Universität InnsbruckUniversität Innsbruck

Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Markus Köhle

   


Alois SchöpfPlatzkonzert. Essay mit Erinnerung
Innsbruck: Limbus Verlag 2009

WORTMARSCH

Alois Schöpf ist seit 40 Jahren bei der Blasmusik und seit 20 Jahren Kapellmeister. Das an den Anfang zu stellen ist wichtig. Denn in der Folge werden mitunter Typisierungen und Klassifizierungen vorgenommen, die man so noch nirgends gelesen hat. Platzkonzert trägt den Titelzusatz Essay mit Erinnerung. Das heißt so viel wie Analysen rund um das Thema Blasmusik und Autobiografisches. Und genau das bekommen die LeserInnen dann auch serviert und zwar – ein Kapellmeister weiß, wie er sein Publikum zu bedienen hat – in gut gemischten Dosen.
Eingangs bedauert Schöpf, dass er durch seine Blasmusikverrücktheit nicht genug Zeit für die Schriftstellerei bzw. – wie er es ausdrückt – für die „der Selbstvermarktung, dem sogenannten Networking und der damit zwangsweise einhergehenden Selbstheroirsierung“ (S. 5 )hat. Ein Blick auf seine gut betreute Homepage (www.aloisschoepf.at) zeigt, dass er doch auch im schriftstellerischen Bereich seit Jahrzehnten sehr produktiv ist.

Schöpf gibt freimütig zu, „katholischer Atheist und leidenschaftlicher Antiesoteriker“ zu sein, was ihn jedoch nicht daran hindert, den kompositorischen Wert von Kirchenmusik zu loben. Schöpf geht es immer um die Musik, vom wie auch immer gearteten ideologischen Hinterbau lässt er sich nicht blenden. Er ist kein Dogmatiker, er ist Blasmusikmaniac. „Ich bin süchtig nach dieser Welt“ (S. 10), Um kurz in diesem Sprachbild zu bleiben. Schöpf ist ein strenger Dealer. Er weist sich frank und frei als durchaus pedantischer Kapellmeister aus, hält die „anstrengenden Zurechtweisungen“ allerdings für notwendig. Milde ist auch der Autor Schöpf nicht. Milde erwartet man sich auch nicht in einem Essay, das darf schon streitbar sein und das ist es vor allem dann, wenn Schöpf seine Schlüsse zieht.

Doch zuerst zum Erinnerungspart. Schöpf – man darf hier durchaus von Schöpf reden und nicht vom Erzähler respektive Erinnerungsessayisten – ist in einem Gasthaus aufgewachsen, in dem die Musik immer schon eine wichtige Rolle gespielt hat. Platzkonzerte waren etwas Besonderes in seiner Kindheit, da er schlicht und einfach länger auf bleiben durfte. Ähnliche Funktion hatten später dann die Musikproben. Das Kind genoss die Musik und wollte schon als Siebenjähriger Opernsänger werden. Für die Liebe zur Klassik waren Radioerlebnisse verantwortlich. Das erste Opernerlebnis erfuhr er via TV. Via Staatsfunk also, der damals noch was taugte, nun aber nur mehr nivelliertes Mittelmaß sende. In die Schriftstellerei schließlich wurde Schöpf von Pater Karl eingeweiht, der an sich auch andere Interessen gehabt hätte. Schöpf weist sich als Sonderling aus, als einer, dessen erste Platten die G-Moll- und die Es-Dur-Sinfonie von Mozart waren und dem die Mädchenwelt verschlossen blieb.

Die Erinnerungspassagen und das Essayistische sind angenehm ineinander verwoben. Erst wird beispielsweise erzählt, wie Schöpf 1957 den Zirkus Krone in Innsbruck besuchte und sich dort quasi auf den ersten Blick in das Saxofon verliebte. Dann folgt eine interessante Abhandlung über die Geschichte dieses  Instruments, das seinen Ausführungen zufolge das „antijesuitischste“ sei. Es entspannt sich im Folgenden ein äußerst amüsanter (ja, natürlich auch angreifbarer) Vergleich zwischen Saxofonisten und Flügelhornisten.  „Das Saxofon ist so perfekt konstruiert wie die menschliche Vernunft.“ Und zwar weil es keinen eigenen Ton habe, und sich „der menschlichen Vernunft vergleichbar, geradezu hurenhaft jeder Klangvorstellung“ (S. 32) anpasse. Das Saxofon sei, so führt er weiter an, das Instrument der „Selbsverwirklicher, die jeden biederen Kapellmeister, der auf konservative Werte sie Solidarität, Verlässlichkeit und die Bereitschaft angewiesen ist, auch Dinge zu tun, die nicht immer Freude bereiten, zum Wahnsinn treiben.“ (S. 34)

Das muss wohl so sein. Ein Blasmusikverrückter darf von seinesgleichen schon in den Wahnsinn getrieben werden, das ist Teil des Systems Musikkapelle und gleicht sich ohnehin intern wieder aus, denn: „Ganz im Gegensatz dazu ist das Flügelhorn eine kastrierte Trompete.“ (S. 35) Die Herren „der Innerlichkeit“ seien „meist fromme oder nachdenkliche Menschen“ und überdies gläubig, Klarinettisten hingegen „beredt.“ (Vgl. S. 41) Der Kapellmeister muss mit all diesen Typen umzugehen wissen, ein schwieriges Dasein: „Der Leitbulle muss erst beweisen, dass er würdig ist, seine musikalische Herde mit Kunst zu begatten.“ (S. 23) Das liest sich gut, ist aber (hoffentlich) nicht ganz ernst zu nehmen. „Ich war zu wenig ironisch“, schreibt Schöpf auf S. 92 über seine Mozart-Verständnisschwierigkeiten in der Jugend. Mittlerweile hat er die hohe Kunst der Ironie im kleinen Finger. Schöpf hat auch einen Hang zu prägnanten Stehsätzen. Um nur ein paar (der gelungenen) zu zitieren: „Beethoven ist bürgerlicher Aufstiegsstress pur.“ (S. 81f.) „Der Marsch ist die Musik des öffentlichen Gehens.“ (S. 113) „Die Glenn Miller Story. Das war Lässigkeit in Reinkultur. (S. 112)
An süffigen Formulierungen scharfer Beobachtungen fehlt es in Platzkonzert nicht. Die Lebensweise in der Zeit des Aufschwungs wird folgendermaßen beschrieben: „Hochrote Köpfe mit geplatzten Äderchen galten als Ausdruck von Vitalität. Fette Bäuche deuteten auf Wohlstand hin wie bei den Buddhisten.“ (S. 15)

Platzkonzert ist außerdem durchaus aufschlussreich. Man erfährt beispielsweise, woraus historisch korrekt Fanfarenorchester bestehen. Was man unter einem „Alla-breve-Schock“ zu verstehen hat. Wie man die Klassik gegen den Jazz verteidigen kann. Warum sich große Komponisten oft an die Machthaber anbiedern mussten, und, und, und. Freilich manchmal poltert Schöpf etwas zu klassikverbandelt altväterisch: „Umso unverzeihlicher ist es, wenn die Jugend durch die Medien, aber auch durch anbiedernde Instrumentalpädagogik und billige Konzertprogramme geradezu systematisch von dieser wunderbaren Welt ferngehalten wird.“ (S. 25) Wo er doch selbst weiß, dass es nichts bringt, die Jugend zu ihrem Glück zu zwingen. „Lehrer wollen alles richtig machen, daher machen sie das meiste falsch.“ (S. 73)
Die Seitenhiebe auf den Bukowina-Jazz (S. 22) kann man kommentarlos überlesen. Auf die Dauer etwas nervend jedoch ist die mehrmalige Wiederholung der sexualtechnischen Untätigkeit des Jünglings während der Schulzeit beziehungsweise das damalige Bedauern und jetzige Verklären der doch mit Literatur- und Musikbefassung besser genutzten Zeit. „Meine Unfähigkeit, mit den Freunden mitzuhalten, erwies sich also, ohne das ich es damals wissen konnte, als Chance, länger frei zu bleiben.“ (S. 129)

Was ebenfalls immer wieder kommt, ist die Behauptung, Städter, Kulturjournalisten etc. würden das Landleben und die dortige Blasmusikkultur denunzieren. Das jedoch sei dem Langzeitkämpfer der Traditionspflege zugestanden. Schöpf zieht überdies einen klaren Strich zwischen Blasmusik und volkstümlicher Musik und erklärt, wie der Siegeszug österreichischer Unterhaltungsmusik zu verstehen sei, nämlich dadurch, „dass hierzulande seit der Gegenreformation das Denken bis in unsere von großkoalitionären Mehrheiten gesegneten Tage herauf unerwünscht und wenn schon nicht verboten, so doch verpönt war.“ (S. 36f.) Schöpf denkt mit, weiß sehr wohl die Vor- und Nachteile beispielsweise des Tourismus (der auch immer wieder Thema ist) aufzuzeigen. „Wir machten Kunst für die Gäste. Und die Gnade, dass wir für sie spielten, hielt der Freude, dass sie uns zuhörten, die Waage.“ (S. 65)
In Summe ist dieses Platzkonzert gelungen. Das Publikum bleibt gerne bis zum Ende, lässt sich nicht durch vereinzelte Unstimmigkeiten verjagen, sondern ist auf die Zugabe gespannt. Und wenn man den Kapellmeister hinterher an der Bar trifft, lädt man ihn vielleicht sogar auf ein Bier ein, um in eine Diskussion über Jazz versus Klassik zu versinken.

 

[Bild: nach oben]

 



    


Elias Schneitter, Österreich. Karl
Skarabaeus 2008

Hör mal wer da spricht!

Das neue Buch von Elias Schneitter enthält drei Erzählungen gänzlich unterschiedlicher Machart. Der Titel „Österreich. Karl“ erweckt natürliche eine Erwartungshaltung. Der Erfinder des Herrn Karl, Herr Qualtinger, wäre dieser Tage 80 Jahre alt geworden. Der Herr Travnicek war eine Vorstufe des Herrn Karl und die Inkarnation des „ang'fressenen“ Österreichers. Der Herr Karl ist nicht nur „ang'fressen“, der Herr Karl wirbt um Verständnis für seine Ressentiments. Genau das u. a. machen Rechtspopulisten. Genau das macht auch die Figur in „Tausend Jahre Österreich“, der ersten Geschichte in „Österreich. Karl“.

1

Nicht der kleine Mann, sondern der Kronenzeitungsleser, der Kleinbürger, der Lesebriefeschreiber, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt aber täglich das Kronenzeitungsblatt in die Hand nimmt, spricht hier, ja sprudelt förmlich und teilt sich breit mit. Das ist einer, der nichts geschenkt will. „Aber was er will, das steht ihm zu.“ (S. 11) Das ist einer, der sich fragt: „Ja, wo käme man da hin?“ Das ist ein Handelsreisender a. D. der Held. Es ist der Schorschi, der da spricht.

Des Schorschis Freund wiederum ist der Karl, ein Beamter, der mit 54 in Pension geht. Und recht hat er. Der Schorschi hat übrigens das Recht gepachtet. Der Schorschi weiß sich zu wehren. Und schlägt natürlich zu, wenn zugeschlagen werden muss. „Zum Glück bin ich ein Mensch, der sich zu helfen weiß.“ (S. 12) Fast immer. Nur gegen die „Schneckeninvasion der Russenmafia“ müsste man was machen. Die russischen Mafiaschnecken fallen nämlich über Schorschis gehegten Garten her, wie die „Cevapcicis über das Land“. Und freilich gehörte auch dagegen was gemacht. Nein, der Schorschi verteufelt den Adi nicht, sehr wohl aber die „Buschneger“ am Fußballplatz, wenn sie nicht spuren und die hiesigen Frauen, wenn sie nicht spuren.

Aber der Schorschi schimpft nicht nur. Er hat auch Gutes zu berichten. Beispielsweise über die Qualitäten von Thailänderinnen oder die Vorzüge von Kurschatten. Des Schorschis Mantra ist: „Mir macht keiner mehr was vor.“ Hirn aus, Klappe auf. Ein stets auf eigene Vorteile bedachter, polternder Österreicher wie er nun im Buche steht. Sprachlich überzeugend, konsequent umgesetzt. Form meets Inhalt. Unsympathisch aber gut.

2

Walter der Waffennarr mit Arbeitsunfall, der herummausende Weltkriegsfan, der transzendentale Meditation betreibende, der heiratende und sich scheiden lassende, lustige aber verrückte Bursche. „Ruhe sanft im Trommelfeuer“ ist eine ungestüm drauflos erzählte Geschichte, eine Lebenserzählung im Schnellverfahren. Nicht on the road durch die Staaten, sondern unterwegs von Tirol nach Zürich sind da die kleinen Helden Walter und Manfred. Das ist überzeugend auf regionale Verhältnisse heruntergebrochene Beat-Literatur.

3

Herr Ernst schließlich ist Animator auf der Astor. Sein Reiseleiterfreund hat sich vor die U-Bahn geworfen. Ernst reist um die Welt mit alten Schachteln und intoleranten Deppen. Aber Ernst hat stets freundlich zu sein. Es bleibt ihm nichts anders über, als vermeintlich zuzuhören sich aber eigentlich weg zu denken. Ernst räsoniert, erzählt und dazwischen macht sich eine Frau Ingrid, die im gleichen Haus wie Ernst wohnt, um ihn Gedanken. Aber ein Aussteigen, anderes Leben beginnen oder in Pension gehen, gibt es in Ernsts freiem Berufen nicht. Das nervt nicht nur, sondern ist ernster. Es geht um Existenzielles, im gewissen Sinne ums Prekariat. Ein anderes als das momentan viel thematisierte der 30jährigen. Es geht um die 50+jährigen und deren Ängste, Sorgen, Nöte, Vorurteile, Erfahrungen etc.  Das und wie das sprachlich authentisch umgesetzt wurde, ist die Stärke dieses Buches.

Ja und wenn der Schorschi nicht so ausgesackelt worden wäre von seiner Ex, dann hätte er sich vielleicht auch einen Kreuzfahrtstrip auf der Astor geleistet und geschimpft über den Dreck und die Zustände in den bereisten Ländern. Und der Ernst hätte zuhören müssen. Kein Spaß für Ernst.

 

[Bild: nach oben]

 



 

 
Heinz D. Heisl,
 Abriss. Roman
Berlin: Dittrich Verlag, 2008 

Schamaufstand in der Sitzbadewanne 

Der Held von „Abriss“ hat eine schwierige Reise anzutreten und ein leidiges Kapitel seiner Biografie abzuschließen. Er muss zurück in die Stadt seiner Kindheit (unschwer als Hall zu erkennen). Er muss ohnehin immer wieder und immer weiter zurück, muss ausholen, um seine Gegenwart erklären zu können. Er muss also zurück, weil er sein Erbe anzutreten hat, er weiß, wie er das zu tun hat und lässt das Elternhaus abreißen, um somit einen Schlussstrich ziehen und endlich alles Gemeinsame planieren zu können.
Das Haus am Rande der Stadt, aufgebaut auf Mülldeponiegrund. Der Vater, der „Matrosenkappenmann“ ein „Müllplatzbaustellenbesitzer“ und in Summe eine Lebens- und Liebesruine. Die Mutter nicht minder. „Das Leben sei ihr verleidet.“ (S. 146) Und der Sohn für alles verantwortlich und überdies undankbar. Strafen, Beleidigungen und Unverständnis schlagen dem sensitiven Zögling entgegen. Selbstmordsehnsüchte, Höhenangst und Drang nach Abgrund sind dessen ungehörte Antwort darauf. Denn: „Du gehörst zu jener Sorte Mensch, welcher man nicht zuhört und wenn doch, dann flüchtig, ein zuhören also bloß vorgebend, dachte er.“ (S. 201) Und ständig dominiert ihn das Gefühl, er müsse „Aus sich herausrennen.“ (S. 210)

Es regnet viel in den Geschichten die in Bremen, Bochum, Paris, New York aber vorwiegend in Hall spielen. „Der Regen beruhigt.“ (S. 185) Und Beruhigung und Aufarbeitung hat der geschundene Held notwendig. Wie schon in seinem Text „Vom Gefühl. Eine Grobheit“ (2006) entdeckt Heisls Held eine Bar für sich als Reflexionsstube und zwar diesmal nicht in Tokio, sondern in New York, die Broome Street Bar (located in the heart of Soho).
„Wollte er es ...? Wollte er es nicht ...? Dieses sich Erinnern. Diese Bilder des Erinnerns. Konturen, die sich an sich selbst schärfen. Zurückliegendes aufquellen lassen. Wollte er dieses Erinnern zulassen? Sollte er die Erinnerungsgedanken beiseite drängen? Sich bedrängen lassen? Na was denn ... Na was ...“ (S. 198)

Was? Persönliche Erinnerungsarbeit mit eindringlichen Kindheitsepisoden, Spitzbubenstreichen und erschütternden Erziehungseskapaden der Eltern. Da werden viele schmerzliche Erinnerungen  ausgegraben aber auch berührend melancholische Alltagsgeschichten. Da vergleichen Schüler ihre Zahnstellung anhand der Bissmuster in Schokolade, ekeln sich vor und erregen sich gleichzeitig an Erotikfotos. Da richtet sich des Helden Glied in der Sitzbadewanne angesichts des Auftauchens von Annemarie trotzig auf. Da begegnet man undichten Absaugschläuchen von Gülletankwagen. Da werden erste Geschlechtsgegenchecks vor- und diverse interessante Körperdetails genauer unter die Lupe genommen. Da werden die Schennachs, die spießigen Schreckensnachbarn vorgeführt: „Und die Schennachs lachten alle diejenigen aus, welche keine Fremdenzimmer mit fließendem Kalt- und Warmwasser anbieten konnten.“ (S. 194) Und da wird viel Lokalkolorit gefärbt mit des Helden Sichtweise präsentiert.

Der Ich-Erzähler ist Musiker, war Orchestermusiker am Bochumer Stadttheater und musikalisch durch und durch ist auch der Text. Musikalisch, rhythmisch und gewohnt sprachoriginell. Ein wahrer Heisl halt.
„Die Wörter füllten das Haus. Die Geräusche füllten die Zimmer des Hauses. Eins nach dem anderen. Bis unter das Dach. Ja ... Sogar aus den Schornsteinen stiegen dicke Wortschwaden. Die Wände begannen sich zu wölben. Verbogen sich. Schienen jeden Augenblick bersten zu wollen. Das kleinste der Geräusche wurde zu einem Wort; irgendwann würde dieses Haus an irgendeiner Stelle nachgeben, um sich in einem lang gezogenen Schrei letztendlich aufzulösen.“ (S. 224)
Doch Worte genügten nicht, da mussten Bagger her und die lässt der Erzähler auffahren, um endlich Ruhe haben zu können.
„Abriss“ ist eine berührende, streckenweise komische, mitunter ausführlich abschweifende, aber immer sprachstilistisch angenehm hochtrabende Angelegenheit. Eine starke Abrechnung.
 

[Bild: nach oben]

 


 

Egon A. Prantl, Andrea Steinlechner: Madagaskar. Ein pornographischer Roman
Innsbruck-Wien-München: Skarabaeus 2007 

Geriatriepornografie auf der Schatzinsel 

Ich sitze in der Straßenbahn und lese „Madagaskar. Ein pornographischer Roman“. Der Platz scheint mir gut gewählt. Ringsum gackernde Teenager. Auf der Rückseite der Lehne des Sitzes vor mir steht mit Edding geschrieben: „Anna Anal“, darunter „Bitch sucht Boy zum Budern“, daneben die jeweilige Handynummer. Ich bin versucht das Alphabet fortzusetzen mit „Cärtlicher Cicker“, habe aber keinen wasserfesten Stift dabei. Also lesen statt schreiben.
„Ein pornographischer Roman“. Soso. Das Label als Schutzschild oder Stigma, frage ich mich und sichte das anrüchige Vokabular auf der ersten Seite. Ich werde fündig: „geankenorgasmus“, „nasses höschen“, „muschi“ „klitschnass“, „klitoris“, „geilheit“, und noch einmal „klitschnasse muschi“. Auf der zweiten Textseite folgt dann der „Schwanz“. Er wird noch oft kommen. Klotzen und Kleckern ist angesagt.

„Madagaskar“ will eine Liebesgeschichte sein – „aber was für eine: direkt und hemmungslos, hart und authentisch – und voll von leidenschaftlichem Leben.“, verspricht mir der Umschlagtext. Was jetzt? Liebesgeschichte oder pornografischer Roman?
Ich lese die ersten 13 SMS von Raoul an Sophie, sie lassen mich kalt. Pornografie ist kalt, Liebe warm. Geht das zusammen? Ich betrachte den Gesamttext. Er besteht aus SMS, Emails und Tagebucheinträgen. Die Heldin heißt Sophie, der Held Raoul. Beide bereits ältere Semester. Sie hat 13 Jahre Manfred und Kinder hinter sich und einen Job in der Bekleidungsbranche inne, führt also nach außen hin ein unscheinbares Dasein. Er ist Außenseiter mit Hang zum Wildsein. Sie muss dauernd irgendwas im Waschsalon waschen, damit sie mit ihm mailen kann. Er liest vor dem zu Bett gehen Bloch oder schaut Kriegsfilme. Sie leidet an Alleinseinsdepressionen, er an Sehnsuchtsanfällen.

Ich bringe die ersten Verkehrsakte hinter mich und konstatiere: Ausgelutschte Schwanz-Titten-Fotzen-Diktion hier, pathetischer Schmachtwulst dort. Einerseits platter Pornotalk und andererseits schwülstiges Gefühlsgedusel. Ich lese weiter und hoffe, dass da noch mehr, will heißen etwas anderes, kommt. Beispielsweise eine Geschichte, eine eigene Sprache, ein individueller Intimjargon.
Nach 190 Seiten muss man feststellen, dass man vergebens gehofft hat. Man hat unzählige belanglose SMS gelesen, hat tapfer schnoddrige SMS- und Mailschreibweisen erduldet, Rechtschreibeigenwilligkeiten auch. Das ist ja alles halb so schlimm, wenn man unbedingt „giebt“ schreiben will, meinetwegen. Auch halb so schlimm aber beklagenswert ist die formale Aufbereitung der Textelemente. Denn wenn der Text schon ausschließlich aus SMS, Mails und Tagebucheinträgen besteht, dann möge man diese bitte auch mit Datum und Uhrzeit, beziehungsweise Betreff versehen. Es ist durchaus aufschlussreich zu erfahren, wann die jeweils vorangegangene Nachricht beantwortet wurde.

Wäre da nicht der beharrende Anspruch darauf, etwas ganz Außergewöhnliches zu leben, man könnte die Geschichte ja als verunglückten Versuch über die Liebe mit pornografischen Anstrich abtun. Aber nein, diese „Zitronengrasliebe“ die sich zur „Wolfsliebe“ entwickelt, möchte glaubhaft machen, sie sei wunder wie wild und außergewöhnlich. Raoul weiß um ihre Bestimmung:  „Die Götter haben uns zusammengefügt, sie wollen, das weiß ich, kein Opfer. Nein, sie wollen, dass wir den Menschen zeigen, wie man Wildnis in Zivilisation lebt.“ (S. 79)
Von wegen Wildnis. Die angegraute „Wölfin“ und der greise „Wolf“ haben bestenfalls Streichelzooqualität. „ich weine, wenn ich das Geschriebene lese. Pures Selbstmitleid.“, bekennt Sophie in einem Tagebucheintrag (S. 12). Dem Leser ist nicht zum Weinen zumute, ergreifend ist in dieser Geschichte nämlich kaum etwas, ärgerlich einiges. Aber man folgt dem Austausch der sich Liebenden durchaus mit Mitleid. Denn es ist nicht leicht, in Würde zu altern. Das Gefühl des Fremdschämens beschleicht einen, man findet das Dargebrachte peinlich. Zum Beispiel „das meine Muschi“-“mein Schwanz Spielchen“. Das heißt: Er sagt zu ihrer Muschi stets „meine Muschi“, sie zu seinem Schwanz „mein Schwanz“. Jaja, Hingabe; ist mir schon klar aber: diese vereinnahmende, besitzergreifende Diktion nervt sehr bald sehr. Dazu gesellt sich ein Infatil-Touch, denn alles was nicht „Liebessaft“ oder „Sperma“ ist und auch irgendwo da unten raus kommt, nennen die Wolfsliebenden „Pipi“. „Supi!“, ist man geneigt auszurufen.

Nicht halb, sondern wirklich schlimm ist die Spracharmut dieses Textes. Die Geilheit, die Sehnsucht, etc. ist zu oft einfach nur „irre“ oder „unbeschreiblich“, die „Muschi“ ist immer „nass“, der „Schwanz“ droht dauernd zu „explodieren“ und man wäre froh, täte er dies auch tatsächlich einmal, das wäre zumindest eine beschreibungstechnische Herausforderung bzw. Abwechslung im Textschlamm. Mehr Bilder wie das titelgebende „Madagaskar“ (die Geilheit, die uns nach „Madagaskar beamt“) hätten dem Text gut getan. Zu oft bleibt das Blut im Schwanz, wenn es um Beschreibungen diverser (kaum sonderlich origineller, meist altersbedingt bequemer) Akte geht. Da wird dann bloß billig Plumpvokabular aufs Papier gespritzt. Zu allem Übel gipfelt die kaum vorhandene Story in einer sturzbiederen Alkohol-ist-böse-Moralpredigt, die hier nicht weiter kommentiert werden soll.

Was aber noch verraten werden soll ist, dass sich die zwei Zitronengraswilden tatsächlich „Schatz“, ja bisweilen gar „Schatzwölfin“ und „Schatzwolf“ nennen. Da läuft es den Leserschafen kalt übers Rückenfell. Man könnte ausrufen: authentisch und direkt! Man kann aber auch sagen: einfallslos und langweilig! Pornografie braucht keine Metaphern, könnte man einwenden. Aber sie braucht definitiv mehr Einfallsreichtum. Eine Sprache für die Liebe zu finden, ist eine Kunst, auch die Pornografie will gewieft versprachlicht werden, wenn sie funktionieren soll. Das ist Andrea Steinlechner und Egon A. Prantl in „Madagaskar“ nicht gelungen.
 

[Bild: nach oben]

 


 

Alois Schöpf, Vom Sinn des Mittelmaßes. Essay
Hohenems: Limbus-Verlag 2006

Jedes Land hat die Kulturszene die es verdient

„Alle Essayisten müssen, um interessant zu scheinen, bis zu gewissen schicklichen Grenzen aufschneiden. Dies gehört zur Berufsausübung, die nicht von jedem Beliebigen verstanden werden kann.“ Robert Walser

Alois Schöpf ist kein Beliebiger. Der seit Jahrzehnten in der Tiroler Kulturszene verhaftete Autor hat im neuen Limbus-Verlag (ins Leben gerufen von Bernd Schuchter, der vor noch nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Martin Kolosz den Kyrene-Verlag gründete, welcher mittlerweile von Kolosz alleine geführt wird) einen Essay vorgelegt, der allen Regeln dieser Kunst folgt (sofern man gewillt ist, Essayerstellungsregeln anzuerkennen). 
Da jubelt einer über Hochkulturevents in Salzburg und Bregenz und zeigt gleichzeitig auf, dass so etwas in Tirol nicht möglich wäre. Da wird hervorgehoben, dass das Mittelmaß in Tirol das Maß aller kulturellen Dinge ist, dass das nicht an der Infrastruktur oder anderen Faktoren liege, da es ja eigentlich alles gebe, sondern daran, dass es implizit gewünscht werde. Warum das so ist, wird erschöpfend erklärt.
Der Autor legt gleich eingangs klar, dass den Gegenstand seines Essays nicht eine kritische Auseinandersetzung mit der Hochkultur darstelle, sondern dass er Hochkultur für absolut notwendig halte. „Festspiele wie in Salzburg sind die Eucharistiefeiern der Aufklärung […] Dafür bin ich bereit, einen hohen Eintrittspreis zu bezahlen.“ (S. 20) Schöpf formuliert wohlfeil und spitz. Schöpf versteht es zu überzeichnen und weiß, dass dies notwendig ist, um Grundwahrheiten zu vermitteln. Das Land der „Tourismusweltmeister“, das „über alle Maßen von sich selbst berauschte Heimatland“ führt er ebenso vor, wie dessen Bewohner: „Der durchschnittlich gebildete Alpenbewohner ist, auch wenn er sich modern, postmodern oder hedonistisch gibt, in einem bestenfalls basiskatholisch verschlampten, meist jedoch immer noch intakten Christentum befangen.“ (S. 22)
Dies, und dass sich die nach dem Krieg getroffenen politischen Entscheidungen in ihrer Ausrichtung nie abgeändert haben, ist zentral für den Autor. „Der beste Schutz vor der Aufklärung ist die Betriebsamkeit der Scheinaufklärung, sowie der Kritik, es sei unmöglich, mit Vernunft alles zu durchdringen.“ (S. 57f.)
Schöpf prangert den „bravourösen Konservativismus“ an und bringt Beispiele aus seinen Erfahrungen als Kulturbeiratsmitglied ein. Nebenbei rollt er so auch die politische Geschichte des Landes der letzten Jahrzehnte auf. Wieso dem Kulturlandesrat Prior (unter Wallnöfner), Astl (unter Partl) folgte, erklärt Schöpf wie folgt: „Der komplizierten Machtlogik der seit der Völkerwanderung tribalistisch organisierten Volkspartei entsprechend, wonach die Regierung eine kontrapunktisch streng austarierte Harmonie aus Oberland, Unterland und Osttirol, aber auch aus Bauern-, Wirtschafts- und Arbeiter- und Angestelltenbund darzustellen hat, hieß der neue Landesrat für Kultur Fritz Astl, war Schuldirektor an deiner Hauptschule, kam aus dem Unterland und hatte von Kultur gerade soviel Ahnung, wie ein österreichischer Lehrer mit starkem Hang zu Sport davon im Laufe seiner Ausbildung mitbekommt – also sehr wenig.“ (S. 46)
Astl aber blieb trotz Inkompetenz cool und am Ruder (ein Antrag Schöpfs, der Kulturbeirat solle vorschlagen Astl abzuwählen wurde ausgehebelt, worauf der Aufmüpfige freiwillig das Feld räumte). Auf Astl folgte Platter, der das Amt bloß als Karrierezwischenstation betrachtete und dann bekam man es mit Van Staa zu tun, der ahnte, dass ihm wiederum dieses Amt für seine weitere Karriere schaden könnte, und die Kulturbürde deshalb an die potenzielle Konkurrentin Elisabeth Zanon abgab.
Schöpf macht keinen Hehl daraus, dass er von der hiesigen Festival- und Eventszene nichts hält. Er weist vielmehr darauf hin, dass Unsummen öffentliche Mittel in die Werbung aufgeblasener Events gepulvert werden, „um damit über die eigene kulturpolitische Inkompetenz hinwegzutäuschen.“ Je höher der Werbeaufwand, „desto leichter gelingt die Selbstbetörung“ und mehr werde hierzulande nicht gewünscht.

Den allgemeinen Vorausschickungen folgen die Kapitel: Theatergeschichte, Musiktheater, Broken Flowers, Konzertleben, Denkmalpflege, Volkskultur, Festivals, Alternativkultur, Literatur und Medien. All diese Bereiche werden mit mehr oder weniger treffenden Kommentaren versehen. Über die Entwicklung des Theaters hat Schöpf einiges zu sagen (über die Alternativkultur eher wenig). So erteilt er der Langzeitintendanz des gläubigen Christen Helmut Wlasak folgendes Urteil: „[Die Ära Wlasak] die, wie man aus der Distanz der Jahre bitter eingestehen muss, trotz ihrer katholischen Borniertheit oft mehr Weltoffenheit und Toleranz bewies, als sie heutzutage von jenen Egomanen aufgebracht werden, die über mehr Freiheit als damals verfügen, sie aber nicht nutzen, da ihr Spielplan nicht der Neugier, der Erkenntnis oder gar dem Publikum, sondern vor allem der Abrundung und Absicherung ihrer stets gefährdeten Künstlerkarriere zu dienen hat.“ (S. 61) Das Erbe Wlasaks trat der Schweizer Dominique Mentha an. Ihm wird von Schöpf lediglich zu Gute gehalten, dass er die Auseinandersetzung mit dem Publikum zwar nicht scheute, dieses allerdings auch nicht ernst genug nahm. Unter Menthas Landestheaterführung wurde in den Augen Schöpfs „mäßig gebildete Aufklärung“ betrieben. Die dritte und derzeitige Intendantin Brigitte Fassbaender war eine weltberühmte Sängerin, das genügt. Es wird weiterhin brav – oder wieder – „erhaben Gestriges“ inszeniert. „Die Ruhe im Land wird gewahrt bleiben.“ (S. 71) Großes ist freilich nicht zu erwarten.

Auch anhand des Beispiels Volkskultur gelingt es Schöpf seine zentrale These anschaulich zu schildern. „[Auch in der Volkskultur muss] die Kunst in erster Linie zur Herbeiführung eines gedeihlichen Vereinslebens herhalten (muss), was auf ein Mittelmaß verpflichtet, das für die unterschiedlichen Mitglieder der Vereine sozial verträglich zu sein hat.“ (S. 113)
Von Alternativkultur allerdings hat Schöpf keine Ahnung, die bemüht lustige Abhandlung diverser Klischees hätte er sich sparen (oder der Lektor den Lesenden ersparen können), da werden nämlich Zwetschken mit Birnen (respektive Alternativkultur mit Jugendkultur, Jazz mit Undergroundmusik, E mit U uns sonst noch allerhand) verwechselt. Hier schießt der Autor gehörig über die (um zum Eingangszitat zurückzukehren) „schicklichen Grenzen“ hinaus. Das ist kein elegantes „Aufschneiden“, sondern bloße Provokation (und in gewissen Kreisen wahrscheinlich Harakiri).

Zur Einleitung des Schlussabsatzes sei Günter Brus zitiert, der im zweiten Teil seiner Autobiografie mit dem Titel „Das gute alte Wien“ schreibt: „Die, die sich in Wien gegen den Stillstand wehrten, waren zum Aufbruch nicht bereit. So blieb alles in der Mittellage, die still und leise vor dem Eisernen Vorhang dahinrostete, fern von Prag und Budapest, nahe St. Pölten und Wiener Neustadt.“ Wien hatte die Wiener Aktionisten, Tirol hatte „Max Langweiler“ (so Brus).
Dagegen sein ist nicht genug, eh wissen, dass die Uhren im Land Tirol anders aber trotzdem mit dieser Zeit gehen, wenig hilfreich. Diese Zustände gut lesbar darzustellen hingegen sehr. Zwar muss man das alles natürlich nicht so sehen wie Schöpf, dennoch bleibt zu hoffen, dass seine Ausführungen Leserinnen und Leser finden, die sich durch die schöpfschen Positionen  zumindest zu Diskussionen darüber angeregt fühlen.
Mit „Vom Sinn des Mittelmaßes“ geht Alois Schöpf mit dem Kopf durch die Ignoranzwand im schönen Land Tirol.

 

[Bild: nach oben]

 


 

 
Elias Schneitter, Augenblicke einer Biografie, in der Giorgio Voghera schon seine Finger im Spiel hat
.
Innsbruck: Skarabaeus 2007 


Lasset uns drauflosschreiben! 

Der neue Schneitter ist da, diesmal wieder broschiert und ohne Sonnenbrille und Kopfschmerzen zu lesen, obwohl er wenig „augenfreundlich“ schreibt. Der Titel ist fast titelseitenfüllend, der Text, wie bei allen Skarabaeus-Büchern gewohnt schön gesetzt, die Farbe des Bandes tiefblau, die Prosa flattersatzflott und die Zeichnungen von Hans Pfefferle herzlich willkommene optische Zugabe. Apropos Optik: Das Ich in Schneitters Prosaband leidet unter Diplopie, sieht alles doppelt, doppelte Augenblicke einer Biografie also, außerdem verdrehen im Sinne Oskar Pastiors selig Phonem und Graphem dem Ich den Kopf.

 „und haben sätze ein geschlecht / oder brüste oder einen arsch? / ist der satzbau eine genetische abhandlung? kann man sätze gegeneinander aufrechnen / oder soll man sie einfach schlucken?“ (S. 10) will das Ich wissen und versucht sich so von wirklichen Problemen abzulenken. Denn da schwingt eine Trennung mit, irgendwo im Hintergrund, irgendwo zwischen dem freimütigen Geplauder, das erfrischend anders in Form gebracht wurde. Denn: „wird der satzbau weiterhin verwendet,
kann sich nicht viel ändern.“ (S. 117) 

Vordergründig wird freilich laufend der Ort (Triest, Rom, Wien, Zirl, Lowell Massachusetts) gewechselt – auch das nur eine Möglichkeit der sich zu stellenden Realität vorübergehend zu entkommen:  „aber man reist ja nie allein, / zumindest irgendein alter ego ist immer dabei“ (S. 12) Und überdies wird laufend der Erzählstrang unterbrochen.
„aber zum thema:
wie steht es mit der erzählhaltung:
über den dingen stehend.
die handlung: frei erfunden.
die figuren: sehr komplex, nicht immer authentisch.
die thematik, die motive, die orte der handlung.
alles fein gewoben, wohldurchdacht,
kein buchstabe zuviel,
kein satz zu wenig,
mit einem wort: bezaubernd
alles in allem.
womöglich ein wenig zu sehr über den dingen stehend.
ansonsten ein werk,
das sich nicht zu verstecken braucht.“ (S. 15) 

So viel zu Selbsteinschätzung.
Das Ich versucht seinen persönlichen Trennungsschmerz zu überwinden und weiter zu leben und zwar ganz und gar nicht linear, denn das Leben ist viel eher ein Drunter und Drüber, als reibungslos und durchorganisiert. Warum also nicht einen literarischen Weg einschlagen und versuchen, dieses Auf-ab-kreuz-und-quer-und-alles-immer-gleichzeitig formal umzusetzen? Ja, warum nicht. Der Ich-Erzähler hat eine Möglichkeit gefunden und sagt sich los vom Konventionellen.
„jetzt ist es amtlich,
verkünde ich
auf einer roten parkbank:
ich möchte keine sätze mehr treffen,
schon gar nicht jene,
die lauthals aufmarschieren.
ich benötige kein bauhaus mehr,
kann auf bücherregale verzichten.“ (S. 69) 

Nicht die Geschichte, sondern das Erzählen ist Ziel, wird auf dem Cover postuliert. Der Erzähler hält fest: “ich will keine geschichte erzählen / und weshalb das so ist, / das ist eine eigene geschichte.“ (S. 37) Aber keine Angst, dieser Text ist weder hermetisch, noch fühlt er sich ausschließlich der Form verpflichtet und nein, man muss nicht notwendigerweise wissen, wer Giorgio Voghera ist. Auch nicht wer Jack Micheline, Kathy Acker, Jan Kerouac, Ray Bremser, Richard Brautigan, John Wieners, Gregory Corso, Buk oder Philip Whalen sind. Der Ich-Erzähler hat schlicht eine Schwäche für BeatautorInnen, gibt gerne Unmengen für Bücher dieser Heroinen und Heroen aus, schwatzt aber ebenso gerne mit schreibenden KollegInnen aus der näheren Umgebung (Gert Jonke, Peter Vonstadl, Urs Mannhart, Christoph Simon, Helmuth Schönauer, R. P. Gruber, etc. – zumindest diese AutorInnen sollten einem doch schon untergekommen sein. Vortrefflich die Vonstadl-Episode, in der er in einer Spelunke u. a. die Einsicht „Gedichte kann man nur zulassen“ vom Stapel lässt und damit auf ein neues Bier spekuliert.). Darüber hinaus erlebt der Erzähler beispielsweise unvergessliche Straubengenüsse im Schilcherland, trinkt drittklassigen Schnaps kombiniert mit erstklassiger Unterhaltung auf seiner Terrasse in Zirl.  Denn die Gesprächspartner entpuppen sich stets als weise Bemerkungen absondernde, gut trinkende oder an der Erfindung eines Schreibcomputers herum tüftelnde, also interessante ZeitgenossInnen.
„gefüllte worttöpfe
programmierte satzbaupläne
generiert mit random“ (S. 4) 

Ob das Leben wie eine Geschichte ablaufe oder ob das nur eine Schreibtischfiktion sei, will der alte Freund der Centraldichter, dem es nicht besonders gut geht, wissen, bevor er in die Klapsmühle zu Hall eingeliefert wird. Halten wir dem Wissen aus erster Hand entgegen.
„wenn du gut schreiben willst,
dann musst du mit deinem leben hausieren gehen
und es dafür einsetzen,
sagte bob kaufmann
in der jack-kerouac-school
in boulder colorado.
das hatte zumindest ann waldman
christian ide hintze und christian loidl
am schwechater flughafen erzählt.“ (S. 126) 

Diesem Zitat muss erklärend ein weiteres folgen: „alles, was ich weiß, / weiß ich von anderen. / das steht in einer triestiner familiengeschichte, / aus der claudio magris in gedenken an giorgio voghera vorliest.“ In Schneitters Buch steht das auf Seite 147, also am Schluss und thematisiert nochmals eine Frage, die sich durchs ganze Buch zieht, nämlich: „wenn sich ein satz in einem buch befindet: / wem gehört er dann?“ (S. 7)
Ja, gute Sätze sind wertvolle Funde, auch fremde Sätze, weil um’s „Gehört“, respektive ums „Haben“ geht es dabei ja nicht. Gute Sätze gehören gehört, ist man versucht zu schreiben. Schneitter hat ein sensibles Satzaufspürsensorium und gibt in seinem neuesten Buch großzügig Einblick in seine Funde und von ihm Erfundenes. Ein Buch, das man – auch aufgrund der immer wieder Neues eröffnenden Zeichnungen – immer wieder zur Hand nehmen kann und soll.

 


[Bild: nach oben]

 


 
 

Heinz D. Heisl, Vom Gefühl - Eine Grobheit.
Edition Sprachsalz 2006. 


Ein Autor sieht rot
 
 

Er sollte weniger Kaffee trinken, denkt man sich. Dieses sympathische Arschloch sollte wirklich weniger Kaffee trinken, schlägt nämlich auf den Magen, das müsste nicht auch noch sein. Andererseits, was trinkt man in einem Cafe untertags, eben. Und wenn man den ganzen Tag, ja Tag für Tag „auf dem Hocker vor der Scheibe des Cafes in der Gaien Higashi Dori“ sitzt und sinniert, dann müssen es eben viele Kaffees sein, eh klar.
„Du bist grob, Greiner. Ich weiß. Aber da ich die Grobheiten nur denke, sie also nicht aufschreibe und infolge eines Nichtaufschreibens diese keinesfalls nachlesbar mache und sie somit nicht für einen Leser gedacht sind, darf ich so grob sein, wie ich nur grob sein möchte. Und ich dachte mir, scheißgrob, ja, scheißgrob, Greiner. Du darfst scheiß… grob… sein.“ (S. 337)

Du darfst. Er darf. Der Held der Geschichte heißt Konrad Greiner und ist ein „Gummibandinnsbrucker“. Vater Geiger, Mutter Philatelistin. Greiner wechselte von der „Tonfolgenerzeugungsmannschaft“ in die „Sprachniederbringungsgemeinschaft“, wurde zum „Wortzeilenanhäufer“, zu einem, über den das Leben lacht. Greiner ärgert sich über seine „Unsinnigkeiten“ in der Vergangenheit –  „Hätte ich bloß nicht. Wäre ich bloß nie.“ – und er ärgert sich auch über seine gegenwärtige Altersgeilheit. Das alles geht äußerst wortgewaltig und sprachrhythmisch von statten, gnadenlos und selbstkritisch wird über „sprachaufgedunsene Popanze“ be-, ja auch gerichtet. Schriftsteller zu sein, bedeute einen unerträglichen Charakter zu besitzen, ein unerträglicher Mensch, ein „Betriebsspeichelschlürfer“ zu sein, liest man im Gedankenprotokoll des Schriftstellers Greiner, der all das, was einem als Text vorliegt, niemals würde schreiben wollen, ja mehr noch: „Nichts hätte ich schreiben sollen. Niemals auch nur eine Zeile.“ (S. 4) Weit schlimmer noch, als die „Kellner der Literatur“, sind die Verleger, die sind nämlich „Aasgeier“ oder um es blumiger zu formulieren „gewissenlose Ausschlachter“. Die „Verlagshausdünkelvisagen“ riecht der Abrechner meilenweit gegen den Wind. „Eine Minderwertigkeitskomplex-bedienungsmeile, die Gangfluchten und Büroräume der Verlagshäuser“ (S. 160f.)

Apropos Verlage: Der Roman ist das erste Produkt (ja, Produkt, weil nicht nur Buch) der Manuskript Edition Sprachsalz. Dass das jährliche, mehrtägige Literaturfestival Sprachsalz mittlerweile allen Lesefähigen und Lesewilligen ein Begriff ist, davon erlaube ich mir an dieser Stelle auszugehen. Ich erlaube mir außerdem in dieser Besprechung, aufgrund der exklusiven Auflage und des nicht minder exklusiven Preises, der mit der Auflage korreliert, einige längere Textpassagen wieder zu gegeben, um es einer breiteren Schar von Lesepiratinnen und Lesepiraten zu ermöglichen, Teile des Heiselschen Wortschatzes zu lichten.100 Stück des Romanmanuskriptes wurden nummeriert und signiert, versehen mit einer Audio CD (gewohnt gut vom Autor gelesen) sowie einer DVD („die Kobe Haus Sequenz“ aus der filmischen Umsetzung des Romanes von Magdalena Kauz) herausgegeben. Ein Foto des „Zeit“ lesenden und Zigarre rauchenden Autors mit nasefliehender Brille und der hirschdominierte Umschlagfassadenvorschlag für den Roman „Die Alleinunterhalter. Gewissermaßen die Fortsetzung“ komplettieren den beeindruckenden, mehr als fest gebundenen Text-Ton-Bild-Ziegel im A4-Format (ein schweres Buch im einfachsten Wortsinn).

„Vom Gefühl. Eine Grobheit“ ist ein formal äußerst komplexes, sprachscharf geladenes, konsequent rundumkritisches, nichtsdestotrotz vergnüglich zu lesendes Buch. Vor allem, wenn sich leicht zu entschlüsselnde, allseits Bekannte Figuren in den Text tummeln. Von einem Rudolf Saurwein ist da die Rede – „eine durch und durch groteske Erfolgsexistenz dieser Rudolf Saurwein, wie ich eine durch und durch groteske Erfolgsexistenz bin: Erfolgssüchtig, verdorben und verludert, nichtsnutzige, verabscheuungswürdige, erfolgshungrige und also erfolgsverfressene Schriftstellerexistenzen.“ (S. 135) – und zu allem Überfluss auch noch von diesem Nikolaus Gerlacher. Man fixiere die Initialen und abstrahiere. Heuchelwunder Greiner versteht es mit beiden zu reden:

   „[…] an und für sich versteht man alles, sieht sich freilich hin und wieder dazu verpflichtet, ein Missverstehen Verstandes halber zu verstehen zu geben…, Betroffenheitszurschaustellungen, Gleichgültigkeitsgesten, Freundlichkeitswörter-umzingelungen, Liebenswertigkeitsfesselschlingen im Hüfthohen Gras der Betriebswiese, Nettigkeitsstolperdrähte, Glückwunschposttodeskarten, Feindbildwertkarten, Paranoiabriefmarken, Verfolgungswahngrußkarten, Entleibungswunschtelegramme, posttraumatische Rundumwortwurfsendungen, Blickstriche, Sticheleien, Versöhnungen, Mundprotuberanzen.“ (S. 68f.)

Der Selbstankläger Greiner sitzt auf einem Barhocker irgendwo in Japan, nicht in einem Ohrensessel irgendwo in Österreich. „Ich saß auf dem Hocker. Und ich zerrte an mir.“ (S. 98) Er zerrt ordentlich. Ein Autor sieht rot. Greiner, der selbst ein „Erfolgsautorenverlagsgesicht“ hat bzw. gerade dabei ist, dieses zu verlieren, entledigt sich seiner Vergangenheit. Der Besuch des „Scheidungstempels“ erweckt Vergessengeglaubtes in Greiner, lässt es ihn wiederkäuen und endlich verdauen bzw. auszuspucken, der Tempelbesuch festigt Greiner in seinem Entschluss, den österreichischen „Fettwurstwortkessel“ hinter sich zu lassen.
Greiner erinnert sich an seine ritualisierten Kaffeehausgänge (Gritsch), seine Schulzeit „Ein Nazigymnasium, das Akademische Gymnasium in der Angerzellgasse. Ehemalige Nazis, die Professoren, der ganze Lehrkörper, ehemalige Nazis. Ausleselager:“ (S. 149), Greiner analysiert seine Wientage „In Wien, an der Weichheit des Wienerischen, versteinert man. Und in Innsbruck, in der Innsbrucker Härte, bin ich weich geworden.“ (S. 159) und der end-life-crisis-gebeutelte Greiner denkt auch wehmütig an seinerzeitige sexuellen Ausschweifungen mit einer rothaarigen, sekretreichen Kaltenbacherin „Welche Manneszierde nun wohl in dieser Furche zu ackern habe…, dachte ich, […]“ (S. 176) Außerdem kann der Roman aufwarten mit Episoden über beispielsweise Pünktlichkeitsbemühungspeinlichkeiten oder Kennen-Sie-das-Kufsteinlied-Verlegenheiten mit vermutlich hohem Identifikationspotenzial sowie handfester Heimatkritik, sei’s in Form von Architektur- oder „nur“ genereller Gesellschafts- und Mentalitätskritik.

„Heimaterinnerungsbilder alpenrepublikanischer Hauseigentumsumzäunungsgepflogenheiten: Betonieren oder nageln; Pfosten in den Boden rammen, und Bretter und Nägel, und Nägel einschlagen, und Pinsel und Firnis, oder betonierte Sockel und Eisensäulen (Steher) und Draht; zuoberst (einen, zwei, vielleicht drei (Umläufe) mit Stacheldraht. Dahinter die Koniferen, Thuya Occidentalis L. Scheußliche Zypressengewächse in den Innsbrucker- und Stistranser- und Lanser- und Rumer- und Thaurer- und Völser- und Tulferer- und Ampasser- und Aldranser- und Zirler- und Haller- oder Igler- Eigenheimgartenanlagen… Ein, neben der durch die Waldruhe reitenden Töchterschar weiteres Ärgernis stellen die den Erholungssuchenden plötzlich mit unsagbarer Wucht anfallenden Aussichten auf Architektur- und Bausünden dar.“ (S. 130)

Dass dem Tod, gegen Ende des Romans, eine nicht unwesentliche Rolle zugedacht ist, das beschleicht einen schon vorher. „Das Leben ist das Fremdgehen vor dem Tod.“ (S. 213) Greiner, der sich schwört nichts mehr zu schreiben, liest und kommentiert, noch immer auf dem Barhocker im Cafe sitzend, sein letztes, unfertiges Manuskript mit dem Arbeitstitel „Das zweite Leben“. Diese Kommentare geraten erneut zu Verlags- bzw. Literaturbetriebsmodenkritik.

„…Kurze Sätze Modisch kurze Sätze…. Kurze Sätze sind in Mode… Die Verleger und Verlegerinnen lieben kurze Sätze und sie lieben Autoren, welche kurze und also modische und dem Zeitgeist entsprechend knapp gehaltene Sätze schreiben. Es auf den Punkt bringen, sagen die Verleger und Verlegerinnen, dachte ich. Es auf den Punkt bringen….“ (S. 239) Auch in diesem Roman im Roman ist der Held ein Musiker, allerdings nur ein Laie. Greiner verabscheut diesen seinen Text – „Hier blüht die Niedertracht.“ (S. 259) – und entsorgt ihn im Abfalleimer des Cafes auch der Romanentwurf im Moleskin (eine 40 Stunden Lebensbeichte in Natters) kann Greiners in seinem Erregungszustand zwischen Unsinnigkeit und Notwendigkeit nicht überzeugen (wenngleich die Skizzen doch eine gewisse Neugier in ihm   erwecken). „Du bist erfolgreich gewesen Greiner, weil du – silentium est aureum – niemals das geschrieben hast, was du dir jetzt und hier, auf dem Hocker vor der Scheibe sitzend, denkst.“ (S. 184f.)

Greiner registriert, dass ihn Innsbruck auf dem Gewissen hat, dass ihn Innsbruck umgebracht hat „und also“, bleibt dem Helden „naturgemäß“ nur mehr die Flucht, die Flucht nach vorne „gewissermaßen“. Greiner fährt in den Selbstmörderwald. „Deru kui wa utareru, der Nagel der hervorsteht, der wird eingeschlagen, lautet ein Sprichwort in Japan, dachte ich und dachte, dass ich alle hervorstehenden Nägel einschlagen möchte und am Schluß auch mich selbst als einen ebenso hervorstehenden Nagel einzuschlagen hätte.“ (S. 333)

In „Vom Gefühl. Eine Grobheit“ von Heinz D. Heisl läuft eine überreife Wortbirne Amok, wird zur Abrissbirne des Literaturbetriebs- und Heimathauses, um schließlich selbst ins „Weiche“ zu gehen.

 

[Bild: nach oben]



 
 

Siegfried J. Schmidt, Zwischen Platon und Mondrian. Heinz Gappmayrs konzeptuelle Poetik.
Klagenfurt: Ritter 2005 

Es lebe die Dauerreflexion!


Siegfried J. Schmidt macht Heinz Gappmayr mit diesem Buch ein ganz besonderes Geschenk zum 80sten Geburtstag. Schmidt selbst ist gerade 65, geht seit 35 Jahren Lehrtätigkeiten an mehreren Universitäten nach, ist momentan Vorstand des Institutes für Kommunikationswissenschaften der Universität Münster und seit 1959 als Autor, Künstler, und Theoretiker im höchsten Maße aktiv.
Für Gerhard Jaschke, den Herausgeber der Literaturzeitschrift „Freibord“ die stets offene Flanken für strenge künstlerische Konzepte und das flottierende Feld der ästhetischen Ansätze habe, ist die Stadt Innsbruck und Visuelle Poesie gleichbedeutend mit Heinz Gappmayr. Siegfried J. Schmidt wiederum ist für Jaschke der Paradeanalytiker und künstlerische Programmatiker von Visueller Poesie und Sprachraumkunst. Anlässlich der 30 Jahr Feier der Zeitschrift holte sich Jaschke dieses Paar nach Wien, in die „Alte Schmiede“, um den Band „Zwischen Platon und Mondrian“ zu präsentieren. Im Folgenden werden Buch- und Veranstaltungsbesprechung miteinander versponnen.

Die Beiträge im vorliegenden Ritter-Theorie-Band spiegeln gut 40 Jahre Entwicklung von Praxis und Theorie der konkreten Kunst und Dichtung in wechselseitigen Bezugnahmen zweier befreundeter Autoren. Die Palette reicht von ersten Konkrete-Kunst-Manifesten und Grundsatzerklärungen in den 60er Jahren, bis hin zu den Versuchen eines zeitgemäßen, neuen Selbstverständnisses konkreter Kunst und Dichtung.
Das ist nicht wenig. Gut, dass Gappmayr bereits in den 60er Jahren für die Ewigkeit formulierte. Das heißt, dass es immer wieder zu Wiederholungen von Definitionen und Beispielen kommt. Das schadet in diesem Fall nicht, macht die Sache (Gappmayrs Poetik) nur klarer. So finden sich bereits in sehr frühen theoretischen Arbeiten Gappmayrs (60er Jahre) heute noch gültige Kernsätze Gappmayrs:

„In der konkreten Poesie gibt es keine Symbole, keine Metaphern, d. h. keine abstrakten sprachlichen Formen, die auf Objekte der Wahrnehmungswelt verweisen.“ (S. 13) Das ist im Anbetracht der Komplexität des Betrachtungsgegenstandes erstaunlich luzid formuliert. Das Gedachte werde als real gesetzt. Sprache verweise auf etwas, sei abstrakt, liest man und folgt gerne. „Konkret bedeutet in der konkreten Poesie das Unmittelbare des Gedachten, Sinnhaft-Logischen, Ideenhaften, das in den Zeichen der Schrift erscheint.“ (S. 19)

In der visuellen Poesie wird also das Erscheinen von etwas Gedachtem, der Übergang vom Zeichen zum Begriff sichtbar. Gappmayr weist auf die Universalität der Begriffe hin, hebt hervor, dass sie etwas Allgemeines und Ideenhaftes sind. Gappmayr arbeitet das seiner Ansicht nach eigentliche Thema der visuellen Poesie klar heraus und sieht es im Übergang vom Physischen der Schrift in das Gedachte des Begriffs. „Der visuellen Poesie geht es um das Erscheinen von Ideen in Wortzeichen.“ (S. 24) Und die Differenziertheit zwischen Zeichen und Begriff sei in der visuellen Dichtung nicht etwas Vermittelndes, sondern eine poetische Qualität.
In der visuellen Dichtung wird das einzelne Wort als etwas Selbständiges betrachtet, es wird die Unschärfe der Sprache thematisiert. Auch der Raum modifiziert den Begriff in der visuellen Poesie. Die Wörter aber stehen für sich – sind keine Metaphern, stehen vor dem Leser wie Gegenstände, die Objekte, über die sie etwas sagen sollten, fehlen. Das ist u. a. ein großer Unterschied zur traditionellen Dichtung und alles schon in Gappmayrs theoretischen Texten aus den 60er Jahren heraus zu lesen.

Schmidt attestiert Gappmayrs Poetik eine „unerhörte Klarheit“. In theoretischen Texten seiner Feder aus den 70er Jahren ortet er einen Übergang von „experimentell-konkretisierenden“ zu „konzeptionell-konkreten“ Sprachvertextungen und stellt fest, dass die konkrete Poesie nicht mimetisch, sondern generativ sei.
„Im visuellen Text werden nicht die empirischen Objekte, sondern die Kategorien des Denkens in der Sprache selbst sichtbar:“ (S. 45) Wichtig zum Verständnis von konkreter Poesie ist sein Hinweis, dass die konkret visuellen Arbeiten nicht einzeln interpretierbar seien, dass vielmehr Klarheit über die Art des Werkes geschaffen werden müsse. Eine Gemeinsamkeit aller visuellen Texte Gappmayrs erkennt Schmidt 1970: „Es sind Meditationstexte: Texte als gezeigter Vollzug von Schauen und Denken.“ (S. 47)

Schmidt weist darauf hin, dass in der Beschreibung der konkreten Dichtung oft negative Kennzeichnungen verwendet werden. Die Negation als Kategorie zur Beschreibung konkreter Dichtung wird nicht nur von Gegnern dieser Literatur angewandt, sondern auch von den Befürwortern. Konkrete Poesie negiert episches, narratives, lyrisches Sprechen, negiert die Mimesis, und das Metaphorische. Konkrete Dichtung teilt nichts mit.
„Als konkretes Werk ist es weder optische Gestalt noch Text, sondern Objekt oder Text in Potentialität.“ (S. 61) Visuell-konzeptionelle Poesie sei vielmehr Sprache mit „Neu-Sinn“. Neue Formen der Bedeutungskonstitution werden gesucht. „Visuell-konzeptionelle Poesie arbeitet nicht mit Sprache; sie verwirklicht sich als Sprache, […] sie präsentiert das Prinzip möglicher Sprache als literarischen Prozeß.“ (S. 70)

Die Rolle des Rezipienten dabei ist: „Der Rezipient konkreter Texte wird, weitaus radikaler als bei der Rezeption fiktiver literarischer Texte, aus einer Genießerrolle in eine Realisationsrolle gedrängt. Die Rezeption erfordert eine Anstrengung der Anschauung und des Begriffs zugleich, eine Lösung von angebotenen Sinn-Problemen, die sich erst dann als ästhetischer Genuß realisiert, wenn die Rezeption die Null-Kontexte gefüllt, die paradigmatische Dynamik des konkreten Textes in Gang gesetzt hat und dabei erfährt, dass konkrete Texte sich dem Verbrauch entziehen, weil sie auf die Gesetzmäßigkeiten von Vertextung überhaupt transparent sind. Zog der Betrachter und Leser gegenständlicher Kunst bzw. semiotischer Literatur den ästhetischen Genuß aus dem Vergleich des Textes mit einer suggerierten Wirklichkeit als Vorbild, so gewinnt der Rezipient konkreter Kunst den ästhetischen Genuß aus der Entdeckung der Theorie (=Interpretabilität) aus dem Text bzw. aus dem Vergleich von Theorie (= Textprojektion) und ihrer Realisation im Text.“ (S. 79)

Diese Arbeiten nehmen den Betrachter entweder ganz auf, oder sie schließen ihn ganz aus. Diese Kunst thematisiert primär das Sehen, der Reflexionsgehalt des Werkes ist wichtiger als die mimetische oder Repräsentationsfunktion. So benutzt Gappmayr beispielsweise seinen Gegenstand – die Sprach – nicht argumentativ, sonder präsentativ und schrieb schon 1970: „Das einzelne visuelle Gedicht in seiner Vollständigkeit ist die Erscheinungsform einer bestimmten Beziehung zwischen den Begriffen oder Ideen der Dinge und den Zeichen der Schrift.“ (S. 134)

Übrigens: Der 80jährige Gappmayr trug frei vor, im Stehen, mit am Rücken verschränkten Armen und verkündete: „In der Literatur geht es meist um etwas, um etwas, das außerhalb der Sprache ist. Es ist immer ein Bezugspunkt da, zu etwas, das außerhalb der Literatur liegt.“
Gappmayr streute Anekdoten ein und erzählte amüsiert, dass ihn einst ein Bediensteter der Österreichischen Nationalbibliothek anrief und sagte, dass es sich bei dem in der ÖNB eingelangten Buch um einen Fehldruck handeln müsse, da es zur Gänze leere wäre. Das Buch trägt den Titel „Raum“ und soll so sein, erklärte Gappmayr dem Verstörten gelassen und bedankte sich für die Nachfrage. Auch im öffentlichen Raum verwirrten Gappmayrs Werke.
Die vier Jahreszeiten zum Beispiel, dargestellt durch die Datumsangabe, geschrieben auf ein weiße Plakatwand und mitten im Wald bei Reutte aufgestellt, riefen Augenzeugen zufolge, Kopfschütteln der Wanderer hervor. Gappmayr berichtete es mit Vergnügen.
In der Kommunikation müssen wir darauf vertrauen, dass die anderen ähnlich denken wie wir. Sonst funktioniert Kommunikation nicht. Man hörte dem freundlichen Herrn gerne zu und konnte ihm gut folgen.

Schmidt ist anderes aber auch verständlich. Er hat die Stimme, die Artikulationsweise und das Charisma von Eduard Zimmermann aus „XY ungelöst“. Bei Schmidt aber bleibt nichts ungelöst, der umsichtige Analytiker lässt keine Fragen offen und bewies Humor, in dem er den Vortrag Gappmayrs als erhellend kommentierte und nüchtern hinzu fügte, dass es ihm, dem Theoretiker, nun obläge, das Themengebiet wieder zu vernebeln.
„Weil wir Ordnungen aus Ordnungen erzeugen, ist das Zitat einer Ordnung deren geistige Vergegenwärtigung, also eine Form der Anwesenheit von Abwesenheit. Dabei wird dem Betrachter durchaus zugemutet, nach der gelieferten kognitiven Blaupause Raumordnungen selbst zu entwerfen oder Paradoxien zu erwägen, dergestalt, dass die grafisch evozierte Räumlichkeit und Zeitlichkeit durch einen materialen Akt der Verneigung auf der Zeichenebene konterkariert wird.“ (S. 159f.)
Nebelgranaten dieses Kalibers sind die Ausnahme und obwohl sich Schmidt redlich bemühte, blieb klar, dass Gappmayrs Themen kategoriale Aspekte unseres Denkens und die Realität des Gedachten sind, dass Schrift nichts anderes als der Versuch mit Linien Sinn zu vermitteln ist, dass es keine genaue Deckung zwischen Begriff und Gegenstand gibt, dass Gappmayr mit Textfragmentierungen arbeitet, dass er an der Schnittstelle von kognitiver Erfassung und Sprachmaterialität und ohne imperatives Mandat operiert, dass er durch Kontextentzug das Drama der Sprache sichtbar macht und, und, und, und, ja, dass Gappmayrs zeitloses Thema die Kategorialität des Seins ist.

Zwar gibt es keine Poetik mehr mit Anspruch auf Normativität aber da man Gappmayrs visuelle Arbeiten nicht lesen kann, sondern sie sehen muss, möge man seine und Schmidts theoretische Texte lesen und dann schauen, sehen und verstehen.
Es lebe die Dauerreflexion!

 

[Bild: nach oben]



 
 

Heinz D. Heisl, Wohin ich schon immer einmal wollte.
Innsbruck: Haymon, 2005


Der Koffer in mir bzw. ich in meinem Koffer auf der Reise, respektive Suche nach Zürich

Nein, man lese dieses Buch nicht in einem Zug. Nicht, weil dann Gefahr bestünde, dass man nicht am Ziel ankäme, sich in einem Koffer wieder fände oder einen das Zeitgefühl verlustig ginge, sondern ganz einfach deshalb, weil die kurzen Geschichten besser an einem stillen Ort, den man auch absperren kann, gelesen werden sollten. Denn in Zügen muss man ja auf alles gefasst sein. Man lege dieses Eisenbahngeschichten-Büchlein also auf den Spülkasten und habe sodann circa drei Wochen lang jeden Morgen ein befreiendes elementares sowie ein wahlweise beklemmendes, absurdes oder im höchsten Maße verwirrendes literarisches Erlebnis. „Alles triefe vor Wörtern.“, ist an einer Stelle der insgesamt 19 Geschichten zu lesen. Führwahr, in diesen scheinbar losen aber doch zusammenhängenden Erzählungen werden die Wortfelder „Zug“, „Bahnhof“, „Eisenbahn“ bestellt und das bringt wunderbare Kompositablüten zu Tage. Heisl hat einen Hang zu langen zusammengesetzten Wortzügen und exerziert zuweilen angewandtes Clustering für Fortgeschrittene, wenngleich schöne, sich anbietende Wörter wie: Sprachwagenstandszeiger, Schwellensätze, Prellbock- oder Weichenwörter nicht vorkommen.
In den kurzen, dichten Erzählungen wird in „Menschenlandschaften“ geschürft, es begegnen einem tote Gesichtszüge, Juden auf dem Weg nach St. Anton mit jeder Menge Fragen im Gepäck (die Zeitverschiebebahnhöfe machen derartige Reisen möglich), Koffer entpuppen sich als wahre Wunderkisten, da wird ein Leser zum Satz und löst sich wortlos auf, dort fährt einem sein Ich in die andere Richtung davon und auf dem Weg in die Stille werden einem die Zugwortfeldwörter um die Ohren geschlagen, dass es nur so rattert.
Heisl betreibt Möglichkeitsauslotung, sowohl inhaltlich, als auch sprachlich. „Naturgemäß“ lässt sich den Unmöglichkeitsschleifen nicht immer ganz leicht folgen, „dessen ungeachtet“ ist es ein Vergnügen, sich auf diese Zeitverankerungsloslösungen einzulassen.
„Aber es könnte genausogut sein, dass alles nur eine Kopie der Wirklichkeit war. Eine mit Fehlern behaftete Wirklichkeitskopie. Und im Wirklichkeitsoriginal und in Wahrheit verweilte ich seelenruhig auf meinem Sitzplatz im Abteil im Zug nach Wien.“, steht in „Zugvögel“ geschrieben. Man kennt Derartiges aus Halbschlafphasen. Heisl betreibt unter anderem auch die Verschriftlichung von Traumzuggarnituren der 1. und 2. Klasse, die einem, nicht selten in Zügen, zuweilen durch den „Kopfbahnhof“ eilen.
Hervorragend ist die in bernhardschem Sound komponierte Geschichte „Der Mann, der mit seinem Echo reiste“ (wer derart häufig die Vokabel „naturgemäß“ verwendet, provoziert förmlich einen Bernhard-Vergleich, wenngleich es, wenn man schon einen Vergleich anstellen möchte, doch öfter nach Jonke klingt). Darin wettert der Erzähler in bester sprachrhythmischer Manier über seine Reisegegenüber, es geht  (auch) um die Konversationsobszönitäten in Zugabteilen und die zwei Mitinsassen sind trachtenbekleidet, bzw. tragen die „Regionalverbundenheitsausdrucksuniform“. In dieser Geschichte entgleist nichts, die fährt im besten positiven Wortsinn mächtig ein.
Wer wissen will, was einem am Bahnsteig am Ende des Gehörgangs widerfährt, wo der Zug, in den nur Wörter einsteigen abfährt und wie man zum „Gehörbahnsteig“ kommt, auf dem der „Ohrenzug“ wartet, der möge sich auf in die Buchhandlung machen und sich dieses Buch besorgen. Denn ist man auf Heisls Sprachschiene und gewillt, seinen sonderbaren Gedankenzügen zu folgen, so ist „Wohin ich schon immer einmal wollte“ Hochspannungsleitungsliteratur mit Niederflureinstieg für Bücherwürmer, Leserättinnen und Leseratten.

 

[Bild: nach oben]




 
 

Jörg Zemmler, Leihworte & Leihtöne.
Wien: edition ch, 2004. (mit beigelegter CD)


Von wegen lei-lei!

Leihworte ist ein Buch, das man zweimal durchlesen muss, um es einmal durchgelesen zu haben und Leihtöne ist eine CD, die mehr als einmal gehört gehört. Warum? Abwarten.

Ausholen: Die edition ch hat nichts mit der Schweiz zu tun, zemmler auch nicht, zemmler ist Südtiroler, also Italiener und zemmler ist auch Deutscher, weil er eine Doppelstaatsbürgerschaft hat. ch sind die Anfangsbuchstaben des Namens der Verlagsgründerin und zemmler ist ein Künstlername. ch steht für Christine Huber und zemmler für Jörg Zemmer. Christine Huber ist eine Granddame der österreichischen Experimentalliteratur aber schon länger nicht mehr Herausgeberin der edition ch, sie hat das Label vor einiger Zeit an Würdige weitergegeben. Günter Vallaster ist würdig, aus Schruns, insgesamt experimentell und vorwiegend visuell poetisch orientiert, einer der tapferen InnTextler (Kleinverlagsmesse in Innsbruck) und Neoverleger. Leihworte ist das zweite Buch unter seinen Ägiden, Leihtöne die erste CD. Für zemmler verhält sich das ziemlich anders, der reüssierte zwar schon mehrmals mit seinen Texten bei diversen Poetry Slams, was heißt reüssierte, er gewann mehrmals, zum Nachlesen gab's zemmler-Texte bisher aber nur in Literaturzeitschriften. Hören kann man die weiche, tiefe Stimme jedoch bereits auf einigen CDs. zemmler ist nämlich auch Bob, Stonded Angelina und Abendroth.

Sowohl Buch, als auch CD, tragen unverkennbar zemmlers Handschrift. Im Buch im wörtlichen Sinne: zemmler fütterte den Verlagscomputer mit seiner Schrift (große Blockbuchstaben), und ein Programm transformierte die Textdokumente zu einem einzigartigen Endprodukt - eine leserliche, standardisierte Handschrift; auf der CD im übertragenen Sinn: zemmler verzichtete auf die Aufnahmequalität von Computerprogrammen, verwendete wie bisher Minidiscplayer, Stimme, Gitarre, diverse Effekte, viel Verzerrer und eine solide Hintergrundrauschkulisse.
Der Einsatz dieser Mittel macht natürlich angreifbar. Das mag man oder eben nicht. Da werden sich manche mokant über die vermeintlich lausige Aufnahmequalität und das ungewöhnliche Schriftbild äußern und sich deshalb nicht auf das Gesamtkunstwerk einlassen. Gut, man kann niemanden zu seinem Glück und in diesem Fall zu einem  Lese- und Hörgenuss besonderer Güte zwingen. Doch es sei an dieser Stelle hervorgehoben und unterstrichen: dass es sich lohnt, sich mit diesen Leihtönen und -worten zu beschäftigen.
Leihworte hat einen Prosa- und einen Lyrik-und-Artverwandtes-Teil. Die Prosa steht unterm Strich am unteren Seitenrand, so wie weiland das Feuilleton. Der geneigte Leser hat also die Lesewegwahl: zuerst Lyrik, dann Prosa oder umgekehrt oder ganz anders, will heißen durcheinander.
zemmler bedient einen mehrsprachig und schreckt auch nicht vor Mundarttexten zurück, ja es ist gar zu vermuten, dass dieses "Leih-" eben aus dem Dialekt geliehen und als Bescheidenheitstopos vor das Ergebnis gestellt wurde. Im Sinne von: "Des sein lei Gedichte!" Nein, das sind nicht nur Gedichte, das sind im Gegenteil eben nicht nur Gedichte, sondern mehr als das (hörthört).
Demzufolge ist also auch der Titel selbst mehr als ein Titel (soso). Er könnte beispielsweise ein Hinweis darauf sein, dass an sich ohnehin schon alles gesagt, gemacht und geschrieben wurde, dass - der Inhalt des Schriftsuchbild auf der Coverrückseite verhärtet diesen Verdacht - also Worte von da und dort geliehen und neu zusammengewürfelt wurden (übrigens: zemmler verdingte sich zuletzt als Leiharbeiter!). Doch genug der Titelspekulationen, zur CD:
Die Texte auf Leihtöne erfreuen alle mit einer überraschenden Pointe am Schluss. Das heißt, am Ende geht der Wörterteig immer schön zu einem wohlfeinen Gugelhupf auf. Die Gitarre ist gut gezupft, stark verzerrt und scheint hin und wieder förmlich nach Bass und Schlagzeug zu rufen (aber nein, nix da!), die Stimme ist gut intoniert, oft stark effektverfremdet und schreit ab und zu nach einer Textvorlage zum Nachlesen (und man wird gewahr, dass man das ja kann juhui!). zemmler sprechsingt souverän und jeder der Texte wäre wohl auch ohne instrumentale Begleitung voll lebensfähig. Die Gitarre schremmt zuweilen gnadenlos, ebnet den Weg, fällt die Lyrikvoruteilbäume, der Rhythmus transportiert das Sturzgut zur Seite und dann breiten sich die Worte aus und gedeihen, oder umgekehrt (Schön geschwurbelt, weiter so!). Die Gitarre ist die Unruhe, die Stimme ist Shampoo. Der Verzerrer ist der Schalk im Rücken und die Texte ein zweischneidiges Blatt.
Zur Detailbetrachtung: Mit "ich werd dich einfach neu formatieren" liefert zemmler den ultimativen Liebeskummerbewältigungsrefrain der PC-Generation, in "An der Kreuzung" spielen sich zwischen Herbert und Herbert große Dramen in wenigen Zigaretten ab und die Eingänglichkeit dieser Zeilen evoziert einen Videoclip in einem, dem man sich auf heavy rotation in diversen Musik-TV-Kanälen wünschte, wenn diverse Musik-TV-Kanäle nicht so erbärmlich schlecht programmiert wären, "roat" ist eine tragikomische Mundarthymne und ein fröhlicher Verkehrssündersong zugleich, "da da" thematisiert das Herauswollen aber trotz offener Türen doch Dableiben, also die existenzielle Angst vor dem Schritt aus dem Hochsicherheitskäfig (Heimat) und lässt sich als Parabel fürs Erwachsenwerden verstehen - denn entsprechend leidend ist der Song auch vorgeheult. Im Sinne von: Die weite Welt stünde einem offen, wenn nicht auch der Arsch offen wäre!
Und plötzlich ein Märchen über Musik ohne Begleitung, bloß mit Hall vorgetragen. Es geht darin um das Suchen eines idealen Textes zu einem perfekten Musikstück - dem Frog-Song. Im Buch ist nur der Anfang der Geschichte zu lesen, die Auflösung hört man in der Stimme des Autors.

Hör-CDs sind im Trend, Leihtöne ist aber nicht nur die CD zu Leihworte, Leihtöne ist eine Ganzkörpermassage mit Kopfwäsche und Nachspeise.
Und Leihworte? Leihworte ist: Toilettenfehler-, Zeitlochstopf-, Wetterpannengeschichte, Glockengleichnis, Stewardessenschicksal, Abschiedsbrief, Lebensanweisung, Parkbeschreitungsbeschreibung, Christkindvergangenheitsbeleuchtung, Notnotstromcybersex, Blödbäume und steinige Beschwerdewege, Sonnenbrillen und gegessene Gulaschs in Tabellen und und und
Kurzum: In Summe bleibt was!
 

[Bild: nach oben]




 
 

Dietmar Eder, Stadtrundfahrt.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2004.

Sarg-Rallye

38 Szenen, 1 Epilog, 142 Seiten. 3 Stunden Lesezeit. 3 HauptdarstellerInnen: Eine von Beginn an, einer vorwiegend und einer am Ende tot. Viele NebendarstellerInnen, die meisten irgendwie daneben. Das Ich Xaver Kasfy ist eine Arschgeige. Seine Schwester Isabella wählte den Strick. Der tote Vater war Polizist. Sein letzter Wille ein nicht unorgineller. Der von allen gehasste Vater wünscht, von Xaver eingesargt durch die Stadt kutschiert zu werden. Die sieben Stationen gibt er vor. "Nimm dir Zeit.", wünscht er sich im Nachsatz.
Nein, Zeit bleibt da keine. Es gibt viel zu erzählen. Eine tolle Grundidee, ein vielversprechendes Personeninventar, Spannung. Oder, um es mit dem Buchdeckeltext zu sagen: "Ein schrilles, barockes Roadmovie: Sex, Blut und Tränen im Fahrpreis inbegriffen."
Ja, so könnte man dieses äußerst gelungene Debüt von Dietmar Eder in Kürze vorstellen bzw. neugierig auf diesen Roman machen, so man nicht ausreichend Raum und Zeit hätte. Beides trifft hier und bei mir nicht zu, führen wir also näher aus. Freilich, gemeinhin misst man die Qualität eines Textes nicht an der Lesezeit, meist weiß man diese wohl auch nicht genau, doch bei "Stadtrundfahrten" bin ich mir sicher. Buch aufgeschlagen, Musik ausgeschalten, eingetaucht, drei Stunden später wieder zugeklappt und auf die Uhr geschaut. Diese Sarg-Rallye fesselt. Der Text ist schnell geschnitten, zieht einen rein und die Sprache versucht Schritt zu halten. Sätze brechen ab, werden kürzer und kürzer, vieles bleibt unausgesprochen, schwingt im Hintergrund mit und parallel passiert zudem Überraschendes. Kaum etwas nervt. Gut, die redundanten Ort- und Zeitangaben am Anfang jeder Szene schon, die hauen einen immer wieder raus aus dem Fluss des Textes. Dass der Wechsel zwischen dörflicher Umgebung und Großstadt wichtig ist, würde man auch ohne diese fettgedruckten Hammerhinweise schnallen. Dass es Frühling und Mai ist auch. Egal. Nebensache.
Wichtiger sind die NebendarstellerInnen. Da wäre einmal die Mutter, die so gerne hätte, dass Xaver ein Instrument spielte, sie selbst sauft vor allem. Dann der mittlerweile von der Musik abgerückte und leicht verrückte Ex-Cellolehrer, Xavers Lebensgefährtin Sara, die auch ihre Probleme hat, eine professionelle, flachbrüstige Liebesbriefschreiberin in delfindominiertem Outfit,  Isabellas einstige Klavierlehrerin, die auch des Vaters Geliebte spielte, Isabellas Ex, ein jämmerlicher Dichter, von dem sie schwanger war und zu guter Letzt der derbe Onkel Valentin, der Koloss in Frauenkleidern mit der Sopranstimme, der gescheiterten Uni-Laufbahn und den Sandhasen-Freunden. Alle reichlich mit Problemen überfrachtet oder skurril skizziert, da wünschte man sich doch hin und wieder gerne mehr oder Tiefschürfenderes.
Doch die Zeit nimmt sich der Erzähler nicht, die hat er nicht. Denn es ist hauptsächlich der Held Xaver der erzählt, der hat eben anderes zu tun, nämlich Station für Station hinter sich zu bringen, hereinbrechende Erinnerungen zu verdauen und ohnehin mit sich selbst zu kämpfen, da er den Selbstmord seiner Schwester (bzw. seiner Schwestern) nicht verkraftete und es ihm schwer fällt, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Xaver ist eine nicht wirklich sympathische Figur, seiner Vergangenheit versucht er dadurch zu entkommen, dass er sich in eine neue Welt flüchtet. Statt Familie Karriere - statt Musik Golfen. Doch er hat - in klaren Momenten - auch gute Seiten. So verdammt er beispielsweise die Vertrottelungskraft des Fernsehens (saugt aber andererseits Radionachrichten regelrecht auf). Zuweilen kann einem Xaver sogar leid tun. "Im Radio lief der erste Satz Haydns letzter Symphonie, die mich bald langweilte. Ich habe Haydn nie gemocht, seine Musik fließt durch mich, ohne Spuren zu hinterlassen." Doch die Erziehung hinterließ nur all zu viele Spuren. Xaver musste musizieren, Klassisches. Davon ist auch viel die Rede und natürlich prägt der elterliche Drill, doch im Auto freiwillig Haydn zu hören, noch dazu mit dem gehassten, eingesargten Vater auf der Ladefläche, das ist in der Tat hart, da ist der Hund tief begraben. Armer Xaver. Man würde sich und Xaver wünschen, er drehte die Anlage bis zum Anschlag auf und ließe "Fatherfucker" von Peaches aus den Boxen röhren. Das hilft, das heilt. Aber Xaver ist halt insgesamt ein klassischer Typ, nicht gerade up to date und klassisch ergo auch seine Sprache. Das ist per se nichts Schlechtes, wirkt nur zuweilen etwas altbacken.
Jedenfalls erledigt Xaver seinen Auftrag schließlich und zwar Fleißaufgabe. Er bringt die Tortur hinter sich, ja sorgt sich gar, dass der Vater im Sarg explodieren könnte. Aber Knalleffekte im großen Stil braucht diese Geschichte nicht, es passiert auch so genug. Stichwort. Genug der Besprechungs-Schwurbelei oder um es mit den auf den Möchtegerndichter gemünzten Worten Xavers zu sagen: "Niemand hat die Kraft, ein solches Trommelfeuer von Worten auf Dauer durchzuhalten. Ich hatte diesen Warmduscher noch nie vorher gesehen, er log Geschichten vor. Schlechter Märchenerzähler." Schlechter Rezensions-Schluss. Gutes Beispiel für Eders Wortwahl, dennoch gutes Buch.
Man möge sich Zeit nehmen. 3 Stunden sind vor dem Fernseher schnell verplempert, auf dieses Buch konzentriert, sind sie gut investiert, denn der Literaturmarktwert dieses Debütanten wird steil bergan steigen. 

[Bild: nach oben]


 

 
Matthias Schönweger,
 von & zu Peter & Paul.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003

SCHÖN-WEG-ERfahrung

Nein, ich war noch nie in Meran und nochmals nein, ich kannte Matthias Schönweger bisher nur vom Namen her. Hatte mitbekommen, dass er seit Jahrzehnten diverse Aktionen startete, einst Fußball spielte und in unregelmäßigen Abständen verhältnismäßig dicke, überdurchschnittlich schöne Bücher veröffentlichte, deren Seitenanzahl zuweilen die Wortanzahl übertraf und dann das: von & zu Peter & Paul, ein Buch mit geschätzten 50.000 Wörtern, formal vorwiegend konventionell im Blocksatz abgefasst, auffallend die zentrierten Versalieneinschübe, augenscheinlich die kapiteltrennenden Blickpunkte. Ein Roman von Matthias Schönweger. Und ich, der um seine Verdienste nicht Bescheid weiß, soll darüber schreiben. Gut. Das sind an sich die besten Voraussetzungen für ein unbefangenes, objektives Urteil, für eine sachliche, solide Analyse, für eine klar strukturierte Rezension. Allein dies ist keine solche, denn von & zu Peter & Paul ist ja auch kein herkömmlicher Roman, sondern ein RomanC, ergo ist dies keine Buchkritik, sondern eine BuchkriTikTakTik. Womit die einleitende Kurve salopp gekratzt wäre. Und nun: Klappklapp! Aufgepasst, gleich geht's los...
Da wird der Schatten eines Kirchturms mit Kreide ausgemalt und es entSteht ein erigierter Penis, da werden Flußbettsteine bemalt, in der Hoffnung so eine Kläranlage zu bekommen, da interessiert sich plötzlich der Spiegel für diesen Steinbemaler und -wascher, da erfährt man: Ewig währt Rom am längsten, da stößt man auf herrliches Verliebtheitsgeträller, auf exotisch Kulinarisches, auf Amtsdeutsch aus dem 19. Jahrhundert, da bekommt man einen interessant angemachten, kompakten - vor allem Erfindungen betreffenden - Geschichtsabriss kredenzt, da verfolgt man den einen auf seinem Fußmarsch nach Wien, wissend was für eine Wundermaschine er kreierte, da folgt man des anderen wegweisenden, in den Fließtext eingewobenen Wortspielen, und so weiter UND SO WEIT ER...
Beispiele her? Bitte sehr!

PARA
DIES

UND
JENES

oder

LIEBER GOTT
ALS OBEN OHNE

und natürlich

KUNST
STELLT
BLOSS

DAR

insomma

IRRE
PARABEL

 

Nein, mehr möchte ich eigentlich gar nicht mehr zitieren, erklären oder erwähnen. Die SCHÖNverWEGeneERzählhaltung zu durchschauen sei Ihnen vorbehalten, auch werde ich an dieser Stelle den großen Rest des Inhalts nicht vorwegnehmen. Was ich Ihnen aber rate, ist von & zu Peter & Paul zu lesen, es lohnt sich, denn es ist ein fruchtbares Buch. Es sei Ihnen auch mein ganz persönliches Warum verraten. Schon während der Lektüre wuchsen mir wuchernd Ideen aus den Fingern und ich notierte begeistert:

BITTE
AN
SCHNALLEN

GEH
SCHEISSEN

STUHL
GANG
BAR
FUSS

ROM
AN
TISCH

PEIN
FREIHEIT

Man möge einwenden, dass dies ein höchst individuelles Argument ist, doch ich garantiere Ihnen, dass Sie - egal was Sie machen - (durch die Lektüre von von & zu Peter & Paul) auch Ihr persönliches Erfolgserlebnis haben werden:
-         Schlafen Sie gerne, so schlafen Sie besser nach der Lektüre von von & zu Peter & Paul
-         Lesen Sie gerne, so lesen sie von & zu Peter & Paul lieber
-         Studieren Sie, dann hat Ihr Leben (mit von & zu Peter & Paul) vorübergehend Sinn und Inhalt
-         Arbeiten Sie, dann arbeiten Sie nicht zu viel und nehmen Sie sich Zeit für von & zu Peter & Paul
Denn man kann von diesem Buch vieles (und sowieso immer) lernen.
Zugegeben: Eines ist durch die Lektüre von von & zu Peter und Paul mit Sicherheit nicht zu erlernen: die aktuelle, DUDENdeutsche Orthographie. Aber herzlich egal.
Also Abmarsch in die Buchhandlung

UM
WEG
LOS.....

 

[Bild: nach oben]