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Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezension von Markus Ender

  

 


Egon Erwin Kisch, Die drei Kühe. Eine Bauerngeschichte zwischen Tirol und Spanien [Dez. 2012]
Bozen: Edition Raetia, 2012

Von Kühen und Menschen...

Die „Bauerngeschichte zwischen Tirol und Spanien“, die „Gschicht'“, wie sie die Hauptfigur Max Bair nennt, ist in den Augen derselben im Grunde relativ schnell erzählt: Er hat halt seine Küh' verkauft und ist nach Spanien gefahren, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Gut, das ist arg knapp, aber nach einigem Nachfragen kann Egon Erwin Kischs literarisches Reporter-Alter-Ego dem Wortkargen über die „Gschicht'“ weitere Details entlocken: Max Bair, ein junger Wipptaler Bauer, erbt in der Zwischenkriegszeit den elterlichen Hof, wobei das ohnehin überschuldete Anwesen vom Onkel verwaltet wird, weil die Geschwister noch minderjährig sind. Wegen dessen Misswirtschaft und Trunksucht gerät das Anwesen allerdings in noch stärkere wirtschaftliche Schwierigkeiten. Als Bair mit zwanzig Jahren den Hof übernehmen kann, bessert sich die Situation nicht; der junge Bauer muss Schulden machen, um Vieh zu kaufen. Über den Knotzer Johann, einen Arbeiter der Wildbachverbauung, kommt Bair in Kontakt mit sozialistischem Gedankengut, organisiert mit Gleichgesinnten Leseabende, liest illegale Zeitungen, erfährt dort unter anderem auch von der Sowjetunion und von Spanien, und schließlich keimt der Gedanke, die Heimat hinter sich zu lassen, in den Männern auf. 1937 gibt Bair seine bäuerliche Existenz in Tirol auf, treibt seine drei Kühe (die „Graue“, die „Moltl“ und die „Schwarze“) auf den Markt und veräußert die Tiere. Er fährt mit dem Erlös und einigen Freiwilligen zunächst nach Paris und dann weiter nach Spanien, wo sich die jungen Männer im Bürgerkrieg den Internationalen Brigaden im Kampf gegen Francos Truppen anschließen. Bair wird einige Tage lang ausgebildet, in einem Gefecht schwer verwundet, kann aber von seinen Kameraden gerettet werden.
Die „Gschicht'“ ist schon inhaltlich ziemlich kurios, gewiss - doch, dem „Rasenden Reporter“ sei's gedankt, wird dieser Inhalt den LeserInnen auch in einer entsprechend ansprechenden Form präsentiert; immer wieder unterbricht Kisch die Lebenserzählung Bairs, montiert die Aussagen der Hauptfigur und die Fragen seines in der ersten Person berichtenden Reporter-Ichs ein. Das Resultat dieses Zwiegesprächs ist ein sehr persönliches, kurzweiliges Portrait von einem, der eigentlich abseits bleiben möchte. Die Drei Kühe ist aus diesem Grund über die eigentliche Erzählung hinaus aber ebenso eine Geschichte über das Handwerk des Reporters, eine Art literarischer Selbstbespiegelung. Kisch beschreibt nicht nur den Spanienkämpfer Bair, sondern reflektiert auch die Rolle der Berichtenden in solchen Auseinandersetzungen.
Die „Gschicht'“ findet auf wenig mehr als dreißig Druckseiten Platz und das Bändchen wurde, vermutlich auch aus dem Grund, weil ein so geringer Umfang keine Buchausgabe rechtfertigen würde, vom Herausgeber Joachim Gatterer um ein umfangreiches Nachwort, einen Anhang mit zeitgenössischen Dokumenten sowie einer Bibliographie vermehrt. Gatterer liefert in diesen Nachbemerkungen Informationen und Materialien, die zum adäquaten Verständnis und zur zeithistorischen Kontextualisierung von Kischs Reportage (und zum Teil darüber hinaus) wesentlich beitragen können und der LeserIn so manch unbekanntes Faktum vor Augen führen. Eine das Wesentliche umfassende Kisch-Biographie fehlt ebensowenig wie eine Erläuterung der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge des Bürgerkrieges in Spanien; Gatterer erklärt, wie Kisch auf Bair getroffen ist, über welche Wege und Umwege die Reportage ihren Platz in verschiedenen Verlagen und Veröffentlichungen gefunden hat und erläutert den weiteren Verlauf des Lebens von Max Bair. Dieser kehrte nach 1945 für kurze Zeit nach Tirol zurück und engagierte sich in der KPÖ, wanderte dann aber in die DDR aus und machte dort Karriere. Gatterer konzipiert diese Ausführungen rund um die politische Dimension von Bairs Spanien-Abenteuer, also auf die Auseinandersetzung zwischen dem faschistischen Franco-Regime und dem republikanischen Sozialismus. Durch diesen starken Fokus geht aber weitgehend der Blick auf jenen Aspekt verloren, der die „Gschicht'“ im eigentlichen Sinn von Beginn an strukturiert und dominiert: Die drei Kühe ist vor allem ein Text, der die Ökonomisierung des Lebens thematisiert. Weniger als die politische Seite („mit Politik hat sich der Max nie sehr viel befaßt“, heißt es beispielsweise) ist es die kapitalistische Wirtschaftsordnung, auf die im Text immer wieder hingewiesen und die offen hinterfragt wird. Kisch macht anhand der erzählten Episoden aus Bairs Lebensschicksal insbesondere evident, wie paradox das wirtschaftliche System, in dem sich die Figuren bewegen, im Grunde funktioniert; so erfährt die LeserIn unter anderem, dass ein Bauer für Butter weniger als die Hälfte des zur Herstellung nötigen Materialpreises ausbezahlt erhält, wie viel eine Kuh im Vergleich zu ihrem Milchertrag frisst, wie hoch ihr Wiederverkaufswert ist und was ein Hotelzimmer in Paris kostet. Diese Ökonomisierung betrifft alle Lebensbereiche, selbst den Krieg ist davon berührt, denn er wird im Wesentlichen auch nur von bezahlten Söldnern ausgefochten. Die Seite, auf der gekämpft wird, richtet sich für viele Freiwillige nach dem bezahlten Preis.
Wenn Gatterer die Frage aufwirft, was Die drei Kühe „anziehend macht“, so muss, neben der Würdigung Kischs als Erzähler, die völlig zu Recht erfolgt, deshalb ergänzt werden, dass es eben jener Fokus auf ökonomische Zusammenhänge ist, der den eigentlichen Wert des Textes ausmacht; Kisch kann dadurch die Motivation der Figur zum Einsatz in Spanien effizienter vorantreiben und die politische Botschaft erhält dadurch erst ihre Glaubwürdigkeit. Durch diese inhaltliche Gewichtung kann Kisch selbst die Kampfszenen am Ende der Reportage mit einigem Humor unterfüttern; es wird z. B. geschildert, wie der wackere Spanienkämpfer Bair während der Kämpfe mehrmals befördert wird, weil er aber die Hierarchie der Freiwilligenarmee nicht durchschaut, kann er nicht genau sagen, weshalb dies geschieht.
Die interessanteste Frage des Nachworts ist jene, ob es sich bei den Drei Kühen, wie der Herausgeber sinnigerweise bemerkt, um Tiroler Literatur handelt. Gleich vorweg: Allein schon deshalb, weil Egon Erwin Kisch selbst kaum persönliche Bezüge zu Tirol hat, muss die Antwort negativ ausfallen – und zu dieser Erkenntnis kommt auch Gatterer. Er untermauert diese Schlussfolgerung, indem er die Drei Kühe mit „klassischer“ Tiroler Bauernliteratur vergleicht.  Der Text lässt sich bestenfalls, wie er richtig bemerkt, als ein Stück Weltliteratur mit Tirol-Bezug lesen (so z. B. durch den Untertitel), sollte aber nicht aber als ein Teil der orginären Tiroler Literatur aufgefasst werden. Die Unterschiede zu traditionellen Bauerngeschichten, wie sie z. B. Franz Kranewitter, Karl Schönherr oder Joseph Georg Oberkofler verfasst haben und die, wie Gatterer zeigt, ähnlichen Schematismen folgen, sind hier einfach zu groß.
Die Bedeutung dieser kleinen, aber feinen „Gschicht'“ erschöpft sich auch nicht in solchen Attributen wie „tirolisch“ oder „bäuerlich“. Es sind vor allem jene Aspekte, die über die „Bauerngeschichte“ hinausgehen und die auch heute noch ähnliche gesellschaftliche Problembereiche berühren, die dem Schicksal des Max Bair aus dem Wipptal ihre Prägnanz und ihre Wirkung verleihen: der unaufdringliche (weil nicht belehrende) und doch durchdringende politische Subtext, der die gesamte Erzählung durchzieht; die Kritik am bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem über die Erkenntnis, dass die Menschen dort in Besitzende und Schuldner getrennt werden und in dem es am Ende der monetären Nahrungskette keinen anderen Ausweg gibt als weiter Schulden aufzunehmen oder einen Neuanfang zu wagen. Das Hauptmotiv der Reportage, die gesellschaftliche Ungleichheit, die heute in Zeiten der Wirtschaftskrise wieder deutliche Konturen annimmt, macht diesen Text aktueller und stärker an die Gegenwart anschlussfähig, als es einem lieb ist.  

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