscheint der Dichter sogar gottgleich, als Demiurg: „Die Welt ist gefertigt von meiner Hand“; gleichermaßen kommt aber auch das Leidvolle des Dichterlebens zum Ausdruck. Tomašević findet dafür treffende Bilder und Formulierungen wie „wir – Reisende ohne Schatten“ oder „Jenes Verletzte wegen des Nichtschreibens, nicht meines“. Eingebettet ist dieser ganze gedankliche Apparat in eine zeitlose, stellenweise archaisch und mystisch anmutende Natur, die in ihrer Abgeschiedenheit etwa an die Natur eines Johannes Bobrowski erinnert: „geneigt auf längst vergangene Ruder des Flusses“, „die Feuerstelle ganz zurück bis zu den Dingen“, „neben den Netzen der Quellen“. Städtische Landschaften und Bilder modernen Lebens fehlen vollkommen; nur an einer Stelle findet so etwas wie Alltag seinen Weg ins Gedicht: „Das Anstehen, Herr, in der Schlange der Zeit“. Ein paar Zeilen weiter spricht das Subjekt von der (vielfach mühsamen) „Abgeschiedenheit des Daseins in der Fremde“. Es ist der einzige Text, in den der Autor auch autobiographische Momente einfließen lässt.
Eine rhythmische Unterteilung ist den Texten nicht eigen, nur da und dort findet sich eine Anapher. Ein prosaähnlicher Sprechduktus bestimmt den ganzen Band. Es ist möglich, dass die Gedichte dadurch besonders elegisch wirken. Tomaševićs wichtigstes Verfahren ist hier zweifellos die Metapher, allen voran die Genitivmetapher. Viele dieser Sprachbilder stehen in Celanscher Tradition, was sie auf den ersten Blick sehr hermetisch erscheinen lässt. Der Sinn hinter den Texten will eben erst entdeckt werden, hinter versteckten Anspielungen, leicht zu übersehenden Hinweisen und etlichen Zitaten. Man könnte sagen, dass die Gedichte – nachdem es in erster Linie doch literarische (und keine wissenschaftlichen) Texte sind – allzu sehr mit akademischem Wissen überfrachtet sind. Wirklich erreichen kann solche Lyrik nur einigermaßen eingeweihte Leser. Hat man aber die Chiffren erst einmal entschlüsselt, entfalten diese Gedichte eine unerwartet suggestive Kraft, die noch lange nachwirkt. Ein beachtliches ästhetisches Erlebnis, zweifellos, aber erst nach mehrmaliger, genauer Lektüre.