Rezensionen von Ruth Esterhammer

     

 
Helene Flöss, Mütterlicherseits.
 Roman
edition laurin bei innsbruck university press, 2010

Helene Flöss’ neuester Roman Mütterlicherseits (2010) ist ein Familienroman, genauer, ein Generationenroman, der den LeserInnen einen Blick in die Kindheit der Protagonistin Dalila und auf ihre Verwandtschaft mütterlicherseits eröffnet. Mit Informationen aus dem Leben der 53-jährigen Fachärztin für Gerontologie, die in ihrem Beruf aufgeht, privat aber glücklos ist, wird gekargt - Dalilas gegenwärtiges Leben ist auch nur als Ausgangspunkt für den Rückblick in die Kindheit von Interesse. So ist lediglich beiläufig die Rede von gescheiterten Beziehungen, vom Tod ihres Kindes, an das sie täglich denkt, vom distanzierten Verhältnis zur alt gewordenen Mutter, deren „absehbares Sterben“ sie wohl auch deshalb bedrückt, „weil sie sie nicht liebte, wie es sich gehört hätte“ (35). Mit der altersbedingten Umständlichkeit und Vergess­lich­keit der Mutter kann Dalila nicht umgehen, während sie als Ärztin täglich mit Einfühlsamkeit und Verständnis mehr Menschlichkeit in das Leben ihrer demenzkranken Patienten bringt, was ihr wohl auch deshalb gelingt, weil sie sich als Kind eine ähnliche Welt erschaffen hat: „Eine Fluchtwelt. Eine Überlebenswelt. Eine Rückzugswelt. […] Ein Leben in einem sich selbst und der eigenen Fantasie genügenden Zustand. Ein Leben gegen den Strich. Ein Leben im Eigen-Sinn; nach der Eigen-Zeit; nach der Eigen-Wirklichkeit.“ (263)

Alle jene, die hier ein moralisches Urteil erwarten, werden enttäuscht, denn anstatt zu werten, beschränkt sich die Autorin strikt auf das Registrieren. Die akkurate Beschreibung von Ist-Zuständen, das Gespür für Widersprüchlichkeiten in Lebensläufen wie das Paradoxon von der verständnisvollen Gerontologin, die mit dem Altern der eigenen Mutter nicht umgehen kann, und das behutsame und unaufdringlich leise Forschen nach psychologischen Ursachen sind zweifellos Flöss’ Stärken, die sie auch schon in ihrer Erzählung Dürre Jahre (1998) unter Beweis gestellt hat. Den Roman Mütterlicherseits mit dieser Erzählung zu vergleichen, liegt aus ver­schiedenen Gründen nahe: Erzähltechnisch weisen die beiden Texte insofern Ge­mein­sam­kei­ten auf, als Flöss beide Male den Erzähler auf Distanz zu den Figuren gehen lässt, als Erzähl­form die Er-Form wählt und durchgängig eine sachlich-kühle Erzählhaltung ohne Kritik und Wertung wahrt. Eine weitere augenfällige Parallele ist die Namensgleichheit der Protagonistinnen und ihr Unvermögen, den als Kind erlebten Tod des vergötterten Vaters zu verkraften. Wäh­rend Dali aus Dürre Jahre an Magersucht erkrankt und Halt im Zählen von Kalorien sucht, wird in Mütterlicherseits aus dem fröhlichen Kind Lilí ein schwer­mütiges Kind, das ewig zu trauern beschließt, eine neue Zeitrechnung einführt und jedes Ereignis daran misst, ob es vor oder nach Vaters Tod passierte. Lilí flüchtet sich in Phantasie- und Ersatzwelten, indem sie Biographien anderer sammelt, um sich „mit den gelebten Leben“ auszukennen (196). Diese Neigung unterstützt die Großmutter, die nach dem Tod des Vaters zur wichtigsten Bezugsperson Lilís wird, mit ihren Geschichten. Mit ihnen, einem Vorrat an Sprichwörtern und Ritualen wie dem täg­lichen Beten vermittelt die Großmutter Geborgenheit, wobei ihre Welt einer eigenen Logik folgt: Ihre Sprichwörter widersprechen sich und ihre religiösen Grundsätze sind durchaus eigenwillig. Als ein Mieter im Haus Selbstmord verübt, antwortet sie auf Lilís Frage nach dem Warum: „Weil sie fänden, sie hätten schon genug gelebt [...]. Andere wiederum glaubten, weil sie keiner um ihr Einverständnis auf die Welt zu kommen gefragt habe, müssten sie jetzt auch keinen fragen, ob und wann sie diese verlassen dürften.“ Auch ist sie der Meinung, Selbstmord sei „keine Untat und der liebe Gott habe nichts dagegen“, sofern der Selbstmörder keine Angehörigen zurücklasse. (47)

Nach dem Tod des Vaters entfremdet sich Lilí mehr und mehr von der Mutter, obwohl sie in ihr nicht mehr die Rivalin im Kampf um die Gunst des Vaters sehen muss und ihre Liebe für den Vater von ihm auf das einzig verbliebene Elternteil übertragen könnte. Die Mutter vergibt aber diese Chance, denn nach einem 18-Stunden-Tag in ihrer Schneiderei bleibt ihr weder Zeit noch Kraft für mütterliche Gefühle. Sie missversteht ihre Aufgabe als Mutter: Um den Töchtern einen besseren Start ins Leben zu geben, opfert sie sich bis zur Selbstverleugnung auf und baut so ein Schuldverhältnis zwischen sich und ihren Töchtern auf, das nur mit Dankbarkeit, nicht aber mit unbefangener Liebe abzugelten ist. Mit diesem Einblick in Dalilas Kindheit zeigt Flöss auf, dass die Berufswahl ihrer Protagonistin, ihr Verständnis für das Alter, ihr distanziertes Verhältnis zur Mutter, aber auch das Scheitern ihrer Beziehungen Wurzeln in der Kindheit haben könnten: Ob es tatsächlich so ist und inwieweit eine Kausalbeziehung vorliegt, lässt die Autorin die LeserInnen entscheiden.

Flöss zeichnet ihre Figur Dalila als Biographiensammlerin, was der Autorin erlaubt, den Roman als eine Aneinanderreihung von Porträts anzulegen. Flöss hangelt sich von Dalila zum Porträt der Mutter zu dem der Großmutter, von dort zu den Porträts der Kinder und Schwiegerkinder der Großmutter und zu den Kindern der Kinder. An den einzelnen Schicksalen variiert Flöss ihre Motive: Alter, Kindheit, Zeit, Tod, Eltern-Kind-Beziehungen, Ehe und Berufsleben, die Rolle der Frau. Darüber hinaus akzentuiert sie die facettenreich angelegten Motive durch Kontrastierung: Dem Alter wird die Jugend zur Seite gestellt, der Vergötterung des Vaters steht die Distanz zur Mutter gegenüber. Ganz beiläufig entwirft Flöss außerdem ein atmosphärisch dichtes, ganz und gar nicht idyllisches Bild vom Leben auf dem Dorf, wo der Sonntag heilig ist, soziale Hierarchien zementiert bleiben (eine Schneiderin steht über der Näherin und lässt sie dies auch spüren) und Witwen, die erst nach dem Tod des Gatten an ihre gute Ehe glauben, exzessivem Friedhofskult frönen. So meisterhaft das Porträt der Mutter ist, so entbehrlich ist das eine oder andere Porträt der entfernten Verwandtschaft, in der sich Originale wie „Goldonkel“ und „Pechonkel“ inklusive hantiger Ehefrau und Kuriositäten wie Onkel Veit und sein Leben als Jehovas Zeuge auffällig tummeln. Schon allein die quantitative Ballung der Lebensläufe ist auf Dauer ermüdend.

Flöss ist es ­- wie auch in Dürre Jahre -  gelungen, Inhalt und Form perfekt aufeinander abzustimmen: Das Assoziativ-Additive der Kind­heitserinnerungen hat seine Entsprechung in kurzen bzw. mehr oder weniger stark ver­kürzten Sätzen (teilweise auch Einwortsätze), im Verzicht auf Satzkonnektoren und im großzügigen Gebrauch von Absätzen. Zur atmosphärischen Stimmung trägt die bildhafte Sprache bei (einige wenige Bilder sind schief geraten, z.B. ist vom überlaufenden Wörtersack die Rede, S. 7), wohldosiert eingesetzte Regionalismen erhöhen die Authentizität des Ge­schil­derten (aus der Schilderung der Örtlichkeiten kann geschlossen werden, dass Dalilas Eltern vom Dorf stammen, die Familie aber nach dem Tod des Vaters nur noch in Brixen lebt), die allerdings teilweise auch dem ostösterreichischen Raum zuzurechnen sind (z.B. Bedienerin, S. 9). Die wenigen erwähnten Kritikpunkte fallen nicht ins Gewicht: Helene Flöss’ neuester Roman Mütterlicherseits ist insgesamt ein lesenswertes Buch, das durch die gewählte Thematik, die sorgsam ausgeführten Motive und den durchdachten Aufbau, die erzählerische und sprachliche Qualität besticht.  

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Rosmarie Thüminger, Mit offenen Augen. Adele Stürzl. Eine Annäherung
Tiroler Autorinnen u. Autoren Koop. 2009

April 1944: Der 53-jährigen Adele Stürzl wird der Prozess gemacht. Ihr Vergehen: der Aufbau kommunistischer Zellen in Tirol und die Be­günsti­gung des Feindes durch die Förderung kommunistischer Bestrebungen. Das Gericht in München verurteilt die Angeklagte mit sechs anderen zum Tod. Zwischen Urteilsverkündung und Vollstreckung des Todesurteils, mit der Rosmarie Thümingers literarische Annäherung an die histo­rische Person Stürzl endet, schiebt sich die Lebensgeschichte der Kommunistin als exemplarische Antwort auf die Frage des Erzählers „Wie waren sie zu denen geworden, als die sie nun sterben würden?“ (S. 10).
Der Erzähler referiert aber nicht nur biographische Da­ten, sondern verknüpft Stürzls Lebens­sta­tionen mit zeit­ge­schicht­lichen Ereignissen, die die Protagonistin mit offenen Augen als Zeitzeugin miterlebt, zu einer Geschichte. Leerstellen werden behutsam mit fiktionalen Ele­men­ten aufgefüllt zum Zweck, Stürzls politisches Engagement plausibel zu machen:
Geboren im Arbeiterbezirk Wien-Favo­riten als Tochter eines Pferde­knechts und einer Bedienerin über­sie­delt Adele mit ihren Brüdern nach dem Tod der Mut­ter ins südmährische Boroditz zu Tante und Großvater. Ihren Lebensunterhalt ver­dient die 10-Jährige selbst als Kinds­dirn bei einem Bauern. Anders als ins Wien leidet sie auf dem Land keinen Hunger, da­für aber unter dem Verlust der Familie und der Lieblosigkeit ihrer Umgebung, denn für Freundlichkeit ist keine Zeit. Als der Vater wenig später stirbt, wird sie zu einer Tante nach Taß­witz weitergereicht, die Adele als Magd im Pfarr­­widum unter­­bringt. Der Pfarrer, unbarmherzig, unge­recht und jähzornig, prü­gelt ihr den Grundsatz ein: „Es gibt ein Oben und ein Unten, daran ist nicht zu rütteln, diesem Prinzip haben sich alle zu fügen. Das ist Gottes Wil­le. Gott hat alle an ihren Platz gestellt, die einen zur Pflicht, ihre Macht auszu­üben, die anderen zum Ge­hor­sam.“ (S. 23) Die Tante sekundiert ihm: Dienst­bo­ten, ins­­besondere weibliche, haben keine Rechte; sich demütig zu fü­gen ist ihre einzige Be­stimmung. Adele rebelliert und flieht. Sich an das vä­ter­liche Diktum erinnernd: „Stadt­luft macht frei“, zieht sie nach Wien und wird La­denmädchen und Haus­halts­hilfe bei einer jüdischen Greißlerfamilie, die sie anständig entlohnt, ihr das erste ei­ge­ne Zim­mer gibt und sie wie ein Familienmitglied behandelt. Diese positive Er­fahrung be­wahrt sie davor, die antisemitischen Ressenti­ments ihrer Mitbürger zu tei­len, nicht aber, sich der Ar­beiterbe­wegung an­zu­schlie­ßen. Durch ihre Kontakte zur sozialdemokratischen Bewegung ist sie zum ersten Mal im Leben nicht mehr auf sich allein gestellt: Sie gehört zu einer Ge­mein­schaft und fühlt sich stark: Das sozial­demokratische Programm
 - der Kampf gegen die ungerechte soziale Ordnung - ist auch Adeles Kampf; zum ersten Mal sieht sie eine Zukunfts­per­spektive: Die durch Vor­träge und die Lektüre sozialdemokratischer Schriften erworbene Bildung erlaubt ihr, Kritik zu arti­ku­lieren, und stärkt ihr Selbst­ver­trau­en. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zieht Adele nach Budapest, wo sie zum Kinder­­­mäd­chen bei einer gut­bür­ger­­lichen Familie aufsteigt und ihren spä­teren Mann Hans kennenlernt, der ihre Idea­le teilt und mit dem sie nach dem Krieg eine Existenz in Kufstein aufbaut. Obwohl sozial­demokratisches Engagement aufgrund der politischen Lage gefährlich ist, sich die beiden ihren Platz in der Gesellschaft erarbeitet haben und Hans zur Ruhe kom­men möchte, arbeitet Adele weiter poli­tisch, zunächst für die Sozial­demo­kra­tische, spä­ter, nach Querelen inner­halb der Par­tei, für die Kommunistische Partei, bis sie verhaftet und hin­ge­richtet wird.

Ros­marie Thüminger zeichnet Adele Stürzl als konsequente, kom­pro­miss- und furcht­­lose Per­son, die Unrecht nicht erträgt, sich durch die Zeitereignisse nicht ein­schüchtern lässt und mit offenen Augen ins Ver­derben geht, aber auch ihre Ideale über das private Glück stellt. Für ihre politische Tätigkeit und den Widerstand gegen das NS-Regime riskiert sie nicht nur das eigene Le­ben, sondern auch das ihres Ehe­manns und nimmt in Kauf, dass ihre Ehe zer­bricht.
Während Thümingers Darstellung von Stürzls politischem Werdegang überzeugt und die Autorin ein sehr genaues Zeitbild zeichnet ­- die Schat­ten­seiten in der Geschichte der So­zial­demo­­kra­tie entgehen ihr eben­so wenig wie die zynische Tatsache, dass jüdische Bürger als gute, öster­reichische Patrioten begeistert in den Ersten Weltkrieg zogen, um wenig später im selben Staat ver­folgt, vertrieben und ermordet zu werden
 - spart sie die Annäherung an die Privat­per­son Stürzl weitgehend aus: So erfahren die LeserInnen zwar, dass Hans in der kinderlosen Ehe leidet, nicht aber, was Adele fühlt. Im Dunkeln bleibt auch, ob Adele jemals über die Auswirkungen, die ihre Aktionen für andere haben, nachdenkt, sie gelegentlich Zweifel, Reue oder auch Angst spürt.
Ganz offensichtlich wollte Thüminger keinen historischen Roman, sondern eine fakten­ba­sierte Bio­gra­phie mit fiktionalen Elementen schreiben, wofür auch die von ihr gewählte Erzähltechnik spricht. Durch die Er-Form und einen distanzierten Erzähler, der vor­wiegend aus der Außen­per­spek­tive meist sachlich und selten wertend berichtet, ist eine Art Heldengeschichte entstanden, in der allerdings die Heldin blass und un­per­sönlich bleibt. Das kann als Defizit empfunden werden, doch wahrt Thüminger dank sparsamer Fiktionalisierung das Wahrhaftigkeitsprinzip. Ein wenig irritierend ist nur, dass sie dieses Prinzip gelegentlich aufgibt, etwa, wenn die Figur Adele wiederholt versichert, wie richtig und gut es sei, Kommunistin geworden zu sein, oder wenn der Erzähler über die emotionale Belastung, die die Haft und die Aussicht auf den Tod für Adele haben muss, Mutmaßungen anstellt.
Abgesehen von diesen geringfügigen Schwächen ist Mit offenen Augen ein lesenswertes und wichtiges Buch, mit dem Thüminger anschaulich und lehrreich eine Lektion in Zeit- und Wirtschaftsgeschichte, Regional- und Parteien­ge­schich­te, in der Geschichte der Frauenrechts­­be­wegung und des Widerstands gegen das NS-Regime erteilt. Sie erinnert nicht nur an die bewegte poli­tische Geschichte Öster­reichs in der ers­ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Lage der sozial benachteiligten Bevöl­ke­rungs­schichten
 - der Ungebildeten, Zuge­wan­derten, der jüdischen Bürger, der Frauen -, das Erstarken der sozialdemokratische Bewegung als Reaktion auf die Missstände und die Parteienkämpfe im Österreich der Zwischenkriegszeit, sondern leistet auch Auf­klärungs­arbeit: Adele Stürzls Leben und Wirken ist zwar Thema einiger wissen­schaft­licher Aufsätze, doch dürfte es der brei­te­ren Öffentlichkeit wenig bekannt sein. Übrigens enthält das Buch auch ein Glossar mit Informationen über politische Ereignisse und historische Personen, die in Thümingers Text erwähnt werden, doch leider ist es nicht vollständig.

 
 

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Anna Maria Leitgeb, Der Boden unter den Füßen. Roman
Bozen: Edition Raetia, 2009, 232 Seiten
 

 
Regionale Zeitgeschichte als Stoff in Anna Maria Leitgebs Der Boden unter den Füßen.

Südtirol – Amerika 1938-1945: Für das Südtiroler Bauernmädchen Moidi, 15, ist das Erlernen eines Berufs nicht vorgesehen, sie arbeitet, wie es üblich ist, am elterlichen Hof, wo Vater, Arbeit und Gebet regieren. Moidi ist mit ihrem Los zufrieden, solange sie nur donnerstags zur Kirchenchorprobe gehen darf. Dort kann sie dem Dorflehrer nahe sein, der die Verliebtheit des Mädchens rücksichtslos ausnützt und es nach einer kurzen Affäre schwanger fallenlässt. Dieser Vorfall katapultiert das Mädchen aus seiner gewohnten Welt, denn der Vater lässt sich weder von seiner Frau, die in der von Kirche und patriarchalen Strukturen bestimmten bäuerlichen Welt ohnehin keine Stimme hat, noch vom Pfarrer beschwichtigen und verstößt seine Tochter. Auch rundum, aber kaum bemerkt von Moidi bricht die Welt zusammen. Schon längst hat die Faschisierung das Bergdorf erfasst: Unterrichtet wird von einer Italienerin in italienischer Sprache, während der deutschsprachige Dorflehrer von Hof zu Hof zieht, um gegen ein paar Lebensmittel den Kindern heimlich Unterricht in deutscher Sprache zu erteilen; Eltern werden gezwungen, ihre Kinder in der faschistischen Jugendorganisation Ballila anzumelden; die Faschistenuniform ersetzt die traditionelle Tracht, faschistische Aufmärsche das Ausrücken der Blasmusikkapellen; Grabinschriften müssen in Italienisch abgefasst werden, Plätze werden umbenannt, deutsche Denkmäler entfernt; das Hitler-Mussolini-Abkommen spaltet die Dorfbevölkerung in Weggeher und Dableiber. Eine Dorfgemeinschaft gibt es nicht mehr, Propaganda, Agitation, Angst, Unsicherheit und Zwietracht beherrschen das Dorfleben. Da weist ausgerechnet der Pfarrer Moidi einen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage: Er vermittelt sie und das ungeborene Kind an eine ihm bekannte jüdische Familie in Bozen, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt hat. Im jüdischen Haushalt wird aus Moidi Maria, die noch hochschwanger mit Familie Hellmann vor den Nazis nach Amerika flüchtet. Während Frau Hellmann aus Sorge um die zurückgebliebenen Eltern krank wird und einzig Trost in Zev Wolfgang, Marias Sohn, den sie an Kindesstatt annimmt, und in der Hinwendung zum jüdischen Glauben findet, gelingt es Herrn Hellmann und Maria, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Herr Hellmann baut sich eine neue Existenz auf und aus dem Bauernmädchen Maria wird die schicke Städterin Mary: Sie findet im Milchmann Sam einen Verlobten, geht arbeiten, eröffnet ein eigenes Bankkonto und glaubt an eine gemeinsame Zukunft mit Mann und Kind, bis Amerika in den Zweiten Weltkrieg eintritt und bald darauf die Todesnachricht von Sam eintrifft. Die verzweifelte Mary wird zur Erholung auf einen Besuch nach Hause geschickt, der für sie zur Enttäuschung wird. Im Dorf ist sie eine Fremde, die von der Dorfbevölkerung als Exotin bestaunt wird. Die Eltern sind verbraucht, gebrochen und schweigsam. Der Vater beharrt immer noch auf seinen Prinzipien und quittiert Marias Frage, warum er sie verstoßen musste, lakonisch mit Tja, Weibele, Ordnung muss sein (S. 195). Auch in Bozen hat sie wenig Erfolg: Das Eigentum der Familie Hellmann wurde arisiert, die Behörden helfen nicht. Mary reist unverrichteter Dinge nach Amerika zurück, wo sie erfährt, dass sich die Hellmanns ohne eine Adresse zu hinterlassen nach Australien abgesetzt haben; Bekannte der Familie leugnen sie zu kennen und eine Recherche der Behörden ergibt, dass Zev Wolfgang als Frau Hellmanns Sohn gemeldet ist und Maria damit auch keinen Anspruch auf ihn erheben kann. Nun bricht sie endgültig zusammen und wird in die Psychiatrie eingeliefert. Nach ihrer Entlassung kehrt sie Amerika den Rücken und überlegt das Angebot der italienischen Behörden anzunehmen, beim Wiederaufbau des Landes zu helfen und als Englischlehrerin zu arbeiten.
Moidis Geschichte ist die Geschichte eines Mädchens, dem mehr als einmal der Boden unter den Füßen weggezogen wird, das aber immer wieder Fuß fasst. In gewissem Sinn ist ihre Geschichte auch die Geschichte einer zarten Emanzipation: Aus Moidi wird Maria, aus Maria Mary, wobei die äußere Verwandlung schneller und gründlicher vonstatten geht als die innere. Bereits in der Nacht der Ankunft bei den Hellmanns in Bozen schneidet sie ihr langes Haar ab, einerseits um zu zeigen, dass sie nun Städterin ist, andererseits um Buße zu tun und gemäß dem bäuerlichen Kodex einzubekennen, dass sie ihre Ehre verloren hat. Auch die Schmerzen der Geburt wertet sie als Bußübung und exorzistischen Akt, den Geliebten auszutreiben. In Amerika legt sie ihre bäuerliche Tracht ab, kleidet sich städtisch und beginnt sich zu schminken, aber erst als Religion für sie immer mehr an Bedeutung verliert, sieht sie den bäuerlichen Kodex, der ungeschnittenes Haar mit Jungfräulichkeit und intakter Ehre gleichsetzt, als töricht an. Erst jetzt stellt sie die bis dahin akzeptierte Ordnung in Frage und bemerkt die Kehrseiten des katholischen Glaubens, der für sich in Anspruch nimmt, der einzig selig machende zu sein, der die Mutter zwingt, jedes Jahr ein Kind haben zu müssen, oder der Pfarrer verlangte Rechenschaft, der Unkeuschheit als Todsünde anprangert, „gefallene“ Mädchen zu Höllenqualen verdammt und ihren eigenen Vater berechtigt, sie zu verstoßen, um Schande von der Familie abzuwenden (S. 138). Eigentlich erzählt Der Boden unter den Füßen von Verrat, Betrug und Verlust, gebündelt in der Protagonistin Moidi. Als Privatperson leidet sie unter dem Betrug und Verrat des Dorflehrers, der Eltern und der Hellmanns, die sie um die Heimat, die Familienzugehörigkeit und das Kind bringen, als Südtirolerin ist sie Leidtragende der Option und des Krieges.
Anna Maria Leitgeb hat mit Moidi und ihrem Umfeld fiktive Zeitzeugen geschaffen, die den historischen Fakten Fleisch geben. Im Vordergrund steht das Erleben der Zeitereignisse durch mittelbar Betroffene, das die Autorin sorgfältig, gründlich und ausgewogen schildert. Dadurch, dass der Erzähler nicht nur seine Protagonistin Moidi, sondern auch den Bauern, die Bäurin und die italienische Lehrerin sprechen und denken lässt und auch gelegentlich als auktorialer Erzähler wertend in Erscheinung tritt, werden die Ereignisse Faschisierung, Option und Rassismus besonders plastisch und aus verschiedenen Perspektiven geschildert: Auf der einen Seite stehen der zu kurz gekommene Lehrer, der sich parolenschreiend fürs Reich begeistert, die politisch unbedarfte, propagandagläubige Mutter, die Gerüchten Glauben schenkt, der trotzige Bruder, der sich für die NS-Ideologie begeistert und im Feld fallen wird, auf der anderen Seite behauptet sich der Vater, der in Hitler den wortbrüchigen Verräter sieht, Regime und Diktatoren für austauschbar hält und sich bewusst ist, dass Auswandern das Zurücklassen des eigenen und die widerrechtliche Annexion fremden Besitzes bedeutet. Dazwischen positioniert sich der uneinige Klerus, der mehr oder weniger offen für Hitler oder Mussolini votiert. Dazu kommt der alltägliche Rassismus, der sich gegen Ladiner, Italiener, Juden und Farbige wendet, sowohl in Südtirol als auch in Amerika zu registrieren ist und Opfer zu Tätern macht: Die ladinische Mutter, die von den Italienern als eine der Ihren und von den deutschen Südtirolern als Krautwalsche diffamiert wird, hat selber Vorbehalte gegen Juden, und die jüdischen Auswanderer Hellmann bemerken die Diskriminierung der Schwarzen in Amerika nicht. Ein weiteres Thema des Romans ist folgerichtig die Verfolgung und Ermordung von Juden als Teil der Regionalgeschichte. Allerdings überzeugt hier die Autorin erzähltechnisch nicht ganz: Dass sie in Hellmanns Wohnung Juden auf der Flucht sich gegenseitig über Details der Judenverfolgung informieren lässt, wirkt aufgesetzt und unpassend. Ansonsten ist aber die Autorin um Authentizität bemüht. Das gelingt ihr auch auf sprachlicher Ebene besonders in der Schilderung der bäuerlichen Welt (es gibt allerdings kein Glossar, in dem die zahlreichen Südtirolismen und Regionalismen wie z.B. Gitsch, Leps, Marende, Törggelen, Boxelemehl etc. erklärt werden). Leitgebs Sprache ist sehr anschaulich und bilderreich, allerdings sind nicht alle Bilder wirklich stimmig und passend. Ihre kreativen Wortschöpfungen (... lappelte die Kälte gegen Moidis Wangen, S. 46) und die Adaption von Metaphern und Vergleichen (Die Luft war weich wie laue Milch, S. 91, [Moidi] war eine Nussschale in einem Gebirgsbach..., S. 231) sind nicht immer überzeugend, insbesondere wirkt manchmal die durch Kulmination erzeugte Bilderdichte und der Mix verschiedener Bildfelder störend (Auf dem wie von innen her erleuchteten bodenlangen weißen Tuch , das den Altar bedeckte, stand pulsierend das weißliche Auge der Monstranz, und darüberhin splitterten Kerzenflammen kaleidoskopartig auseinander und gaukelten und verdichteten sich gegen beide Seiten des Altars hin zu Wellen und Strudel und wälzten sich schließlich durch den Altarraum und fraßen die Luft auf..., S. 45). Hier wäre eine Entfrachtung wünschenswert, damit die Bilder ihre Wirkung entfalten können und sich nicht gegenseitig behindern. Störend wirken auch die Stilbrüche bedingt durch den Mix der Stilschichten innerhalb eines Satzes („Bringt das Vieh auf den oberen Acker!“, schrie der Vater, wie sie alle durcheinanderstoben und tscheperten mit den Kübeln, S. 42), das unmotivierte Abgleiten in die Umgangssprache im Erzählerbericht (Moidi hatte keine Ahnung von nichts..., S. 105), falsche Präteritumformen (... schuf sie an, S. 49, Der Spiegel hing von einem rostigen Nagel, S. 5) und die häufig verwendete und wohl aus dem Englischen entlehnte Konstruktion „jemanden etwas tun machen“ (z.B. ... [zwei Carabinieri] machten die Männer kuschen und heimgehen, S. 42). Abgesehen von einigen sprachlichen Mängeln ist Anna Maria Leitgebs Roman Der Boden unter den Füßen ein durchaus gelungenes Buch, das inhaltlich und thematisch ansprechend und kurzweilig zu lesen ist. In ihrem Buch beleuchtet sie gesellschaftliche Strukturen und die Rolle der Kirche in den politisch bewegten Jahren 1938-1945 und leistet damit wie Joseph Zoderer mit seiner Erzählung  Wir gingen und Helene Flöss mit ihrem Roman Schnittbögen einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der regionalen Zeitgeschichte.
 
 

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Peter Oberdörfer, Mauss. Roman
Bozen: Edition Raetia 2009

Marquis de Sade, 17 Morde und ein Titelheld, der lieber Fisch als Fleisch isst

Friedrich Mauss, Titelheld von Peter Oberdörfers zweitem Roman, ist als Theater­autor ­zu wenig prominent, um auf dem Radar der Klatschpresse aufzu­tau­chen, aber bekannt genug, um im Nationaltheater der Haupt­­stadt aufgeführt zu werden. Sein aktuelles Stück „Temperatur der Wahrheit“ handelt von Marquis de Sade, womit die Romanfigur Mauss eine Gemeinsamkeit mit seinem Schöpfer teilt: Peter Oberdörfers gleich­namiges Stück über den Marquis ist 2005 erschienen. Und tatsächlich spielt das Stück im Roman eine prominente Rolle: Von der ersten Besprechung mit dem Dramaturgen über die rituelle Ver­bren­nung des umfangreichen Recherchematerials im Garten bis zu den Proben im Theater erleben die LeserInnen mit Mauss die Ent­stehung des Stücks hautnah mit. Sie bekommen Einblick in die Arbeitsweise eines Schriftstellers und durch Proben aus dem Text Einblick in das Stück.
Mit den Proben, denen Mauss als stiller Zuhörer beiwohnt, beginnt für den Protagonisten eine tur­bu­lente Zeit. Er, der seit seiner Scheidung von Nina zurückgezogen am Land lebt und ein einsames Haus am Waldesrand bewohnt, den Kontakt zu den Dorfbewohnern auf die unum­gäng­lichen Gespräche beim Ein­kaufen beschränkt, alle Einladungen zu Dorffesten ausschlägt und sein ver­meintliches Image als „schrulliger Sonderling“, „kau­zi­ger Eigenbrötler, vielleicht Schlim­meres“ pflegt, beginnt eine Beziehung mit der mindestens zwanzig Jahre jüngeren Dar­stellerin der Juliette, Verena Stein. Gleichzeitig macht eine Orga­ni­sation namens „Christliche Aktion“ gegen sein Stück mobil, er erhält einen Drohbrief und eine Mordserie befördert die Stadt in den Aus­nahmezustand. Die scheinbar un­mo­tivierte und ziellose Hinrichtung eines jungen Pärchens im Votiv­park, eines alten Bauern bei einer Kiesgrube, eines hollän­disches Touristen­ehe­paars auf offener Stra­ße, eines zukunftsfrohen Sport­schwim­mers in der Schwimmhalle, einer vier­köpfigen Fa­mi­lie im Schlaf und sechs betagter Kirch­gänger und des Meßners vor dem Frühgottes­dienst bringt Stadt- und Kir­chen­oberhäupter, einen Fernsehsender, einen klischee­behafteten po­pu­lis­tischen Politiker, Jugend­ban­den und eine Bürgerwehr auf den Plan, schließlich scheint sich die ganze Stadt zu einem einzigen Demon­stra­tions­zug zu formieren, ge­gen den die Polizei aufmarschiert.
auss zieht das Grauen an: So wie er sich wenige Monate zuvor intensiv mit Mar­quis de Sade auseinander­ge­setzt hat, so wird jetzt die Beschäftigung mit den Morden zur Beinahe-Obsession: Er beginnt kriminalistische Bücher über Serienmorde zu lesen, besucht die Tat- und Fundorte, legt Blumen nieder und fotografiert, spricht mit Angehörigen der Opfer, recherchiert akribisch. „Etwas in ihm genoss diese Morde. Das beunruhigte ihn. Und darüber hatte er zu schreiben. Er gestand es sich ungern ein, so wie er es sich ungern eingestanden hatte, dass irgendetwas in ihm die An­schlä­ge vom 11. September genoss. Er verabscheute dieses tausendfache Morden, na­tür­lich, aber das war nicht alles. Er konnte sich ehrlich empören über diesen un­ge­heuer­lichen Anschlag, er konnte Mitleid mit den Opfern und ihren Ange­hö­ri­gen empfinden, und dennoch war da auch diese Lust.“ Diese Lust am Grauen, die nicht nur Mauss, sondern auch die Medien und Politik erfasst, ist ein zentrales Motiv im Roman. Ebenso wie die Angst: Angst hat Mauss nachts in seinem einsam gelegenen Haus ohne Alarmanlage, Angst hat er in der noch jungen Be­ziehung mit Verena, ob sie die gemeinsame Nacht als Fehler ansieht, Angst hat er um sie, als er sie im Chaos der Demonstration verliert, eine kollektive, diffuse Angst, ausgelöst durch die Morde, führt in der Bevölkerung zur Massen­hys­te­rie und Anarchie. Oberdörfer tippt diese Phänomene in seinem Roman aber nur an: Er analysiert nicht, sucht keine Erklärungen, übt keine Kritik, lässt seinen Protagonisten nicht tiefgründig reflektieren, er bleibt beschreibend an der Ober­fläche, sodass die Versprechungen des Klappentexts, Mauss sei ein „spannender, ge­sell­schafts- und medienkritischer Roman, der die Brüchigkeit des All­tags seit 9/11 auf­zeigt“, nicht eingelöst werden. Auch die versprochene Spannung wird nicht bis zum Ende durch­gehalten: Der eigens eröffnete Erzählstrang, in dem Be­troffene über ihre er­mor­de­ten Angehörigen oder über das Auffinden der Leichen berichten, versandet nach temporeichem Start mit der haarsträubenden Bilanz von 17 Morden schon im ersten der drei Bücher des Romans. Da sich die Mordberichte immer wieder in Mauss’ Geschichte schieben, obwohl sie ein Jahr später stattfinden, liegt der Verdacht nahe, Mauss könnte in die Morde verwickelt sein. Dieser wird auch noch geschickt genährt durch Mauss’ außerordentliches Interesse an den Hin­richtungen, sein mehr als einmal artikulierter Gedanke, er habe Lust jemanden um­zubringen und der Verdacht der Nachbarn, er sei möglicherweise Schlimmeres als ein Sonderling. Leider spinnt der Autor auch diesen Faden nicht bis zum Ende: Die Zensur in Maussens Kopf revidiert jeden Mordgedanken prompt, sein Schreiben ist sein Ventil, und spätestens seit er um Verena wirbt, ist klar: bei diesem Mann, der das Wasser liebt, lieber Fisch als Fleisch isst, Bücher, Kino und Musik mag und gerne Anekdoten aus seinem Schriftstellerleben erzählt, handelt es sich um einen Durchschnittsbürger, dem keine nennenswerten Geheimnisse und Ab­gründe, dafür aber wohl eine gewisse Fadesse nachgesagt werden können. Zu diesem Zeitpunkt sucht Mauss allerdings auch nicht mehr das Verbrechen, son­dern die Liebe, womit der Roman die im ersten Buch stark präsenten Elemente des Kriminalromans endgültig abgelegt hat. Ob Mauss die Liebe findet, bleibt wie alles andere im Roman durch ein unvermitteltes Ende offen.
Fazit: Zu viele offene Baustellen (eine Mordserie, Anarchie in der Stadt und eine Liebesgeschichte, alle mit offenem Ausgang), abrupt abgebrochene Spannungs­bögen, ein loser zweiter Erzählstrang und die Unent­schie­denheit zwischen verschiedenen Genres sind klare Schwächen des Romans. Mauss’ klare Devise „lieber Fisch als Fleisch“ hätte dem Roman gut getan.
 
 

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