Christine Hackl-Neuner, Rückgrat. Historischer Tiroler Roman Reith im Alpbachtal: Verlag Edition Tirol 2010
Vom Kraxentrager zur Schlacht in Spinges
Zwischen dem Pfitscher Joch und dem Brennerpass liegt der Kraxentrager, 2999m hoch. Es ist eine lange, aber keine schwierige Tour. Wenn Sie allerdings ein Kind von 12 bis 13 kg in der Kraxe am Rücken mittragen, zieht sich der Weg. Mit der Zeit meldet sich das Rückgrat und man schwitzt gehörig. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie hätten kein Kind sondern einen ausgewachsenen jungen Mann zu tragen und es wäre nicht trocken und warm, sondern Schnee läge auf dem Steig, die Steine wären rutschig und ein eisiger Wind pfiffe über den Alpenhauptkamm. Der Schweiß tritt aus allen Poren und das Rückgrat schmerzt förmlich bei der alleinigen Vorstellung. So geht es Valentino, kurz Vale genannt, der Tobi, den Bruder seiner geliebten Franziska zu Winterende 1797 nach der Schlacht von Spinges schwerverwundet übers Pfitscher Joch nach Hause schleppt. Das Pfitscher Joch ist ein Alpenpass, der das Südtiroler Pfitschtal mit dem Zillertal verbindet und zum Prüfstein im Roman Rückgrat wird. Damit sind wir schon fast am Ende von Christine Hackl-Neuners Buch, das sie selbst als „Historischen Tiroler Roman“ bezeichnet. Auf die Historizität wird schon in der „Historie“ hingewiesen, einem dem Roman vorgestellten geschichtlichen Abriss nach Franz Kolbs Das Tiroler Volk in seinem Freiheitskampf 1796 – 1797. Als Leser taucht man in die Zeit des ersten Koalitionskrieg (1792-1797) ein, den das habsburgische Österreich gegen den Feldherrn Napoleon Bonaparte führt. Die Entscheidung, Tirol anzugreifen, fällt vor allem wegen der Alpenpässe, die Nachschub und Rückzug für die Österreicher sicher stellen. Die Außerfernerin Hackl-Neuner weicht im Roman dem Tiroler Freiheitskampf 1809 aus, ein geschickter Schachzug. Der Verzicht auf so große Figuren wie Hofer, Haspinger und Speckbacher eröffnen ihr mehr Raum für die gesellschaftlichen Voraussetzungen, den Alltag der Menschen zu Ende des 18. Jahrhunderts. Mit der genauen Kategorisierung – sie spricht von einem Tiroler Roman – verweist sie auf die Regionalität des Textes. Heimatbewußtsein und Stolz auf die eigene Kultur sind wichtige Aspekte für die Autorin. Allerdings verlässt sie leider die realen Orte und erfindet die Flurnamen im Zillertal oder eines benachbarten Seitentals des Wipptals, denn in der Nähe des Pfitscher-Jochs müssten die Höfe und Dörfer liegen. Dabei sieht man am Beispiel des Kraxentragers, dass die Realität oft die schönsten Geschichten und vor allem Namen hergibt. Manche Flurnamen erinnern eher an das Außerfern wie z.B. Trostlos, das an Namlos im Außerfern erinnert. (Alle Außerferner mögen mir diesen Schluss verzeihen.)
Doch Valentino, der noch immer Tobi auf dem Rücken übers Pfitscher Joch schleppt, soll sich zu einer kurzen Rast seiner Last entledigen und uns inzwischen seine Geschichte erzählen. Der Sohn eines italienischen Weinbauern und einer Tirolerin wird aus Rache – seine Mutter hatte ihn und seinen Vater aus Sehnsucht nach den Tiroler Bergen verlassen – zum Spitzel der Franzosen. Mit dem Auftrag, die Gegend und die Gegebenheiten Tirols auszukundschaften, findet er auf dem Gutshof Ferdinand von Auersperg Arbeit. Beim Schachspiel mit dem Gutsherrn erzählt Valentino nach und nach von seinen Lehrjahren bei seinem Onkel in Rom und auf einem Gestüt in Spanien. Als der Knecht des Schwiegersohnes verstirbt, schickt von Auersperg den italienischen Knecht als Hilfe auf den Schönberghof. Dort trifft Valentino auf den 18-jährigen Tobias und dessen ältere Schwester Franziska. Die Tochter des Hauses hat von ihrer verstorbenen Mutter viel über Pflanzen und Krankheiten gelernt, deshalb ist sie als einzige Frau am Schönberghof nicht nur für Küche und Keller zuständig, sie gilt im Dorf als Pflanzenkundige und Heilerin. Immer wieder ruft man sie zu Hilfe. So muss sie ihre Freundin Katharina zusammenflicken, die vom Vater verprügelt worden ist. Es fällt auf, dass die Autorin der Kraft ihrer Sprache nicht immer vertraut.
„Wenn Kathi ein Krüppel bleibt, dann bringe ich den Schneider Emmerich um“, gab er aufgebracht von sich. „Rede nicht so einen Blödsinn, sie wird wieder gesund. Franzi kann ihr schon helfen.“ Den Blödsinn bezog Tobias auf die Gesundheit, nicht auf das Umbringen des Schneiderbauers. (S. 185)
Tobias Nachsatz „sie wird wieder gesund“ verweist bereits auf diesen Teil von Romans Rede. Den Nachsatz des auktorialen Erzählers braucht der Leser nicht mehr, der Text würde stärker. Der Italiener kommt Franziska ob der Bedrohung durch die französischen Truppen als Störenfried vor, da hilft Valentino auch sein Fleiß und dem Interesse an den Anforderungen an einen Bergbauern wenig. Hackl-Neuner lässt in Form von Beschreibungen der Tagesabläufe am Schönberghof und mittels Erzählungen von Tobias und dessen Vater immer wieder Wissenswertes über den Alltag einfließen. Erklärungen zum Flachsanbau, zu christlichen Feiertagen, Heiligenlegenden und Sagen wechseln einander ab. Gut sind diese Schilderungen, wo sie sich nahtlos in die Geschichte einfügen.
Für Franziska, die mit einer schweren Kraxe am Rücken aufstieg, schien es eine gewohnte Anstrengung zu sein. Eisenbeschlagene, grobe Bergstiefel gaben im abschüssigen, steinigen Gelände Halt. (S. 58)
Andere wirken wie belehrende Episoden, die hätte man besser in den Text einfließen lassen sollen. Ein Beispiel dafür ist der Holztransport auf Schlitten im Winter: Zum Erreichen der Holzlagerstätte wird mit Schneereifen, heute sagt man meist Schneeschuhe, eine Spur getreten. Ein Satz wie „Aus spannfähigen Weiden wird ein ovaler Holzrahmen gebogen, mit Schnüren, fallweise auch mit Tiersehnen, ein festes Gitterwerk gespannt.“ (S. 305) könnte auch in einem Buch über ein Heimathaus zu lesen sein. Neben den Arbeitstechniken greift die Autorin auch die fehlende Bildung und die zum Teil große Armut auf. Franziska wird von einem Jungen aus Trostlos gebeten, seiner kranken Mutter zu helfen. Trostlos macht seinem Namen alle Ehre. Mit kargem Feld müssen viele hungrige Mäuler gestopft werden. Der Vater der Familie arbeitet den Sommer über bei seinem Vetter, um den erstandenen Hof abzustottern. Die Mutter erkrankt hochschwanger an Lungenentzündung. Die sieben Kinder müssen ohne Brot im Haus sehen, wo sie bleiben. Valentino und Franziska kommen der Familie im Nachbartal zu Hilfe und einander näher. Sie lernen einander schätzen. Wieder zurück am Schönberghof wird die Liebesgeschichte durch ein Zwischenspiel unterbrochen. Eine fragliche Episode ist die vom Dorfpfarrer durchgeführte Teufelsaustreibung an einer an Schizophrenie Erkrankten. Die Autorin beruft sich im Quellenanhang zu Ende des Romans auf eine historische Quelle, die eine derartige Teufelsaustreibung für 1782/83 in Seefeld in Tirol belegt. In sich schlüssig bleibt die Verbindung zum Haupthandlungsstrang fragwürdig. Der Pfarrer unternimmt nichts gegen die Heilerin, die nach seiner Teufelsaustreibung an der Erkrankten herumdoktert. Das vom Pfarrer aufgehetzte Dorf lässt sowohl die Erkrankte als auch Franziska unbehelligt und schädigt das Dorfwirtshaus, indem nach den Predigten des Pfarrers die Gäste fern bleiben. Dabei wäre Franziskas Ausstoß aus der Dorfgemeinschaft kein unwillkommenes Motiv für den Schluss des Romans gewesen. Nur ca. 50 Seiten widmen sich den Kämpfen der Tiroler Schützen mit den französischen Truppen. Im Mittelpunkt steht die Schlacht in Spinges im Pustertal im April 1797. Valentino und Tobi kämpfen Seite an Seite mit anderen Männern und Jünglingen aus dem Dorf. Nach einem brennenden Abschiedskuss zieht Valentino, sich der Liebe Franziskas sicher, nach Südtirol. Bewaffnet sind die Tiroler Truppen mit Gewehren, mit Sensen, Messern und Dreschflegeln. Valentino, der im Laufe des Romans Tirol und vor allem Franziska zunehmend lieben gelernt hat, schickt die Ergebnisse seiner Spionage, seiner Rache, wegen der er nach Tirol gekommen ist, nie in den Süden zu den Franzosen. Die Briefe unter dem Decknamen „Zia Antonella Antonelli“, in denen er über die Anzahl der „Rosenkränze“, der Schusswaffen, der Tiroler Bevölkerung berichtet, schickt Valentino nie ab. Der Italiener kämpft mit Tobi auf Seiten der Tiroler – nicht zuletzt, weil ihn Franziska gebeten hat, auf den Bruder aufzupassen. Die Tapferkeit und der Wagemut der Tiroler Truppen und seltener auch der Widersinn des Krieges werden anhand von ausgewählten Einzelschicksalen beleuchtet. Als blutiges Beispiel soll Anton Reinisch, der Senseler, aus Volders genannt werden:
Er (Valentino) suchte Tobias. Nach dem Gemetzel der Sensenmänner hatte er ihn aus den Augen verloren. Gliedmaßen von französischen Soldaten lagen abgeschlagen, wie von Strohpuppen, neben ihren Körpern. Anton, der „Senseler“, ein einfacher Schmiedemeister. War er nun ein Held? Ein Märtyrer? Ein Verrückter? (S. 369)
Tobias wird im Kampf schwer verwundet. Bis zuletzt hält er an den hären Idealen der Vaterlandstreue fest.
„Weißt du, Vale, eines ist für mich sehr wichtig, und das war all das Leid wert.“ Noch nie hatte Valentino den Schönbergsohn so ernsthaft erlebt. Wie es im Aufruf stand, die Dankbarkeit der Zeitgenossen und der Nachkommen Tirols. Die sollen uns nie vergessen. Sie sollen den Gefallenen und der Heimat die Hochachtung erweisen.“ (S. 393)
Valentino nimmt sich vor, den Bruder seiner geliebten Franziska, so, wie er es versprochen hat, wieder nach Hause zu bringen. Von Sterzing geht es am Karren eines Bauern ins Pfitschtal. Vom Talschluss schleppt Valentino den Schwerverletzten über das Pfitscher Joch heim auf den Schönberghof. Dort sind wir ihm begegnet. Valentino bringt ihr zwar wie versprochen den Bruder wieder. Dieser verstirbt, am Schönberghof angekommen, an Blutvergiftung. Es kommt zum Bruch zwischen Valentino und Franziska. Diesem fehlt ein wenig die Motivation. Franziska findet die Aufzeichnungen des Italieners, die für den Feind bestimmt sind. Auf Grund dieses Verrats wendet sie sich von ihmab, ihrer großen Liebe. Der Tod des Bruders spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
„Vale“, dabei sah sie ihn bedrückt und vorwurfsvoll aus ihren verquollenen Augen an. „Ich habe die Landkarten und den Brief an deine Zia Antonella Antonelli gefunden.“ Kurz hielt sie inne, dann sagte sie tonlos: „Du wolltest uns verraten.“ „Du verstehst die italienische Sprache?“ Valentino sah Franziska völlig verdutzt an. „Ja, unsere Mutter hat es uns gelehrt. Warum, Vale, warum bist du ein Spitzel?“ Lange schwieg er, dann sagte er leise: „Es war mein Hass! Ich war blind vor Hass.“ „Wir haben dir nichts getan!“ „Es war der Zorn auf meine Mutter, Franzi, ich fühlte mich von ihr verraten...“ „Vater ist gestern aufgebrochen.“, unterbrach Franziska ihn. Sie wollte keine Erklärung hören, für Verrat gab es keine Erklärung. (S. 396)
Valentino irrt verzweifelt weg vom Schönberghof ins Gebirge Richtung Pfitscher Joch. Es ist eine Krux mit den Lasten, die man sich so aufbürdet. Die Schultern sind oft nicht breit genug, das Rückgrat nicht stark genug, um alles zu ertragen. Der Kraxentrager zerbricht an der Last.
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