Universität InnsbruckUniversität Innsbruck

Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Iris Kathan

           


Hans Haid, Die Landgeherin
Innsbruck:Haymon 2011

Sie haben zu den Dörfern und den Dorfbildern gehört, zu den Rändern, zu den spannendsten Außenseitern himmlisch-katholischer Gebetsdörfer in sogenannten Heiligen Landen.

Hans Haid erzählt in seinem jüngst erschienenen Prosatext „Die Landgeherin“ die Geschichte einer aus dem Passeiertal stammenden Landgehersippe im ausgehenden 19. Jahrhundert. Widmet sich also der Thematik der Jenischen (hierzulande meist Karner, Dörcher oder Laniger) in Tirol und Südtirol, die, verarmt und in ihren Heimatdörfern unerwünscht, durch die Lande zogen und sich durch kleine Dienste, Prostitution, eine da und dort gestohlene Ziege über Wasser zu halten versuchten. Besitzlos waren sie und gesellschaftlich am äußersten Rande, abhängig vom Wetter wie von der Gunst der Bauern und der dörflichen Gewalthaber, aber auch frei in mancher Hinsicht, von manchen Zwängen.  Ausgestoßene Tiroler. Echte Tiroler nach alter Herkunft, fremd und heimisch  zugleich. Einer mündlichen Erzähltradition verpflichtet werden die Laniger im Text zu Trägern von Erinnerung (einem über Generationen weitergegebenen Erfahrungswissen und Geschichtenschatz), verstehen sie die Zeichen eines sich ankündigenden Wandels zu deuten, werden zu Sehern und Visionären. Dem Erzähler dienen sie als Medium harscher Gesellschaftskritik.

In zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen entwickelt Haid die Geschichte vom Landgeher-Tatte, einem geschickten Messerschleifer und Amprellmacher, Geschichtenerzähler und Säufer, seiner Gefährtin, der Landgehermama Maria (eine Heilerin, eine Trösterin der Betrübten, eine Wissende), sowie ihrer ältesten Tochter Ana. Während der Landgehertatte und die Landgehermama durch Tirol ziehend ihr Auskommen suchen, in der Hoffnung ihren Herkunftsort zu erreichen und dort überwintern zu können, löst sich Ana, die, wo sie nur kann, Geschichten aus Kalendern, Bibeln, Wallfahrtsbüchlein aufsaugt, von Eltern und Geschwistern, vom Wunsch getragen eine Madonnenerscheinung zu erleben. Ana sucht, getrieben von der Sehnsucht nach Erlösung und einem unbändigen Willen nach Freiheit, alle ihr erreichbaren heiligen Orte und Kultstätten auf, will sich immer tiefer hineingraben in die alten Geheimnisse der Landschaft, vollzieht eine Rückwärtsbewegung von den Heiligenlegenden der Wallfahrtsorte hin zum „alten Glauben“ hoch oben in den Bergen, zur sagenumwobenen Stadt Dananä, zu den Saligen und wilden Frauen. So liest sich Anas Geschichte auch als Versuch einer Emanzipation. Die Mutter Gottes, die wilden Frauen, die Saligen erscheinen als Fluchtpunkte imaginierter Selbstentwürfe, wobei Vorstellungen vom Reinen und Unschuldigen, Wilden und Freien sehr nah beieinander liegen. Was die Geschichte Anas mit der ihrer Eltern verbindet, ist das Kreisen um die (mythologischen wie realen) Herkunftsorte, die Bewegung einer Rückkehr, eine Herbergsuche letztlich und die bittere Erfahrung des Nie-ankommen-Könnens, einer existentiellen Unbehaustheit. Trost lässt sich lediglich bei Frauen und Kindern finden. Dem Leben zugeordnet, sind sie die Hoffnungsträger des Textes. Es sind vor allem Mutterlinien, die den Fortbestand alles Wertvollen garantieren, es ist der bergende Mutterschoß, der letzte Zuflucht verspricht, es versteckt sich unter den Kittelfalten der Frauen eine geheimnisvolle und dunkle Macht.

In drastischen Bildern schließlich träumt Ana, Heilige und Hexe, von vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Katastrophen, gipfelnd in der Vision einer Apokalypse im 21. Jahrhundert. Zwischen der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem Beginn eines neuen Jahrtausends wird eine Brücke geschlagen, verbindend sind Unsicherheit, Endzeitstimmung und heraufbeschworene Horrorszenarien. Haid spannt so einen erzählerischen Bogen durch die Jahrhunderte hinweg in die Gegenwart, wobei Anas Höllen- und Fegefeuerphantasien beiderlei einzuschließen scheinen, verzweifelte Warnung und gerechte Strafe. Unmissverständlich bricht mit Fortschreiten der Handlung die (Tirol-)Kritik eines vielstimmigen Erzählers durch, der, anfänglich eher noch mutmaßender und (scheinbar) unbeteiligter Chronist, sich in die wütende Klage und Anklage eines Bußpredigers hineinredet: [...] dass die berge brechen, dass die riesenbremsen alles getier auf almen und weiden in den tod treiben, dass die stauseen brechen und das unermessliche wasserfluten die täler samt allen Menschen hinwegreißen, dass die wilden gifte in alles essen und trinken geraten (gott bewahr uns), in alle herbergen und hotels und rundherum wellness und unzucht und dass die heiligen kälber geschlachtet werden allesamt [...]. Unübersehbar und vielfältig sind die aufgeworfenen Bezüge zur Gegenwart, die Kritik am Ausverkauf der Natur oder an der Scheinheiligkeit ach so heiliger Dörfer, wie sie sich etwa im Umgang mit allem Fremden offenbart. Hier liegt vielleicht auch eine Schwäche des Textes, der seine Stärken dort hat, wo erzählt wird, wo er nah an den Figuren bleibt. Das explizite Verlassen der historischen Ebene liest sich als Bruch, der immer lauter werdende Erzähler läuft Gefahr seine eigene Geschichte zu übertönen, lässt Figuren wie Lesern wenig Raum.

Haid schöpft aus dem reichen Fundus mündlicher und schriftlicher Überlieferungen, bedient sich ihrer archaischen, üppigen Bilderwelt, spinnt Aufgefundenes weiter, aktualisiert alpine Mythen. Charakteristisch für den Text ist – wie in  Zaubersprüchen, die dadurch erst ihre Wirkkraft erlangen – die Geste der Wiederholung, die Wiederkehr von Konstellationen, Konflikten, Motiven. Wie im Mythos und wie in der mündlichen Überlieferung sind die Ereignisse zeitlos, wird Vergangenes gegenwärtig erfahren. Beeindruckend ist das dichte Bildergeflecht, das Haid aus Überliefertem schöpfend zu weben vermag. Berührend ist die Geschichte der (so verletzlichen) Landgeher-Sippe als eine über das gnadenlose in die Welt Geworfen-Sein alles menschlichen Lebens. Auf jeden Fall ein Text, der es wert ist, gelesen zu werden. 

[Bild: nach oben]

 


 

           


Hans Augustin, Aufzeichnung einer Täuschung. Roman. Kyrene 2010
Hubert Gundolf, Geschichten der Erinnerung. Eine Kindheit und Jugend in der Nazizeit. Hg. Isabella Plankensteiner. Kyrene 2010
Georg Payr, Das ewig Päpstliche zieht uns hinan. Erzählungen. Kyrene 2010
Elias Schneitter, Venedig. Jugendroman. Kyrene 2010

Innerhalb der Tiroler Verlagslandschaft ist der 2003 gegründete und von Martin Kolozs geführte Kyrene-Verlag der jüngste. Insbesondere um die junge Tiroler Literatur macht sich der kleine Literaturverlag seither verdient. Dass das in einer Zeit, in der allerorts im Kulturbetrieb gespart werden muss, nicht immer einfach ist, lässt sich denken. Zeit also, ein paar jüngst erschienene Titel aus dem Kyrene-Verlag vorzustellen.
In der „Reihe junger Autoren“ erschienen 2010 Bücher zweier Schriftsteller, die im Tiroler Literaturbetrieb längst vertraute Namen sind: Hans Augustins Roman Aufzeichnung einer Täuschung und nach langer Veröffentlichungspause – 1999 erschien sein letztes Buch – Georg Payrs Erzählband Das ewig Päpstliche zieht uns hinan.

Hans Augustins Roman führt in eine nicht näher lokalisierte Bergwelt. Ein Mann und eine Frau, sie bleiben den ganzen Roman hindurch ohne Namen, verlassen bei einer Bergtour die vertrauten Pfade und wagen sich in unbekanntes Terrain vor, um einen nur vermeintlich existierenden Gipfel zu erreichen. Dabei geraten sie in eine fremde Welt, in der alles Vertraute plötzlich wegbricht, die gewohnten Lebenszusammenhänge fragwürdig und unsicher werden. In der fremd gewordenen und feindlich anmutenden alpinen Landschaft finden sie Unterschlupf in einem verlassenen Heuspeicher. Dort wollen sie Kräfte sammeln für den Rückweg am nächsten Morgen. Doch verzögert sich der Aufbruch und schnell wird klar, an eine Rückkehr ist nicht zu denken. Was wie eine Bergsteiger- und Abenteurergeschichte beginnt, wird zur Geschichte eines gesellschaftlichen Ausstiegs, zu einer modernen Robinsonade. Das Paar beginnt sich einzunisten in seiner Höhle, die Frau sammelt Kräuter und Wurzeln, aus denen sie Brühe kocht, der Mann macht die Behausung winterfest. Dass spätestens zu diesem Zeitpunkt manches nicht mehr ganz schlüssig ist, ist ohne Belang, die Erzählung folgt der Logik ihrer eigenen Fiktion. Das zunächst schmerzhaft erfahrene Verlustig-Werden der Welt erweist sich zunehmend als Gewinn und Befreiung. Es geht um die Reduktion auf Wesentliches, um die letzten Dinge des Lebens, um die Rückkehr an den Anfang einer Geschichte. Letztlich um Sehnsüchte, die der Reflex sind einer modernen Gesellschaft und einer sinnentleert erlebten Welt. Die Frau wird schwanger und das Paar beschließt die hochalpine Welt zu verlassen und sich in lebensfreundlichere Gefilde vorzuwagen, sich dem Tal wieder anzunähern. Was folgt – es soll an dieser Stelle nicht genauer ausgeführt werden –, lässt verschiedenste Lesarten zu, kann als stufenweise Vertreibung aus dem Paradies ebenso gelesen werden wie die Geschichte einer Schöpfung und damit auch als Reflexion über das Schreiben.
Von Anfang hat an man es mit einem Erzähler zu tun, der den präzisen Aufzeichnungen seiner eigenen Wahrnehmungen misstraut und sich zunehmend zu fragen beginnt, ob die von ihm wahrgenommene Welt nicht eine Täuschung ist. Auch als Leser sitzt man wiederholt dem Gefühl der Täuschung auf. Immer wieder führt der Text auf scheinbar vertraute (Lektüre-)Pfade, man glaubt sich zurecht finden und einrichten zu können in einem bestimmten Motivkomplex, einer bestimmten Erzähltradition, doch dann nimmt der Erzählfaden einen anderen Verlauf. Was als Bergsteigergeschichte beginnt, erweist sich als Aussteigergeschichte, was der Himmel sein könnte, offenbart sich als postapokalyptisches Szenario einer Einsamkeitshölle, wie wir sie etwa auch aus Glavinics Arbeit der Nacht kennen, bis schließlich der Roman immer expliziter einen biblischen Stoff be- und umarbeitet und sich auf einer zweiten Ebene als religionsphilosophische Betrachtung erweist. Ein Text also, der Bruchlinien und Nahtstellen kennt, der irritiert. Der Roman endet mit dem Tod des müde und alt gewordenen Erzählers und lässt den Leser etwas ratlos und mit einem Gefühl von Traurigkeit zurück. Daran ändert auch der Epilog nichts. Im Gegenteil, Umstände und Erzählgegenstände, die sich dem Leser zunächst als Hoffnungsträger angeboten haben, erfüllen die in sie gesetzte Erwartung letztlich nicht. Und dennoch, es ist gut diesen Roman gelesen zu haben.

Schlägt Hans Augustin in seinem Roman nachdenkliche und leise Töne an, hat man es bei Georg Payr mit einer ganz anderen Erzählstimme zu tun. Die gut zwei Dutzend in dem Erzählband versammelten und zu einem größeren Teil bislang unveröffentlichten Kurz- und Kürzestgeschichten schlagen einen vorwiegend vergnüglichen Ton an. In erster Linie sind es abstrus-komische Geschichten, manchmal treibt es einem vor Lachen die Tränen in die Augen. Einer, der in einem Kaffeehausgespräch vor sich hin monologisiert, sich selbst die Stichworte zuwirft, um sich in immer höhere (oder tiefere), auf jeden Fall aberwitzige Sphären der Gesprächskunst zu schwingen. Ein pensionierter Finanz- und Stempelmarkenbeamter, der seine Tage damit zubringt, alltäglich beim Frühstück im Kaffeehaus seinen Tisch bis zu drei Metern mit Bröseln zu markieren und im Klinikum darauf zu warten, dass die Zeit vergeht, und ein motorradliebhabender Kaffeehaussitzer, der das Papstamt anstrebt, begeben sich auf eine motorisierte Wallfahrt nach Wigratzbad. Ein Rilke-Forscher vertieft sich in die Mechanik des Spülkastens seiner Toilette, ein Schauspieler verliert am Höhepunkt des Faust sein Gebiss. Wiederkehrende Themen: Mobilität (von der libidinösen Beziehung des Kindes zu seinem ersten Gefährt zu aberwitzigen Motorradgeschichten), Immobilität (Menschen, die sich gar nicht mehr bewegen, irgendwo festwachsen), Zahnarztbesuche und Lokusprobleme, selbstverliebte Menschen und solche, die das Papstamt anstreben. Aber auch nachdenklichere Geschichten und Betrachtungen, die schönste, wie ich finde, Friedhof im Engadin. Was die Qualität der meisten dieser Erzählungen ausmacht, ist neben dem (Sprach-)Witz ein sehr bewusster Umgang mit Sprache, kaum wo ein Wort zu viel, eine große Stilsicherheit und die Stringenz der Texte, die meist vom ersten bis zum letzten Wort den Spannungsbogen halten und sehr geschlossen, ja stimmig wirken. Kurz: Ein Lesevergnügen.

In der „Reihe für junge Leser“ erschien Elias Schneitters Jugendroman Venedig. Der Titel des Romans ist ein wenig irreführend, ist Ort der Handlung doch irgendein „Kuhdorf“ im Oberland von Tirol. Venedig, das ist anderswo. Venedig könnte eigentlich überall sein, Venedig ist, wie es lapidar heißt,  „gut essen, durch die engen Gassen strolchen, etwas trinken und rauchen, und vor allem quatschen“. Hier, das ist tiefe Provinz, das sind die an einer Hand abzählbaren Orte einer Provinzjugend, ein dörfliches Pub, ein paar Gymnasiastenkneipen, wo man immer dieselben Leute trifft. Im Mittelpunkt des Romans steht die 15jährige Julia, die in Briefen an ihre beste Freundin Melissa aus den Wechselfällen ihres Lebens berichtet, wobei die Briefpartnerin selbst kein einziges Mal zu Wort kommt und seltsam körperlos bleibt. Die Form des Briefromans wirkt ein wenig konstruiert, ist es doch eher schwer vorstellbar, dass eine Jugendliche ihrer besten Freundin, die sie jeden Tag in der Schule trifft, seitenlang aus ihrem Leben berichtet, vor allem, weil in diesen Briefen nichts gesagt wird, was nicht genausogut besprochen werden könnte. In einem einzigen atemlosen Monolog also erzählt Julia von ihren Alltagssorgen, Verliebtheiten und ersten sexuellen Erfahrungen, von Alkoholexzessen und hemmungslosem Zigarettenkonsum, Gewichtsproblemen und guten Vorsätzen. Der Horizont des Erzählten ist eng. Obwohl dauernd gesprochen wird, entsteht der Eindruck, dass eigentlich nichts erzählt wird. Dennoch entwickelt sich während der Lektüre ein Gefühl für die Protagonistin, dafür, worüber nicht geredet werden kann, was unausgesprochen bleiben muss. Eine Ahnung von Suche und Sehnsucht nach etwas anderem. Doch das lässt sich lediglich im Subtext erahnen, muss zwischen den Zeilen gefunden werden. Was auffällt – bei allen pubertären Grenzüberschreitungen, von denen berichtet wird – ist die große Konformität der Jugendlichen, von denen erzählt wird. Ihre Wünsche und Träume sind doch sehr bescheiden. Eine Reise nach Venedig, eine gute Figur, weniger rauchen. Irgendwo ist an Stelle von Phantasie, Vorstellungen und Träumen Leere getreten. Und da liegt vielleicht auch der Mangel dieses sehr leicht lesbaren und mit leichter Hand geschriebenen Romans. Erwarten sich nicht Leser – gerade in diesem Alter, an der Schwelle zum Erwachsen-Werden – von Literatur eine Horizonterweiterung, alternative Lebenskonzepte zu den ohnehin vertrauten Alltagsgeschichten? Ist Lesen nicht häufig ein Erproben fremder Gedankengänge, ein Ausbrechen und Türen-Öffnen?

Als dritter Band der „Reihe alter Autoren“ erschienen 2010 posthum die Erinnerungen Hubert Gundolfs (1928–2001), langjähriger Redakteur der Tiroler Nachrichten und ab 1972 Pressereferent der Tiroler Fremdenverkehrswerbung. Sie führen zurück in die Kindheit und Jugend des Autors, die er im Tirol der 30er und 40er Jahre erlebt hat.

[Bild: nach oben]

 


 

           


Arno Heinz, Schwindelfrei im Lichtmeer. Erzählung. Mit Vignetten des Autors
Innsbruck: Kyrene 2009

„Sie haben nicht das Recht, abseits zu stehen“, mahnen ominöse Stimmen den Protagonisten in Arno Heinz‘ Erzählung Schwindelfrei im Lichtmeer, als dieser sich gerade in der Belletristik-Abteilung einer Buchhandlung befindet und einen Gedichtband von Erich Fried aufschlägt. Die Stimmen fordern ihn dazu auf, eine verdächtige Person beim Buchstaben T der Belletristik-Abteilung zu observieren. „Es war SIE, die Frau, die ihm aufgefallen war, die er aus irgendeinem Grund anziehend gefunden hatte und der er aus seiner gewohnten Umgebung der Fachbücher in die fremde Welt der Belletristik gefolgt war.“ Rasch fügt sich der Angesprochene in sein Schicksal und in die Rolle eines Geheimagenten. Denn „diese Art der Agententätigkeit“, so die Stimmen, sei „ideal für Mitglieder der heutigen Multi-Optionsgesellschaft, eine Öffnung der Arbeitszeit nach oben in freiwillige, aber aus moralischer Sicht obligatorische Sozial- und Arbeitsdienste, eine selbstverständliche Lebensform, die uns im Innersten ergreift und über uns hinausgeht, entsprechend dem Willen des modernen Menschen zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr-Machen und Mehr-Sein, über den Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Wunsch hinaus, immer neue Grenzen zu überschreiten und am liebsten schon dort zu sein, wo man noch nicht ist und sich noch nicht dazu entschieden hat, zu sein“.

Lichtgestalter von Beruf, mehrfach geschieden, Rationalist, reist er, ein moderner Nomade, durch Europa, von einem Projekt zum nächsten, Flughäfen, Konferenzräume, Hotelzimmer sind ihm Arbeitsstätte und Zuhause. Die Maximen der modernen Gesellschaft hat er längst verinnerlicht. Ein Jahr lang, von Dezember bis Dezember, durch das Wachsen und Abnehmen des Lichtes, begleitet ihn die Erzählung bei seinem rätselhaften Auftrag von einem Ort zum nächsten, verfolgt seinen Weg in zunehmende Isolation und Paranoia. Allerorts wittert er Verschwörung und fürchtet „hinters Licht geführt zu werden“, Angst ist ein Grundtenor der Erzählung. Angst (unter anderem vor dem Irrationalen) ist es wohl auch, die es dem Protagonisten unmöglich macht, sich auf Begegnungen mit verschiedenen Frauen – ein Leitmotiv der Erzählung – einzulassen.

Erzählt werden Episoden aus dem Alltagsleben des Helden, lose zusammengehalten durch den Handlungsfaden des Spionageakts. Immer wieder fällt er in Schlaf und beginnt zu träumen – werden die Schilderungen alltäglicher Situationen durchbrochen von bildhaften, verdichteten Textpassagen. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Bewusstem und Unbewusstem, Tag und Nacht scheint dabei zunehmend an Bedeutung zu verlieren, durchlässig zu werden. Daneben finden sich manchmal ironische sowie gesellschafts- und vor allem sprachkritische Betrachtungen und Reflexionen des Erzählers. Das Spektrum der Themen ist dabei weit gesteckt, da geht es um Kontrolle und den gläsernen Menschen, Terrorangst und Verschwörungstheorien, die Informationsgesellschaft, und, der Autor erweist sich hier als Kenner, immer wieder um Licht und Architektur.

Ästhetisch gleicht der Ton der Erzählung dem Akt des Zappens beim Fernsehen: Es mischen sich die verschiedensten Textgenres, Stile und Themen, Vielstimmigkeit charakterisiert die Erzählung. Sie erinnert an das unentwegte Angesprochensein durch die Medien. Gegen ihr Ende hin spielt der Protagonist mit dem Gedanken, es dem Staubsaugervertreter James Wormold aus Graham Greenes Roman Unser Mann in Havanna gleichzutun und seine Auftraggeber mit fingierten, erschwindelten Informationen zu füttern. Doch hatte Greenes Romanheld im britischen Geheimdienst noch eine institutionelle Macht als Gegenüber, so stellt sich im vorliegenden Fall die Frage: „Wer hat hier das Kommando?“.

Gefangen ist die Hauptfigur im Spiel der Bedeutungen, mit ihr der Leser. Voller Anspielungen auf Literatur und Film, Philosophie- und Kunstgeschichte steckt die Erzählung. Andererseits führt diese Dichte an Zitaten und Anspielungen, Informationen und Themen dazu, dass die poetische Aussage verschwimmt und am Ende der Lektüre wenig haften bleibt.

Schatten und Licht sind die tragenden Motive der Erzählung. Nicht zufällig taucht wiederholt Platons Höhlengleichnis im Text auf, geht es dem Autor wohl – zumindest auf einer wesentlichen Ebene des Textes – um Fragen nach Möglichkeiten der Erkenntnis. Dabei scheint Licht nicht unbedingt Garant für Wahrheit zu sein, braucht es die Nachtseiten. So lässt sich der Text auch als Plädoyer für die Freiheit der Phantasie lesen: „Das Gedicht / wird richtiger, / die Welt / wird falscher“ liest der Protagonist zu Beginn der Erzählung aus Erich Frieds Gedichtband Warngedichte (1964) und lässt dann das Buch irgendwo liegen. 

[Bild: nach oben]

 


 

           


Erika Inger, All Souls Clinic. Martin Pichler, Navigatore
Edition Raetia 2009

Der Ausstellungskatalog All Souls Clinic zeigt Arbeiten der Südtiroler Künstlerin Erika Inger, die im Zeitraum von 2007 bis 2009 entstanden sind. Die Erfahrungen mehrerer Aufenthalte in Afrika haben die künstlerische Auseinandersetzung geprägt. Es handelt sich bei einem Großteil der Arbeiten um zweiteilige Kompositionen, jeweils bestehend aus einem Reisebild, das um eine skulpturale Einheit aus (Fund-)Gegenständen ergänzt wird. Die Abbildungen erinnern an geöffnete Zündholzschachteln: „Das sich Hin- und Herbewegen zwischen den Welten” des Reisenden vollzieht sich im Betrachter zwischen flächigem Bild und eingeschachteltem Fundstück. Das titelgebende Bild des Ausstellungskatalogs zeigt die Fotografie einer Klinik in Accra. Passanten gehen vorbei. Diverse Aufschriften („All Souls Clinic“, „No Entry“, „No Parking“) fügen der Abbildung verschiedene Bedeutungsebenen hinzu. Ergänzt wird dieses Bild durch eine geometrische Anordnung von Fundstücken, zerbrochenes weißes Porzellan, verbogene Nägel, eine Schere, Lichtschalter. Bruchstücke vor allem.
Sprachliche Elemente finden sich in vielen der Fotografien, auch formal wirken die zwei aneinander gefügten Querformate narrativ. Ein kurzer Text der Künstlerin, Abfahrt – Passage – Ankunft, verweist auf das Bedürfnis nach Fort-Bewegung, die Möglichkeit einer kritischen Distanznahme, jene sich in Auseinandersetzung mit dem Fremden neu zu verorten. Doch die Möglichkeit der Distanznahme ist eingeschränkt: „Das Ozonloch ist überall, das Internet ebenso. Die Sehnsucht nach unberührten Orten und Freiräumen und deren Verschwinden im Moment, in dem sie entdeckt werden. Bleibt die Sehnsucht, das Schöne besitzen zu wollen.” Zur Bewegung des Reisens fügt sich die Geste des Sammelns und Festhaltens.

Das Motiv der Fort-Bewegung spielt auch in Martin Pichlers kurzer Erzählung Navigatore eine Rolle. Die Fahrt eines Rollstuhlfahrers zu einer Tanzstunde. Navigatore, so wird der Ich-Erzähler von Margherita, die ihn begleitet, genannt, verzeichnet akribisch seine Wahrnehmungen, vor allem die nach innen gerichteten Bewegungen, die Begegnungen mit anderen Menschen in ihm auslösen. Der Körper dient als Messinstrument: „Ein kleines Erdbeben und Wirbeln in meinem Rücken“, „ein Kälteschlitz […] an meinen Hüften“, „gewecktes Blut, eine besondere Kitzligkeit an unvermuteten Stellen“. Der Erzähler dokumentiert, lotet aus: „Ich bin ein Kartograf, vermesse und staune, ich bin dauernd bei der Arbeit und ziehe die Grenzen nach.“ Grenzen und vor allem auch deren Überschreitung spielen in Pichlers Geschichte eine Rolle in vielerlei Hinsicht: In der Erfahrung körperlicher Unzulänglichkeit, als Barrieren zwischen Menschen, in Form von Übergriffen, aber auch in Bildern von Reibung, Ergänzung und Vereinigung. Navigatore hält, um bei der Sprache der Seefahrt zu bleiben, manchmal das Steuer fest in der Hand, verliert es aber auch wieder, changiert zwischen Gefühlen der Macht und Ohnmacht. Zentral ist die Frage nach dem Fremden und dem Eigenen, die schwierige, mitunter schmerzhafte Begegnung mit dem Anderen. Die Erkundung des fremden Kontinents ist hier in die persönliche Erfahrung verdichtet: „Ich denke an den elastischen Stoff, bei jeder Bewegung Reibung und Differenz, die beiden Hälften der Wirklichkeit: Was dem eigenen Körper zugeschlagen werden kann, und das restliche Gebiet, weit, öd und unerkundet.“
Formal überträgt Pichler die Frage nach Grenzen, das macht einen Reiz des Textes aus, durch die strenge Einhaltung einer einzigen Perspektive. Der Leser bleibt im Blick des Erzählers gefangen, der aber ist faszinierend präzise. Navigatore bricht herkömmliche Erwartungen, lässt „die Reifen schleifen [...] und Staub aufwirbeln“, ist voll von Sinnen- und Berührungslust.

Nicht gesagt wird, inwieweit Pichlers Erzählung als literarischer Kommentar zu den Arbeiten Erika Ingers intendiert ist. Augenfällig sind jedoch viele Bezüge sowohl auf der formalen als auch auf der Bildebene. Einfühlsam scheint der Autor Motive aus den Skulpturen der Künstlerin in seine Erzählung einzuweben. Da sind etwa die aus Stahlnägeln gefertigten Objektbilder aus der Serie „Nageln“, die sich ebenfalls im Katalog befindet. Auf einem Bildträger umgekehrt befestigte Nägel bilden verschiedene Sprachbilder („Ich“, „Seele“, „Stille“), die sich mit ihren Spitzen gegen den Betrachter richten. Die aus verbogenen Nägeln geformten Bilder werfen Schatten, die an feine Härchen erinnern. Sprießende Haare, „die kreuz und quer ins Fleisch gesteckten Schrotkugeln“, sind ein durchgängiges Motiv in Navigatore: Bärte, „dieses verletzliche Moos und die aperen Stellen dazwischen, wo die Härchen nicht sprießen wollen, rühren an mein empfängliches Herz.“

In einer früheren Arbeit – die Skulptur „leichter gehen“ (Skulpturenwanderweg Lana, 2000) – befestigte Inger schwere Steine auf Stangen und ahmte durch ihre Anordnung die Bewegung einer Welle nach. „ Die Skulptur verweist auf […] einen Prozess, dessen Ziel die Leichtigkeit ist, zwar eine fragile Leichtigkeit, aber eine, die wie ein Traum über die Erdschwere hinausweist”, schreibt die Künstlerin in einem Kommentar zu dieser Arbeit. „Eine fragile Leichtigkeit” ist auch in jenem Paartanz erahnbar, in dem Pichler seine Erzählung hoffnungsvoll enden lässt. 

[Bild: nach oben]

  


 

        


Martha Lanz, Frühere Wasser. Ein Aufwachsen in Absätzen 
Edition Raetia 2008

In Frühe Wasser beschwört Martha Lanz in knapper, lyrisch dichter Prosa frühe Kindheitsbilder. Erinnert wird, klar und unsentimental, die Kindheit auf einem Bergbauernhof in den frühen 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Ort der Handlung ist das karge Grenzland des eine Generation zuvor in Nord, Süd und Ost geteilten Tirol. Dass uns der Text Besonderes zu sagen hat, liegt wesentlich an der Gabe der Autorin einen kindlichen Blick zu wahren, ohne jedoch die Erzählerfigur konkret werden zu lassen. So wird es möglich den Hintergrund an Härte und Brutalität dieses Daseins in wenigen Zeilen als Prospekt zu entwerfen, ohne das Eigentümliche der Botschaft eines kleinen Menschen zu zerstören.

„Und die Erde war nicht einfach da und war Erde. Die Erde war zu führen wie das Leben. Sie war nicht und blieb nicht, wo sie sein sollte. An der Seilwinde sitzen und schalten. In den Ohren winselt es ein und aus. Von unten nach oben war sie zu karren, die Erde. Einer rennt auf und ab mit der Grutte, so führt man die Erde. Und der Aprilwind reißt die paar Haare in Strähnen, daß sie es nie mehr vergessen. Sie bleibt aber nicht oben, die Erde. Unten ist sie wieder im nächsten April.“

Gegenstände initiieren den Prozess der Erinnerung, die Holzkiste in der Küche, gut gefüllt, leer erst, wenn ein Toter hinausgetragen wird, der Blechkranz für Begräbnisse, wieder verwendbar im Fall, selten genug genossene Aranciata in gerippten Flaschen, als „Lullaflaschen“ aufgehoben, der „Tundarodla-Roller“, ein Himmelsglück. Erzählt wird von Menschen, die kommen und gehen, vom Abnehmen und Zunehmen der Sonne wie der harten Arbeit, die im Sommer zu „kälbern“ beginnt, von der Präsenz des Todes. Und wichtig ist das Land an sich, das Vaterland (der Hof Eggemanner bei Toblach) mit seinen Wegverläufen, Fluchten, Verstecken, aber auch das Mutterland (in Osttirol) und das „Muineland“ Welschellen (ein ladinisches Bergdorf im Gadertal) als projektierte Ferne. Als Brüche ziehen sich diese Grenzen durch das Erinnerte, und ein Bruch liegt nicht nur zwischen dem Hier und Anderswo und denen „von hier“ und „von irgendwoher“, sondern auch im Gefälle zwischen Berg und Dorf, den „Bergern“ und den „Dorfern“, die es immer ein bisschen leichter haben. Und so geht es auch um die Frage von Bleiben oder Gehen, und erzählt wird vom Ziehen von der einen Kammer in die andere derer, die nicht der Bauer wurden, aber auch nicht weggingen. Nachvollziehbar wird, dass das Beste unter allem Spielzeug all jenes war, was fuhr, mobil machte. Und weil hier nicht nur von kleinbäuerlicher Welt, sondern auch vom Kindsein und Großwerden erzählt wird, liegt der tiefste Bruch wohl im Auseinandertriften der Welt im Moment des Erwach(s)ens, in dem Moment, wo die eigene Welt als brüchig erlebt wird, weil etwa plötzlich zwischen dem, was in der Schul-Fibel steht, und der erfahrenen Wirklichkeit eine Diskrepanz entsteht. Genau an diesem Punkt aber setzt das Schreiben an. Dort wo die Dinge nicht mehr als ganz erfahren werden, auseinanderzuklaffen beginnen, werden sie benannt, wird flüchtig Gewordenes festgemacht und verwoben zu einer Erinnerungstextur, die trägt.
Martha Lanz’ Text hat, wie Siegfried de Rachewiltz in seinem Nachwort schon anklingen lässt, wirklich etwas von einer Textur. Zyklisch, wie die Welt, von der sie erzählt, kreisen die Bilder im Text, Assoziationen werden aneinander geknüpft, ein liegen gelassener Faden wird wieder aufgenommen und weiter gewoben, nichts geht verloren, alles kehrt wieder. Dies lässt einen ganz eigenen Rhythmus entstehen, der an Liturgie und Litaneien ebenso denken lässt wie an den jährlich sich wiederholenden Rhythmus der Arbeit, aber auch an das Spiel eines Kindes, das von einem kommt ins andere. Wie überhaupt der Text sehr von der Sprache lebt, dem gezielten Rückgriff auf verschwindende Wörter, eine verschwindende Melodie, durch die sich Dinge benennen lassen, die sich anders nicht mehr sagen ließen. Es liegt Zärtlichkeit im Gebrauch der verlustig gegangenen Wörter und wohl kaum etwas mag die erinnerte Kindheit so stark heraufbeschwören, wie die Erinnerung an den Klang, die Melodie, in der man angesprochen, mit der die Dinge bezeichnet wurden.
Ergänzt wird der Text der Autorin durch Photographien von Martin Pardatscher. Allesamt zeigen sie bäuerliche Artefakte, die im landwirtschaftlichen Museum Brunnenburg gesammelt werden. Die ästhetischen Schwarz-Weiß-Photographien zeigen die Objekte meist nur fragmentarisch, getaucht in Schatten und Licht, in ihrem ursprünglichen Zustand belassen. Doch was dem Text mit knappen Worten gelingt, vermag die Photographie nicht. Die abgebildeten Gegenstände bleiben seltsam stumm, abweisend gegen den Betrachter hin, trotz aller Gebrauchsspuren teilen sie sich nicht mit. 

[Bild: nach oben]

  


 

      


Turi Werkner, Idiomatik
innsbruck university press 2008

Irgendwo zwischen Kunst und Literatur angesiedelt, so lässt sich Turi Werkners „Lexikon“ Idiomatik wohl am ehesten charakterisieren. Wir haben es mit alphabetisch geordneten Reihen von Begriffen und Wortfügungen zu tun. So weit das Lexikon. Doch bleibt im Dunkeln, was man hier nachschlagen kann. Die alphabetische Ordnung dient dem Leser nicht. Auch wird, wer sich auf die Suche nach diesen Wortgebilden oder ihren Ursprüngen macht, dies häufig vergeblich tun. Denn offensichtlich hat man es vor allem mit Schöpfungen des Autors zu tun. Ein Lexikon zum Selbstzweck, das einzig dazu sein scheint, um seine eigene Form zu erfüllen, zu existieren.

Bei eingehenderer Lektüre erweist sich, nichts existiert hier aus sich selbst. Werker greift auf schon vorhandenes Material zurück, ordnet neu, mischt durch, übersetzt, dickt ein, deutet um, verschlüsselt, kürzt ab („AküWa = Abkürzungswahn“). Schafft aus vorhandenem Sprachmaterial völlig neue, überraschende, manchmal poetische Sprachbilder, die sich nur schwer übersetzen, deuten, festmachen lassen. Wer sich die Mühe machen will, kann aus schillernden Sprachgebilden etwa Buchtitel, Sprichwörter, Zitate, idiomatische Wendungen herausschälen („ABZ=Alles bloss Zitate“). Werkner arbeitet dabei mit allen Mitteln der Sprachkunst, mit Klangfarben ebenso wie mit Formen des Reims, mit rhetorischen Figuren wie mit Mitteln der Wortbildung, selbst die materielle Seite der Zeichen ist von Belang („DAS AUGE LIEST MIT“). Das Lexikon ein einziges Furioso des Sprachspiels. Nicht nur die Einträge selbst sind komponiert, auch ihre Anordnung verrät System. Die alphabetische Ordnung erlaubt etwa die Variation. Sowohl auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene kehren Motive, Themen, Spielarten wieder („Die Form totlutschen“), die Vorhergehendes wieder in anderem Licht erscheinen lassen. Die Fülle an Wortmaterial, dem jahrelanges Horten voraus gegangen sein muss, fasziniert, aber auch das eigenwillige Spannungsverhältnis zwischen Ausuferung und Ordnungswille, das hier aus jeder Zeile spricht.

Was kann nun, was will dieses Buch? Offensichtlich ist, es macht nicht, was interessiert, es macht, was es will. („Ja wenn mir nichts anderes einfällt“). Es irritiert, bremst den Lesefluss ein, zwingt in die Auseinandersetzung („Autor setzt an, den Leser zu quälen“). Dem Leser, der verstehen will, verlangt es einiges an Vorwissen und Mitdenken ab. Und dennoch geben die Idiomatikzettelkästen Werkners wie Alibabas Schatz ihr Geheimnis nicht wirklich preis. Letztendlich geht es vermutlich darum, Zeichen in der Schwebe zu lassen („Aktive Suche nach dem Missverständnis“ oder „Die Missverständnisse der Leser sind der eigentliche Sinn der Literatur“). Als „Katalog noch nicht katalogisierter Sachverhalte“ sensibilisiert das Buch für Sprache und ihre Wirklichkeiten, regt an, noch nicht Erfasstes sich auszumalen. Und nicht zuletzt – vielleicht will das Buch auch nicht über die Maßen ernst genommen werden – bereitet die Lektüre wirkliches Lesevergnügen.

Turi Werkner, 1948 in Innsbruck geboren, hat sich als bildender Künstler einen Namen gemacht. Genannt seien hier etwa seine „Schoner“ (bis ins Unkenntliche bezeichnete Schreibtischunterlagen), seine Arbeiten mit Büchern (bearbeitet erworbene Bücher, etwa Registerbücher, Buchführungsbücher, künstlerisch, erzählt darin visuelle Geschichten), aber auch seine großformatige Malerei. Schrift und Bild, Literatur und Malerei gehen eine enge Verbindung ein, wenn Werkner etwa in seinen Büchern, 635 waren es im August 2008 an der Zahl, narrative Bildfolgen kreiert: „Literatur mit Mitteln der Malerei, Malerei mit Mitteln der Sprache“. Idiomatik ist Werkners erste Veröffentlichung. 

[Bild: nach oben]

 


 

  


Christian Kössler, Bestialisches Innsbruck. 12 mysteriös, düstere Kurzgeschichten
Innsbruck: pyjamaguerilleros* 2007

Mit Bestialisches Innsbruck von Christian Kössler legt das hiesige Literaturmagazin Cognac & Biskotten die sechste im eigenen nicht-kommerziellen Kleinverlag herausgegebene Publikation vor. Es sind Kalendergeschichten der etwas anderen Art. Jedem Monat ist eine der Kurzgeschichten gewidmet, deren Figuren einem amerikanischen B-Movie entstiegen zu sein scheinen. Innsbrucks Straßen und Plätze werden heimgesucht von Vampiren, Wiedergängern und ähnlichen Nachtgestalten, die nach dem Leben unbedarfter Bürger trachten.
Jeder hier beheimatete Leser wird sich in der genau bezeichneten städtischen Topographie wiederfinden wie auch in den alljährlich sich wiederholenden Ritualen, etwa dem Bergsylvester, dem Krampustreiben oder dem Messe-Auflauf. Vorausgesetzt der Leser ist Insider, hat das durchaus seinen Reiz. Alles hier ist vertraut. Durchbrochen wird das Vertraute – in dem es sich die Wahrnehmung häuslich gemacht hat – durch die Kombination von Spiel mit Authentizität und dem Horror-Genre. Es wird viel gestorben in diesem Buch. Gnadenlos verfährt der Erzähler mit seinen Opfern, der Leser wird zwangsläufig zum Voyeur, der die Figuren jeweils in ihr böses Ende treiben sieht. Dies geschieht nicht ohne satirische Elemente, wenn etwa der Autor einen wiedergängerischen Schriftsteller „späte Rache“ üben lässt an Akteuren des Kultur- und Literaturbetriebs in der Provinz.
Schade nur, dass der Bildervorrat, aus dem der Autor schöpft, nicht der frischeste ist, es nicht gelingt, Erwartungshaltungen zu durchbrechen. So bleibt zu hoffen, dass die Rezensentin nicht Opfer einer 13. Kalendergeschichte wird.
 

[Bild: nach oben]

 


  

 

 
Angelika Rainer, Luciferin
Innsbruck: Haymon 2008 

Luciferin macht es dem Leser nicht leicht. Wieder und wieder will der Text gelesen werden. Selbst dann öffnet er sich nur bedingt, verblüfft, lässt Unlösbares zurück.

Angelika Rainer kreist anhand von sechs lyrischen Reden, thematisch und motivisch verknüpft, kaum in eine Narration eingebunden, um die Themen: Erfahrung von Einsamkeit und Liebe, von Vergessen und Erinnern, Sehen und Benennen. Die Rede ist häufig Ansprache eines Gegenübers, das, faszinierend wie schwer fassbar, sich erst im Akt der Rezeption generiert. Es wechseln die Perspektiven, das lyrische Ich wandelt und entzieht sich. Wir haben es zu tun mit verschiedenen Stimmen. Auf die Sprecher ist kein Verlass, ihre Bilder – meist der Natur entnommen – bleiben mehrdeutig, sind Vexierbilder, die sich je nach Perspektive wandeln.

Angelika Rainer geht in ihrem Debüt von John Bergers Erzählung Die drei Leben der Lucie Cabrol aus. Auf den ersten Blick hat ihr Text nur wenig mit den von Berger erzählten Metamorphosen einer am Lande lebenden Frau zu tun. Lucie – Cocadrille gerufen – ist schon als Kind durch Anderssein gezeichnet; kleinwüchsig, eine Art Wechselbälgchen, wird sie als einziges Mädchen am Hof, unbegehrt von den Männern, nach dem Tod der Eltern von den Brüdern verstoßen. Abseits der Dorfgemeinschaft haust sie einsam, macht als Sammlerin und Schmugglerin viel Geld, hofft als reiche Frau wieder ins Dorf zurückkehren zu können. Doch stirbt sie eines gewaltsamen Todes und nur als Tote kehrt sie wieder.
Lucie Cabrol ist eine schillernde, eine starke Figur. „Ein Kind der Erde ohne Land“. Eine Figur, die die erfahrene Kränkung nicht vergessen kann. Das Nicht-vergessen-Können verbindet sie mit der Figur des Erzählers, durch dessen Perspektive sie dem Leser vermittelt wird. Es ist die Perspektive des Liebenden – eines alten Mannes, dem die inzwischen verstorbene Lucie als Wiedergängerin den Schlaf raubt.

Umso weniger scheint Angelika Rainers Luciferin mit Bergers Erzählung zu tun zu haben, als es sich um zwei so unterschiedliche Arten des Schreibens handelt. Bergers Erzählung ist bei aller Dichte sehr klar, reduziert und klassischen narrativen Regeln verbunden. Rainers Text dagegen wirkt zeitweilig überladen, verwirrend in seiner Struktur. Und doch ist da Verwandtschaft. Was Rainer aufgreift und weiterspinnt, sind viele der kleinen, scheinbar beiläufigen Bilder, die Berger dazu dienen Menschen und ihr Verhältnis zueinander zu charakterisieren. Dabei scheint sie sich vor allem auf jene Szenen zu beziehen, in denen die Liebenden einander begegnen. So etwa, wo Lucie und ihr Erzähler ein letztes Mal lebend aufeinander treffen. Sie verschwindet im Dachstuhl und kehrt im Hochzeitsstaat zurück. Rainer nimmt das Bild auf, lässt es wiederkehren, verknüpft es mit anderen Textspuren und Motiven:

„Du legst das Kleid an in der Farbe des Wassers wie Firnis.
Es ist der Philemon, der dir zeigt, dass im lichtlosen Winkel deines Hauses
der Satz aus der Mauer hervortritt –

Länger als Glück ist Zeit und länger als Unglück

Beide Texte erzeugen Bilder von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Kälte und Wärme. Die besprochene weibliche Figur in Rainers Text will „den Sommer in den Winter tragen“, „will die kürzeste Nacht für alle Tage“. Aus dem Stoff der Leuchtkäfer, dem Luciferin, schafft sie sich lichte Nächte: „Wie viele Käfer schaffen ein Licht, das erinnert werden kann. Wie viele Käfer schaffen ein Licht, das tröstet.“?

Eigen ist Rainers Text die starke und unverbrauchte Bildsprache. Sie hat Visionäres, wirkt weiter, weckt Assoziationen. Obwohl aus traditionellen Bildspeichern geschöpft, überrascht sie. Hohe Dichte und eine Fülle von Bezugnahmen auf weitere Texte und Mythen kennzeichnen diese lyrische Erzählung. Gerade diese Dichte und Fülle ist vielleicht auch ihre größte Schwäche. Manchmal fehlt es an Zwischenräumen, an Ausgespartem, manchmal wünscht man sich, die Autorin würde länger bei einem Bild bleiben. Man würde gerne innehalten, Atem schöpfen, verdauen auch.

Es lässt sich Rainers Text problemlos auszugsweise lesen – einzelne Passagen leuchten als hoch poetische Miniaturen auf. Will man die Erzählung als Ganzes, Zusammenhängendes nehmen, so fehlt es an einem Schwerpunkt, einem Faden, der die Teile nachvollziehbar verbindet. Durchdacht, intellektuell – manchmal so, als ob es das sein wollte – bietet sich Rainers kleines Werk dem Publikum dar, aber Orientierungshilfen gibt es ungern. Das macht die Lektüre verwirrend, nicht ganz unpassend zum Inhalt hat man das Gefühl vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Man tut sich schwer die Bilderfluten zu übersetzen, Sinn herauszufiltern, das Erzählerische (das der Klappentext ankündigt) zu erkennen. Aber – muss denn (immer) das Verrätselte entschlüsselt, das Obskure erhellt werden?

Beeindruckend ist Luciferin in seiner klanglichen Qualität. Es lohnt sich, laut zu lesen. Dynamik, Rhythmus und Brechungen: ein Sog, der Lust am Text entstehen lässt.
 

[Bild: nach oben]

 


  

 

 
Peter Kaser, Hans Winkler: scalini 84 stufen

Wien: Folio 2007 

Der Brenner. Ort des Durchzugs. Schauplatz nationaler Konflikte und Grenzziehungen. Projektionsfläche bürgerlichen Fernwehs. Ausstiegsphantasie. Warenumschlagplatz. Transitraum. Ein Ort der Kunst?
Abseits der Brennerstaatsstraße, wenige 100 m südlich des Brennerdorfs ein Wasserfall, 84 steil ansteigende Stufen, an deren Ende ein verlassener Bunker. Natur und funktionslos gewordene Grenzarchitektur im Kontrast.
Diesen Ort erklärten die Künstler Peter Kaser und Hans Winkler 2000 zum Kunstort, den Schauplatz für sich genommen zur Kunst. Sie schufen, indem sie die vorgegebenen Koordinaten des Transitraums verließen, den Blick auf etwas anderes richteten, neuen Raum sichtbar und spürbar machten, Leer-Raum, der zur Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Bedeutungs-Komplex „Brenner“ einlud. Es ist dies vielleicht das Bemerkenswerteste an dem Projekt: Raum zu schaffen, man könnte sagen poetischen Raum, einen magischen Ort, der Erzählung möglich macht.
Beide Künstler haben sich schon früher mit dem Brenner befasst.
Das Künstlerduo Hans Winkler und Stefan Micheel (p.t.t.red, Berlin) initiierte 1997 das Projekt treffpunkt niemandsland und lud Künstler aus Italien, Österreich, Deutschland und den USA dazu ein, sich mit dem Brenner auseinanderzusetzen. Hans Winkler hat damals gemeinsam mit Stefan Micheel eine Hütte auf der Steinalm zu einer frei zugänglichen Einsiedlerbibliothek umfunktioniert, ausgestattet mit 100 von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftern empfohlenen Werken.
Peter Kaser, aus Bozen stammend und in Gossensass lebend, beteiligte sich an dem Projekt mit Impostazione casa-matta. Seit Jahren schon hatte er sich mit den militärischen Infrastrukturen am Brenner beschäftigt, diese erkundet und kartographisch dargestellt. In einem der Postzugwaggons, die den Künstlern als Basislager am Brenner dienten, zeigte er einen Lageplan der Militär-Bauten, in den Sortierfächern des Waggons legte er Aufnahmen aus den Anlagen ab.
Nach Restaurierung der Stufen und des Bunkers luden Peter Kaser und Hans Winkler von 2000 bis 2007 einmal im Jahr Künstler dazu ein, den Kunstort scalini 84 stufen zu bespielen. Die Interventionen der Künstler sollten sich durchwegs auf den Ort und seine Strukturen beziehen und diesen reflektieren. "Jeder der hier stattfindenden Interventionen durfte den Ort als solchen aber nicht verändern und wurde in der Folge von den Künstlern als Weiterentwicklung des Kunstortes verstanden, vergleichbar mit einem kollektiven Weitermalen an einem bereits vorhandenen Bild." (Peter Kaser)
Tomaso Boniolo etwa brachte in seiner Intervention voglio vedere il mare Meerwasser von der Mündung der Etsch zurück an den Brenner und versuchte so Bereiche der Natur, die sich unserer Erfahrung entziehen, mit Mitteln der Kunst zu fassen. Dabei spielte er mit der Metaphorik des Kreislaufs, wie er sich in der Natur, aber vergleichbar auch im Transfer von Waren und Menschen finden lässt. Christian Yeti Beirer und Thomas Schafferer beschäftigten sich in ihren Arbeiten mit dem Brenner als „Fluchtpunkt“, der, je nach Richtung und Perspektive, mit verschiedenen Erwartungshaltungen und Projektionen besetzt wird. Kurt Lanthaler erweiterte die Stufen um die lyrische Installation :himmel & hoell. An den 84 Stufen wurden vom Autor 84 zweizeilige Strophen angebracht, die treppensteigend erlesen werden konnten. Der Schlagzeuger Jack Alemanno griff die Klänge und Geräusche des Brenners auf und trat mit ihnen bei einer Performance in Dialog. Insgesamt waren neun Künstler an dem Projekt beteiligt.
Orte wie der Brenner scheinen prädestiniert für künstlerische Auseinandersetzung: lässt er sich doch als Schwelle, als Ort des Übergangs, als Schnittstelle verstehen. An einer zeitlichen Schnittstelle siedelte sich auch das Projekt an. Der Brenner war lange Zeit ein extrem bedeutungsgeladener Ort, mit dem Schengen-Abkommen scheint er seine Identität – nämlich jenes Spannungsverhältnis von Abgrenzung und Durchlässigkeit – weitgehend verloren zu haben. Das Projekt positioniert sich im Dazwischen – dort der Grenzort in seiner Geschichtlichkeit und Vieldeutigkeit, da der Brenner, der letztlich dem Fluss von Waren und Menschen dient, dessen Infrastruktur funktions- und bedeutungslos geworden ist.
2007 wurden alle künstlerischen Interventionen abgebaut, der Kunstort scalini 84 stufen wieder sich selbst überlassen. Das Temporäre des Projektes wurde als Teil des künstlerischen Konzepts erklärt. Auch am Brenner ist ja durch den steten Verkehr, durch den Kreislauf der Natur, alles in Bewegung, flüchtig. Hans Winkler spricht dem Motiv des Verschwindens große Bedeutung zu: „Aber wird nicht gerade die Leerstelle in Anbetracht der künstlerischen Überproduktion und der inflationären Tendenzen durch die Vielzahl an Biennalen, Großausstellungen und Trends – zur konsequentesten künstlerischen Haltung – und das Verschwinden schließlich zur Kunstform?“ Nichtsdestotrotz festgehalten wurde das Projekt im vorliegenden bei Folio erschienenen dreisprachigen Katalog, der die Arbeiten der letzten sieben Jahre anhand zahlreicher Bilder und Texte dokumentiert.
 

nach oben