Selma Mahlknecht, Vom großen Ganzen Innsbruck: Edition Laurin, 2012
Das große Ganze in Mutters Marmelade Selma Mahlknecht s Erzählband „Vom großen Ganzen“ nähert sich den existenziellen Fragen auf märchenhafte, zuweilen allzu rührselige Weise.
Über einen Erzählband ein Urteil zu fällen, ist meist nicht ganz einfach, weil man nur schwerlich allen einzelnen Erzählungen des Bandes gerecht werden kann. Selma Mahlknechts Erzählband Vom großen Ganzen ist da keine Ausnahme. Die sieben Geschichten, von denen drei sehr lang und die restlichen vier unverhältnismäßig kurz ausfallen, sind von unterschiedlicher Qualität, nicht alle überzeugen inhaltlich, vor allem die Auflösung der durchaus originellen Situationen, die Mahlknecht erfindet, wirken gelegentlich banal und unpassend. Vom großen Ganzen, in der edition laurin erschienen, versammelt Geschichten, die um so große Fragen wie jene der menschlichen Existenz, um den Sinn des Lebens und den Tod kreisen – eben um „das große Ganze“. Ihre Hauptfiguren sind entweder junge Menschen, die sich noch nicht in ein Leben gefunden haben und deren Gedanken um eine Zukunft kreisen, die manchmal nicht zuletzt aufgrund äußerer Umstände höchst ungewiss erscheint, oder alte, die am Ende ihres Weges auf ihr Leben zurückblicken – ein wenig unglücklich, teilweise auch resigniert sich gedanklich mit dem Tod beschäftigen. So richtig im Leben stehen Mahlknechts Figuren dagegen nie, ihre Position ist eher die am Rand, von Beobachtern. Eröffnet wird der Band von jener Erzählung, die titelgebend wirkt und mit Abstand die längste des gesamten Bandes darstellt, sie umfasst rund ein Drittel der insgesamt 150 Seiten. Ein pubertierendes Mädchen, das sich durchs Leben schnorrt anstatt zur Schule zu gehen oder zu arbeiten, erzählt von ihrem Leben im Dorf, von einer Bekanntschaft mit einem Obdachlosen, einem Ausflug in die Disko samt anschließendem Autounfall, der jedoch glimpflich ausgeht. Über allem schwebt die Frage, die sich das junge Mädchen im Innersten immer wieder stellt, nämlich was „das große Ganze“ ist. Die Antwort, die sie am Ende auf diese höchstkomplexe Frage nach dem Sinn des Lebens findet, ist mehr als simpel: „Und vielleicht, vielleicht ist das das große Ganze: Dass alles noch einmal gut gegangen ist und diese Einfachheit und dieser Frieden und Mutters Marmelade …“ – Man könnte nun sagen, diese banale Antwort sei noch dem Alter der erzählenden Figur geschuldet. Doch scheint das flach-rührselige Ende der ersten Geschichte bezeichnend für den gesamten Erzählband. Der Ton von Mahlknechts Erzählungen ist stets ein versöhnlicher, die großen Fragen, die aufgeworfen werden, lösen sich auf in (allzu) gefällige, naiv-simple und zuweilen geradezu kitschige Antworten; höchst traurige, dramatische Ereignisse lassen die Figuren nie völlig verzweifelt zurück, immer findet sich am Ende ein Hoffnungsschimmer, an dem sich Mahlknechts Figuren – und die Leser – aufrichten können. Es hat etwas Erfrischendes, wenn nicht alles immer düster enden muss und unversöhnlich nebeneinandersteht. Allzu gewollte, herbeigezauberte Happy Ends bergen allerdings schnell die Gefahr, zu flach zu werden und ins Banale abzugleiten. Das passiert etwa in der letzten Geschichte, „Manfred in der Kiste“, in der sich ein Mann in einem Sarg wiederfindet und verständlicherweise in Panik gerät (die psychologisch in keiner Zeile überzeugend geschildert wird), am Ende jedoch erlöst wird und tatsächlich „aufersteht“: „Was für ein Himmel. Riesig, freundlich. Wie schwerelos es sich darin fliegen lässt. Und nun füllt er sich allmählich mit Licht, oder ist das die Liebe?“ – Man möchte solche Sätze gern ironisch lesen, doch finden sich für eine solche Lesart insgesamt zu wenige Indizien. Eher umweht Mahlknechts Geschichten die Aura des Märchenhaften, Magischen, nicht alles muss mit rechten Dingen zugehen und am Ende kann sich schon einmal ein Wunder wie eine plötzliche Auferstehung aus einer Holzkiste ereignen. Stärker sind daher jene von Mahlknechts Erzählungen, in denen sie der Versuchung eines allzu glatten, schönen Endes widersteht und wenigstens eine kleine Dissonanz bestehen bleibt – und auch jene, in denen sie die kindliche Perspektive wählt, zu der das Märchenhaft-Magische, die naiv-staunende Sichtweise, die die Autorin propagiert, sehr viel besser passt. Die Geschichte, in der sich das zweifellos vorhandene Erzähltalent der Autorin am deutlichsten zeigt, ist daher auch „Marseille“, die von einem unheilbar kranken Jungen berichtet, der – obwohl er weiß, dass er bald sterben wird – trotzdem lesen und schreiben lernen möchte und sich nichts sehnlicher wünscht als einen Fußball. Einfühlsam und poetisch zeichnet Mahlknecht hier das Bild eines starken, reifen Kindes, das zwar ständig mit dem Tod konfrontiert wird und sich doch seine Kindlichkeit bewahrt und immer noch staunen kann über die kleinen Dinge dieser Welt, den Mond oder einen Fußball. Den hauptsächlichen Reiz von Mahlknechts Erzählungen macht sicher diese Aura des Märchenhaft-Fantastischen aus, eine Naivität, die man, wenn man möchte, als mutig deuten kann. Aber die allzu leichten, platten Schlüsse, mit denen Mahlknecht ihre Erzählungen über die schwerwiegenden Fragen der menschlichen Existenz, über „das große Ganze“, versieht, verstören den erwachsenen Leser dann doch. – Es sei denn, er glaubt selber womöglich an Auferstehungen aus Holzkisten und daran, dass „das große Ganze“ in Mutters Marmelade enthalten ist.
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