Kurt Lanthaler, Das Delta
Roman
Innsbruck: Haymon 2007
Kurt Lanthaler zeichnet in Das Delta ein ganz außergewöhnliches Italienbild: Es ist ein Italien, wo sich der Nebel zur Tür der Osteria Zum halbierten Christus hereinmacht, langsam die Treppe herabschleicht und sich wie ein alter Bekannter niederlässt, knapp den Hut hebt, um zu grüßen und für den Rest den Mund hält. Als ob die da drin nicht schon genug vernebelt wären von dem Wein, dem Schnaps und ihren Geschichten. Fulminant auch der Auftritt Lanthalers Helden: Als der skurrile Fedele Conte Mamái nach vierzig Jahren keck die Piazza des kleinen Dorfes Maierlengo betritt, verzieht sich der Nebel zunächst einmal in die anliegenden Gassen: „Sag ich’ s doch, sagte ich. Und sah ich mich um.“ Doch als er dem Pappdschungelkämpfer des Videoverleihs vors Schienbeintritt, geraten beide ins Wanken. Piazza, Kiosk, Wind, Deich, Kanäle und Osteria haben sich während seiner Abwesenheit nicht verändert, alles ist beim Alten geblieben. Und doch ist auf den zweiten Blick alles anders: Keine Blumentöpfe, keine Wäsche, die Läden verriegelt, mit Ketten gesichert, als sollten sie einen Schiffsanker heben, der Zettel mit der Aufschrift torno subito – bin gleich zurück, längst verblasst, Maierlengo ein Geisterdorf.
Fedele Conte Mamái wächst als Findelkind des wortkargen Flussschiffers Bombolo im Delta des Po auf, bringt sich an Bord einer chiatta selber Sprechen, Sprichwörter und Geschichtenerzählen bei, trägt seinen Hut auf kurz nach halbelf. Mit zwölf Jahren wird er wegen Aalwilderei zum ersten Mal verhaftet. Als der Appuntato der Carabinieri ihm empfiehlt zu gehen, wohin er will, bloß einen großen Bogen um den Fluss, die Aale und den allergrößten um ihn selbst zu machen, will er nur noch weg. Weg vom Delta, vom Land des Wassers, il paese dell’ acqua, wo der große Fluss nicht mehr ist, wo man die Hand ins Wasser halten und schmecken kann, ob es schon Salzwasser ist oder noch süß, oder beides. Seine drauffolgenden Wanderjahre gleichen dem Leben eines Aals, der es auch kaum schätzt, wenn man ihn schweigend speist, sich lieber unterhält, nach der langen Stummzeit gern Wasser rauschen hört und im Gerede plätschert.
„Einmal Saragossasee hin und retour. Geburt in zweitausend Meter Tiefe. Reise im Larvenstadium, fünftausend Kilometer in drei Jahren. Aufstieg in die Flüsse. Aufwuchs und Fettwerdung. Runde zehn Jahre später schließlich Geschlechtsreife. Folgt Abreise Richtung Saragossasee zwecks Ablaichen. Vorzugsweise bei herbstnebligem Schlechtwetter.“
Als Ingegnere lernt er ein neues Delta kennen, das ∆ der Differenz zwischen Plan und Produkt, Kopierstift und Konstrukt, verbautem und verrechnetem Zement; wieder ist das ∆ sein A und Ω. Später verdient er sich Lohn und Brot als Saraffo im Lunapark, wo er – als ginge es um sein Leben – Eintrittskarten für den halbseidenen Pavillon der Wunder zu kaufen vorgibt, indem er in den Bergen eine Brauerei demontiert, die ein zwielichtiger Geschäftsmann als neuwertig weiterzuverkaufen gedenkt, zu seinen besten Zeiten ist er Schrottsammler, Bastler, Kleinerfinder und Gaswilderer in einem. Erst die Lust auf frischen Aal führt ihn und seinen mit babà, bresaola, baccalà und bottarga bestückten Koffer wieder ins Dorf hinter dem Deich zurück, nach Jahren der Reise zwischen Meer und Bergen:
„Das war kein gutes Erwachen gewesen. Ihr habt es euch so vorzustellen: Hast nicht allzuviel geschlafen, gehst, noch trüben Auges, ans Fenster, öffnest es, du zuckst kurz zusammen unter der Kälte, die auf dich einfällt, und siehst dann das. Siehst erstmal nichts. Nur diese Wand vor dir, anders und größer als jede Wand. Nichts, das du dir wegdenken könntest. Du reckst den Hals aus dem Fenster, wirst wach und wacher und glaubst zunehmend mehr, dir träumte, und reckst dich und versuchst zur Seite zu sehen und etwas anderes, du siehst wieder nichts als eine Wand, leicht schräg diese, aber dunkler als dunkel.“
Die Geschichten, die Lanthalers halbstarker Protagonist dem Leser in diesem kurzen, atmosphärischen Roman mit zweisprachiger Färbung andreht, sind witzig, sprühend und charmant; an Pointen und trockenem Humor mangelt es ihnen jedenfalls nicht. Sein sympathischer Schelm Fedele Conte Mamái hat freilich mit den Grafen des Mittelalters wenig zu tun, er ist ein Aufschneider und Übertreiber in der Manier des Münchhausen, der mit der Welt auch die Zeit verschwinden lässt.
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