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Universität Innsbruck
Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Marlene Kuppelwieser

 
 

Annemarie Huber, Alles Liebe.
Bozen: Raetia, 2004.

Eigentlich müsste es heißen: alles Liebe von Annamarie Huber und Thea Blaas, denn während Erstere die Gedichte dieses gut 90 Seiten schlanken Bandes geschrieben hat, stammen von Frau Blaas die Künstlerfotos, die ein wichtiger Bestandteil des Buches sind.
Der Titel ist in jedem Sinne aufzufassen: es wird nicht nur alles Liebe gewünscht (einem anderen und sich selbst), sondern ganz prinzipiell ist hier alles Liebe. Seelische wie körperliche, uneingeschränkt.
Dies drückt bereits das erste Gedicht aus, Sehnsucht, eines der Sinnlichsten, fast so, als wollte die Autorin gleich klarstellen, dass der Leser hier auch mit sehr intimen Dingen konfrontiert wird. Also, entweder nehmen oder gleich zurück ins Regal stellen. Die Sinnlichkeit ist ebenso in den gelungenen Fotos, wie in den Texten das zentrale Thema so mancher Werke: Tigerin, hautnah, Magdalena oder der Kuss, um nur einige zu nennen.
Doch fast jedes Gedicht berührt das Thema Liebe von einer anderen Seite: In Halleluja heißt es: „die Liebe ist oft von kurzer Dauer / und zwischendurch ein Wahn“. Diesen Gedanken spiegeln mehrere Gedichte wieder. Das Gedicht Verliebt ist eine Art Bewusstseinsbekenntnis dieser Tatsache: drei 4-zeilige Strophen sind eine Hymne auf den Wahn des Verliebtseins, der abschließende 3-Zeiler sagt lakonisch: „Herz, beruhige dich / es warten noch viele / Begegnungen auf dich.“
Diese Eigenironie ist häufig anzufinden: Auch in Halleluja heißt es: „ich möchte, ich wollte / was denn auch / ein bisschen Liebe leben / und Verständnis im Aug’.“
Ein „Auf und Ab“ von romantischem Fühlen und realistischer, selbstkritischer Stimme also.
Wenig davon zu spüren ist hingegen im mädchenhaft verliebten warten auf dich. Oder in Ausflug, einem überaus intensiven Gedicht, das das Gefühl vollkommener Glücksmomente durch Aussparen vermittelt.
Gleichzeitig aber ist der ganze Band von einem – oft bitteren – Realismus durchzogen. Dies gilt nicht nur für die Erkenntnis, dass die Liebe immer wieder vom Verstand auf den Boden zurückgeholt wird (z.B. in vorbei: „Der Herzschlag springt / nicht mehr, / der Verstand hat ihn gefasst“), sondern es wird auch erkannt, dass die Natur der Liebe nicht immer das ist, was wir glaubten. Während das Paar im Aufbruch noch keine Ahnung davon hat, hat die Frau im Prinz dies inzwischen einsehen müssen. Und doch ist hier der bittere Realismus einer Person, die nach vielen Ehejahren erkennen muss, dass nichts sich so entwickelt hat wie erträumt, nicht nur Resignation: Auch wenn das Ballkleid des Traumes entsorgt werden kann, haben die beiden Partner doch gemeinsam ein „selbst gestricktes / grobes und oft geflicktes“ Kleid, was im Grunde auch ein Erfolg ist.
Anders ist Vorschlag: Hier endet das romantische Phantasiespiel des Verliebten, der in der Tasche des Geliebten sein möchte, mit der sarkastischen Pointe: „aus dieser Position könntest du / den Lobbysten die Meinung sagen / hinter der Spitze hervorlugen / die Günstlinge beobachten / ihre Spiele durchkreuzen“.
In Möchtegern ist es die Welt der Worte, die den Mittelpunkt bildet: Hier werden Redewendungen („aus dem Rahmen fallen“, „den Rahmen sprengen“) aufgedeckt, auseinander genommen und analysiert. Seltsamerweise beginnt gerade dieses Gedicht mit einem (liebevoll?) tadelnden „du Schlawiner“ – eines der wenigen Beispiele einer umgangssprachlichen Äußerung.
Manche Gedichte zeichnen sich durch einen sehr intimen und warmen Ton aus: Dies gilt zum Beispiel für umschlugen, überschwänglich, Hände wollen zueinander, Zauberwort und teilweise auch für glückliche Stunde. Hier stört nur die Wortkombination „Charme und Esprit“ ein bisschen, denn der ganze Glückston versetzt einen in eine heitere, spielerische Kinderwelt zurück („goldene Pünktchen / tanzen in deiner Iris, entfachen / Licht in meinen Pupillen // Worte erquicken / laben, nähren/ regen an / schlagen Purzelbäume (…)“. Da sind diese beiden Fremdworte fast zu „erwachsen“.
Absolut gelungen hingegen ist Nacht in Venedig – die gesamte Geschichte von Casanova und der Contessa in 20 Versen: kaum ein anderes Werk, egal wie kurz oder lang, hat dieselbe Atmosphäre der verbotenen Liebe und der Stadt Venedig im Hintergrund so treffend gezeichnet.
Die Gedichte sind in 6+1 Abschnitte unterteilt. Während die ersten sechs Gruppierungen alle mehr oder weniger einen verwandten Ton aufweisen, der zwar mal sinnlich, mal resigniert, mal innig, mal trauernd sein kann, aber immer von ein und der selben Handschrift geschrieben ist, ist die letzte Gruppe aus nur drei Gedichten ganz anders.
Besonders das erste Gedicht („Ohne Titel“) erschreckt, wühlt auf. Es geht hierbei um die Vergewaltigung einer Frau in Bosnien/Serbien. Was am meisten berührt, ist der Versuch der Gehetzten, sich selbst durch andere Dinge (Kornfelder, Vogelgesang, Bienensummen) abzulenken und sich vorzusagen „es dauert nicht lange“. Gleichzeitig aber dringen Dinge wie das gerippte Unterleibchen, der Schweiß und die Leibesfülle des Mannes vordergründig in die Sinne ein. Das weiche, nach der warmen Kindheit klingende Wort Unterleibchen (anstatt des neutralen Wortes Unterhemd) macht klar, dass die Vergewaltigung nicht nur den Frauenschoß, sondern die gesamte Seele (be)trifft – inklusive ihres intimsten, gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Umfeldes.
Obwohl die beiden nachfolgenden Gedichte einen anderen Inhalt aufweisen, sind auch sie Gedichte einer Frau, die das Gefühl hat, nicht in die Gesellschaft, in der sie lebt, hineinzupassen.
Nicht umsonst ist das „nackteste“, zerbrechlichste Foto das, das diesen Teil einleitet: ein gebogener Frauenrücken, mager, Muttermale.
Das Buch ist sowohl vom Inhalt als auch von der reinen Sprache her eine kleine Perle. Wir dürfen uns hoffentlich auf mehr von Annemarie Huber freuen.




 
 

Otto Licha, Die Begegnung.
Münster: AT Edition, 2004.

Die einzigen Hauptfiguren des neuen Buches von Otto Licha sind „der Dichter“ und „Albert“. Von Ersterem erfährt man nur den Beruf und nicht den Namen, von Letzterem nur den Namen, nicht den Beruf.
Die beiden treffen sich zufällig im Café Central in Innsbruck und setzen diese Begegnung daraufhin ein Jahr lang täglich fort. Der Dichter warnt, dass er homosexuell sei, Albert erwähnt gelassen, er sei es nicht. Damit sind die Positionen geklärt.
Nun sprechen die beiden täglich über Aktuelles, Philosophie, Politik, Physik, Kino, Literatur. Und im Grunde über alles gleichzeitig, denn alles geht ineinander über: „Wir springen in unseren Gesprächen zwischen Philosophie und Banalität, Universum und Hausmeistern ungeheuer hin und her.“ Die mal kürzeren, mal längeren Gespräche (die aber kaum eine halbe Seite überschreiten) ähneln sehr einer Sammlung von Aphorismen. Oder an eine Reihe lyrischer Prosa, die oft mit einer Pointe endet – welche zumeist überaus gelungen, manchmal aber auch recht banal oder einfach zuviel ist.
Insgesamt kann man sich des Gefühls nicht erwehren, in eine moderne Version der Welt der antiken Philosophen zurückversetzt zu werden, in den Wandelgang eines Aristoteles oder in den Menon eines Platon, wo der ungebildete Sklave (Albert) unter der Führung des Weisen (Dichter) selbständiges Denken lernen soll.
Der Dichter aber will noch mehr von ihm: er will Albert selbst zum Dichter machen. Und so langsam, langsam gelingt ihm das auch. Während Albert am Anfang noch einen heiligen Respekt vor dem großen Meister hat und sich selbst als klein und unwissend fühlt, ändert er mit der Zeit auch sein Denken und seine Ausdrucksweise, so dass manchmal ein richtiger Rollentausch erfolgt.
Immer wieder wird über die Figur des Dichters diskutiert: „Ein Dichter kann fliegen, er kann seinen Geist an alle Orte der Welt schicken…“, „… die Dichter stellen alles in Frage, beginnen von vorn,“ „Schmerz gehört zum Dichtersein“, „Die Dichter sind ein blödes Volk. Aber sind wir doch ehrlich, Albert, wir gehören ja auch dazu“, „Ob mich einer liest oder nicht, ich sehe schon jetzt meine Existenz in meinen Gedichten. Für manche reicht ein Leben nicht aus, damit sie endlich ihre Stärken erkennen“, „’Ich glaube, jeder kann Dichter sein, es braucht nur etwas Mut’. ‚Welchen Mut?’ ‚Von sich etwas herzugeben, die Welt des eigenen Hochwassers einer eventuellen Lächerlichkeit auszusetzen.’“ Dies ist der Ton im ersten Teil des Buches, wo der Dichter noch selbstbewusst und gleichzeitig neidisch auf seine nach außen hin erfolgreicheren Kollegen ist; später dann aber kommt die Melancholie: „’Niemand kann ewig Dichter sein’, sagt der Dichter im Café Central, und es klingt im Gegensatz zu gestern wie Abschied. – ‚Niemand kann ewig sein’, schwächt Albert ab (…).’ -  ‚Das ist etwas anderes, Dichten ist von sich etwas hergeben. Irgendwann einmal ist es vorbei.’“ Albert aber stellt auch klar: „Du bist doch nicht für dich Dichter.“
Das Verhältnis zwischen den beiden ist ein typisches Männerverhältnis, wo der eine den anderen auch einmal als Idiot bezeichnen kann, ohne dass dieser gleich einschnappt und die Freundschaft zu Ende ist.
Ebenfalls interessant ist das Verhältnis des Dichters zu Innsbruck bzw. Tirol: ein Gemisch aus Herablassung, Resignation über die Langsamkeit im Leben und in der Politik und aus irrationeller Liebe: „Ich liebe unseren Föhn (…) Jazz kann man überall spielen. Den Föhn haben nur wir.“
Zwischen genial und verkorkst sind die Theorien, die die beiden Gesprächspartner im Bereich Wissenschaft und Physik aufstellen (Die echte Null, das Zentrum der Welt, die Zeit). Erklärt wird das so: „Wie, Albert, sagt schon Einstein? ‚Wichtiger als Wissen ist die Vorstellungskraft’“ und „Es zeichnet die Mathematiker aus, (…) dass sie Probleme nicht nur lösen, sondern auch entdecken, manchmal sogar erfinden.“
Ein Dichter macht das nicht: „Dichter sind Visionäre. Ihre Aufgabe ist nicht die politische Umsetzung ihrer Visionen. (…) Lassen sich die Dichter zur letzteren hinreißen, müssen sie manchmal ihre Visionen verraten und scheitern.“ Das ist auch der Grund, weshalb ein Dichter kein Politiker sein kann und umgekehrt.
Ganz deutlich aber wird mehr als einmal klar gestellt, dass es – auch für Dichter –zwecklos ist, am Sinn des Lebens zu zweifeln oder überhaupt einen Sinn zu suchen, denn „wir leben nicht des Sinnes wegen.“
Die Einstellung des Dichters ist die eines Menschen, der das Leben aus allen Gesichtspunkten sieht, mal positiv, mal negativ. Einerseits drückt der Dichter seinen menschlichen Schmerz und damit seine idealistische Welteinstellung aus, indem er zahlreiche Seiten dem Terroranschlag vom 11. September und Osama Bin Laden widmet (was das Buch aktuell und damit nicht zeitlos macht), andererseits aber ist er auch sehr zynisch: „’Ist der Teufel von der Gegenseite gut?’ – ‚Bezahle ihn ordentlich und du wirst sehen, wie gut er sein kann.’“
Gleichermaßen zynisch, aber auch komisch ist die Geschichte „Zuviel gedacht“.

Stil und Sprache entsprechen dem Inhalt: Konversation im reinsten Deutsch, das nur selten und wenn, dann sehr bewusst, von tirolerischen Einbrüchen gekennzeichnet ist. Die Dialoge sind aber, so natürlich sie klingen, auf alle Fälle geschriebene Dialoge, also keine Dialoggeschichten im umgangssprachlichen Sinn, sondern eben immer im Sinne eines griechischen Διάλογος.
Im Allgemeinen lohnt es sich, dieses 174 Seiten starke Buch zu lesen, auch wenn einem manchmal ein prosaischer Leitfaden fehlt, der einen zum Weiterlesen verführt.




 
 

Angela Jursitzka, Das Gähnen der Götter. Tirol vor 2299 Jahren.
Roman.
Reith: Edition Tirol, 2003.

Knapp 60 Werke hat Angela Jursitzka als Bezugsliteratur angegeben, von Der Geschichte des Landes Tirol bis hin zu Kräuter- und Kochbüchern aus der Bronze- und Eisenzeit oder Abhandlungen zur Kunst des Schwert- oder Schmuckschmiedens.

Man kann wahrhaft sagen, die Autorin hat ihre Hausaufgaben gemacht, auch wenn sie in der Einleitung sagt, „der Dichter darf verzichten, worauf der Wissenschaftler bestehen muss“. Dies mag zweifelsohne stimmen, trotzdem   hat man den Eindruck, diese 2299 Jahre alte Geschichte sei bis in allen Details ein Abbild des Alltagsgeschehens der Stämme, die im heutigen Tirol (das nie namentlich genannt wird) wohnten.

Protagonisten sind die Askami, ein Volk aus dem Süden, dessen Dorf von nördlichen Barbaren abgebrannt wurde. Wie alle schwachen, kriegsunfähigen oder kriegsunwilligen Völker lautet ihre Devise „Lauf schnell, lauf so weit und verstecke dich, solange du es vermagst!“ Die Beute friedvoller Völker „bestand aus geistigem Diebesgut“, d.h. sie lernen von anderen Lebenskunst.
Im Norden angekommen, lassen sie sich dann auf einem Hügel nieder, roden, betreiben Ackerbau, bauen nach Anweisung ihres Häuptlings Arun zuerst eine Mauer, dann einen Brunnen und erst zuletzt bequeme Häuser. Erst wenn für das Lebensnotwendigste gesorgt ist, kommt der „Lukhsuss“ dran. Das Volk besteht aus einem überaus praktisch orientierten, friedfertigen, arbeitsamen, wenn auch etwas schwächlichen Häuptling, aus seiner Familie, der Druade (einer Art Priesterin und Heilerin, die einfach ein bisschen weitsichtiger und intelligenter ist als viele andere und ihr Wissen zum Wohle des Volkes einsetzt), dem Schmied, dem Künstler, den vielen Frauen und Männern, die alle bauen, weben, arbeiten. Kurz, jeder braucht jeden: Auf die Frage „Sag, Druade, was machte ein Häuptling ohne Schmied?“ antwortet die Druade: „Sage du mir, Xaisur, was wäre ein Schmied ohne Tonschöpfer?“

Das Volk lebt aber nicht isoliert. Außer zu dem Volk der Wilden, dem Frühen Volk und dem Eulenvolk hat es direkten Kontakt zu den Gelbhaarigen, einem Kriegsvolk, das nach Süden unterwegs ist, um dort genau das zu tun, was andere mit den Askami getan haben: rauben und plündern. Nur die Intelligenz und Diplomatie der Druade und des Häuptlings sorgen dafür, dass sie vor den Gelbhaarigen geschützt sind, mehr noch, dass diese sich als ihre Beschützer aufspielen.
Genau so lebendig und realistisch wie diese Personen sind auch der Alte vom Briga, das Oberhaupt des Frühen Volkes, die Leute aus dem von Taranos vergessenen Zweitklan und dem Eulenvolk.
Man hat das Gefühl, täglich beim Dorfgeschwätz mitzuhören, wichtige, nur im Moment wichtige und gänzlich unwichtige, aber nichts desto trotz amüsante Dinge zu erleben, als wäre man mit dabei. Ein unglaublich feiner Humor durchzieht gemeinsam mit einer gekonnten Ironie das ganze Buch und macht es überaus lebensnah. So werden die in den verzogenen Sohn vernarrten Väter genau so von der realistischen Mutter geneckt, wie es auch heute noch passiert.
Ein einfacher Schmied hingegen erkennt, hier schon wieder ernst, weshalb es so schwierig ist, sich am eigenen Stamm zu erfreuen. „Weil man seiner Sippe zu viel abverlangte, nie mit dem Erreichten zufrieden war und immer mehr wollte?“ (S. 99). Am weitsichtigsten sind die Druade und der Händler Trugh, der immer gemeinsam mit seinem Wallach Tag genannt wird. „Mehr oder weniger prahlte jedes Volk mit der einzig wahren Lebensform. Ein reisender Händler lernt viele Sprachen, er hört Zwischentöne heraus (…).“ (S. 84).
Wie wenig hat sich doch in den vielen Jahren geändert! Ebenso wenig wie an der Erkenntnis, dass der Marktwert nur bei steigender Nachfrage und sinkendem Angebot (Eisen für den Schmied oder Schmuck für die Frauen) wächst.

Überraschenderweise aber gehen gleichzeitig mit lockeren Ereignissen sehr tiefgehende Dinge einher: Auf Seite 168 zum Beispiel nimmt Taranos Abschied von den Askami. Mit Müh und Not ist ein Streit vermieden worden. „Was zählen schon Worte, wenn der Tonfall stimmt?“
Nur 10 Zeilen weiter denken die Menschen schon an das Sonnwendfest. „Vorher müsse jemand die Knochen der Toten zusammentragen, anhaftendes Fleisch entfernen, es den Totenvögeln überlassen, den Geiern.“   Damit gehen Freude und Trauer, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nahtlos ineinander über. Auf der vorletzten Seite warnt die Druade: „Kümmert euch nicht um das Gestern, aber hütet euch vor dem Morgen.“
In dieser Geschichte gibt es mehrere Wendepunkte zum Unheil. Mehr als einmal werden sie vom „Lukhsuss“ ausgelöst: das Intermezzo des Eulenvolkes, das sich vom vermeintlichen Goldschmied angezogen fühlt, die Ermordung der Frauen des Zweitvolkes, denen ihr Schmuckreichtum zum Verhängnis wird.

Verblüffend ist, wie wichtig jede einzelne der unzähligen Personen ist, auch wenn sie nur eine Nebenrolle spielt. Dies gilt für eine Cia ebenso wie für ein Barbarenkind, das von einer Ziege gestillt wird. Jeder hat seine eigene Geschichte, jeder ist Angela Jursitzka zuweilen ein lyrischer Tonfall wert.

Diese Meisterhand im Umgang mit den Personen und in der zwar linearen, aber auf Grund der Personenvielfalt doch recht komplexen Geschichte hilft dem Leser über die Anfangsschwierigkeiten bei der Namensbenennung hinweg, denn man muss sich erst daran gewöhnen, Begriffe wie Lebenhauchen, Sämann, Aufrechtgeher, Beischläferin, Kauwerkzeuge oder Einäugige in Küssen, Penis, Mensch, Partnerin, Zähne oder Glied zu „übersetzen“. Ebenso ungewohnt ist am Anfang der Umgang mit der Sexualität. Erst im Laufe der Zeit merkt man, dass die freizügige Sprache oder das lockere Verhalten keineswegs freizügiger sind als in der Gegenwart.
So ist diese Geschichte zwar einerseits überaus empfehlenswert, wenn man sich auf „verdauliche“ und doch sehr realistische Art und Weise mit der Bronzezeit auseinandersetzen will, gleichzeitig aber handelt es sich irgendwie auch um eine Geschichte der Gegenwart. Denn im Endeffekt ist die Gegenwart wie die Vergangenheit – oder die Zukunft. Es gibt nur wenige, die „frei vom Diesseitigen“ (Druade) oder uralte Junggebliebene (Uttu) sind. Was bleibt, nachdem die Götter ihrer Langeweile freien Lauf gelassen und uns zu ihrem Spaß mit allen Schicksalsschlägen heimgesucht haben „ist das Wort: Aska mi. Und ein Versprechen. Ich bin.“





 
 

Helene Flöss, Löwen im Holz.
Innsbruck: Haymon, 2003, 224 Seiten.

Ein packendes Buch, das man möglichst schnell zu Ende lesen möchte. Und sei es auch nur, um endlich zu erfahren, ob das Kind, dem Großmutter Lona die Geschichte erzählt, nun ein Mädchen oder ein Junge ist. Die Antwort auf diese einfache Neugier kommt auf Seite 95. Die Antwort auf den Sinn oder Unsinn des Krieges hat man von Anfang an.

Bei Löwen im Holz handelt es sich um eine internationale Tirolergeschichte: nicht nur der Hintergrund des Grödnertals und die vielen Dialektausdrücke im Vokabular und in den Redewendungen sind unverwechselbar tirolerisch, oder besser gesagt, südtirolerisch, sondern auch die ganz spezifischen Sitten und Gebräuche und die historischen Erfahrungen.
International ist diese Geschichte insofern, als Armut und Unrecht im Krieg alle Menschen gleich betreffen. Der Tiroler, Italiener und Slawe leidet in Russland gleich wie der Russe im Grödental. Das Jahr eines Bauern folgt in der Ukraine den gleichen Rhythmen wie in Südtirol.

Helene Flöss lässt eine Großmutter ihrem Enkelkind die Geschichte ihres Lebens und ihrer Liebe zu ihrem Mann erzählen, der den Ersten Weltkrieg miterlebt und –erlitten hat. Das Kind fühlt sich bei der Großmutter ebenso geborgen wie ihr Mann es ein Leben lang getan hatte. Das einzige Element, das ihm Furcht einflößt, sind die geschnitzten Holzstühle der Großmutter mit den aufgesperrten Löwenmäulern. Diese Stühle begleiten Lonas ganzes Leben, wie eine symbolhafte Konstante. Ob positiver oder negativer Natur bleibt dahingestellt.
Auf jeder Seite sind Privates und Geschichte eng miteinander verflochten, das geht vom Bau der Grödnerbahn bis hin zum Verrat der Welschtiroler durch Österreich und die Umtaufung der Tiroler durch die Faschisten. Öffentliches wird zu Privatem und umgekehrt, dort wo man sogar für eine Prozession die Genehmigung der Carabinieri braucht.
Den Hauptteil des Romans bestimmt der Erste Weltkrieg, während der Zweite nur noch eine Art Nachwort darstellt. Dieses ungleichmäßige Verhältnis erklärt sich aus der Ansicht der Großmutter, für die es nur einen Weltkrieg plus eine Art Imitation gegeben hat, auch wenn diese ihm den Sohn genommen hat.

Der Krieg wird schon bald zum Alltag: „Die sechstausend Russen haben es von ihrer Heimat bis ins Grödental gleich weit wie es der Fidl von hier bis in die Ukraine hat.“ Großmutter Lona ist bereits als junges Mädchen intelligent genug zu sehen, dass zwischen den russischen Kriegsgefangenen hier und ihrem Fidl dort kein Unterschied besteht. „In ihrer Verzweiflung graben die Russen sogar Schweinekadaver aus und rühren sich das Knochenmehl mit Wasser an“. (S. 50-51) Am Sonntag aber singen sie zur Überraschung der Tiroler in der Kirche mit.
Aus solch knappen Bemerkungen geht das Gefühl der einheimischen Bevölkerung hervor: Staunen, dass es sich bei diesen elenden Wracken um Menschen handelt, und Mitgefühl.
Wenige Tiroler sind zum Kampf bereit, die deutschen Tiroler sind ebenso wie die italienischsprachigen Trentiner Bauern, und ein Bauer kümmert sich nicht um die große Politik, die „seit alters her ein schäbiges Geschäft ist. Was ist denn auf die Österreicher für ein Verlaß im Achtzehnerjahr? Was ist denn auf die Deutschen für ein Verlaß? Die einen wie die anderen verschachern Land und Leute, wie es ihnen paßt.“ (Seite 199).
Ein Tiroler kämpft nicht fürs Vaterland, er kennt auch keine Heimat: „Für uns Bauersleute ist die Heimat das Hoamatl… Es ist das Dach überm Kopf, der Wind im Korn, die Wiese zum Draufsitzen, die Menschen, die sich untereinander mögen, derselben Arbeit nachgehen, dieselben Sorgen haben“ (S. 48).
Alle Soldaten und Heimkehrer fühlen sich gleich „angestrichen“. So wie Emilio seinem Freund Fidl erzählt, wie ihm die italienische Regierung Schuhe mit Pappsohle lieferten, die wie Leder angemalt war, sich aber nach wenigen Stunden im Schlamm auflöste, so staunt ein Vierteljahrhundert später der Tiroler Nazi Silvester nach Kriegsende darüber, „daß sie sich von diesem Verbrecher derart haben anstreichen lassen“ (S. 203).
Fidl überlebt den ersten Weltkrieg vor allem deshalb, weil er aus Gewohnheit versehentlich bei den Slawen und Trentinern geblieben ist, als Deutscher wäre es ihm wohl schlimmer ergangen. So gerät er bald in Kriegsgefangenschaft, wo er sechs Jahre lang bleibt. Viele sind froh darüber, dem Krieg auf diese Weise zu entrinnen, auch wenn sie jetzt den Wogen der Russischen Revolution ausgesetzt sind. Aber wenigstens liegen sie nicht mehr im Graben, taub vor Lärm und Kälte und vergiftet von den schwefelgelben, schweren Schwaden, die oft wie eine Dunstglocke über ihnen hängen. „Jeder hustet und keucht und würgt an dem Zeug aus der Lunge. / Das Echo dieses Höllenlärms geistert noch lange in den wilden Wänden herum. Und darüber der blaue, unbeteiligte Himmel.“ (S. 90). Diese Gleichgültigkeit der Natur dem großen Elend gegenüber kommt an mehreren Stellen zum Ausdruck. Doch hat sie manchmal auch etwas Tröstliches: „Die Landschaft ist gut, lind, ohne Geheimnis und doch voller Wunder, vor denen man sich nicht zu fürchten braucht“, so sieht Fidl die russischen Birkenwälder, den fruchtbaren Boden, auf dem er steht. (S. 120).
In ständigem Wechselrhythmus bricht die Erinnerung des Soldaten durch, die ihn nie mehr verlassen wird, unverkennbar in Sprache und Bild aus der Sicht eines Tiroler Bauern: „Die Schädel [der Toten] klappern über Stock und Stein. Von den Körpern sind Uniform und Wäsche bald abgestreift. Die Steine, mit den hängengebliebenen Fetzen von Haut und Haaren, schauen aus, als hätten sie die Räude“ (S. 123).
„Der Fidl dankt dem Himmel still und laut, dass er jetzt ein Gefangener und kein Krieger mehr ist.“ (S. 121).
Oft sind es kleine Gegenstände aus dem Alltag, die den großen Betrug am besten aufdecken, wie die Postkarte in neun Sprachen mit dem vorgedruckten Text „Es geht mir gut“. Nähere Ergänzungen sind verboten.

Die Sprache ist von einem beharrlichen, mitunter sogar hektischen Rhythmus bestimmt. Der Bauer, der weiß, dass er nicht so gut sprechen kann wie ein „Studierter“, aber trotzdem das Erlebte so anschaulich wie möglich wiedergeben will – oder aus einem unbezwingbaren Instinkt heraus wiedergeben muss – häuft Verben, Adjektive und Synonyme in einer Reihe wie die Perlen eines Rosenkranzes. Auch das macht die Tiroler Bauernsprache aus. Wie so oft aber sind gerade die einfachen Leute imstande, zwischen den Zeilen zu lesen und sich nicht anstreichen zu lassen. Um so schlimmer ist es, trotzdem mitmachen zu müssen: die Erkenntnis kommt für Deutsche wie für Italiener: „Bleiben wird nichts als die verpfuschte Sehnsucht einer verunglückten Generation“ (S. 171).

Ein lesenswertes Werk, einnehmend, lehrreich und dank der Konstanz in Sprache und Inhalt, die auf den gut 200 Seiten gleichermaßen überzeugend ist, nie ermüdend.


 
 

Monica Wittib, O Patèra oder der Abschied vom Athos.
Novelle.
Innsbruck: Berenkamp, 2002, 108 Seiten.

Dieses Buch zu rezensieren ist nicht einfach, denn es enthält einige Überraschungen, die man dem Leser einfach nicht nehmen darf, wenn man ihm die Lektüre nicht verderben will. Diese Teile aber enthalten den Kern des Buches. Dies fängt schon beim griechischen Titel an; was er bedeutet, erfahren wir auf Seite 86 des 108 Seiten starken Buches. Versuchen wir also, über das zu reden, was gesagt werden darf.
Es überrascht, auf dem Deckblatt zu lesen, dass es sich hierbei um eine Novelle handelt. Heute werden kaum noch Novellen geschrieben, sondern Erzählungen oder Kurzromane. Die Novelle beschränkt sich im Gegensatz zum Roman auf einen wichtigen Geschehensausschnitt, der einen Wendepunkt bringt.
Der erste Satz bringt uns in medias res: „Sebastian ist tot“. Die erste Seite erzählt im Kurzgeschichtenstil die gesamte Kindheit, Jugend und Studienzeit der Protagonistin Susanne und eines gewissen Sebastian bis hin zu dessen Selbstmord, lässt aber die Frage offen, ob letzterer nun ihr Sandkastenfreund oder ihr Bruder war. Die Seite 2 klärt den Rest. Sebastian war ihr Bruder, der - wie das Empfehlungsschreiben eines orthodoxen Bischofs beweist - zum Berg Athos wollte, dem griechischen Mönchsberg, den keine Frau je betreten durfte. Die 3. Seite bringt den Entschluss Susannes, zum Athos zu fahren. Sie lässt sich ihre langen Haare kurz schneiden wie die ihres Bruders und zieht los.
Hiermit beginnt die „Wanderung“ auf der Suche nach einer Antwort, die sie selbst kaum definieren kann. Auf Seite 34 antwortet sie dem Türhütermönch noch auf die Frage, was sie zum Athos führe, recht lächerlich: „Ich liebe den Athos“, während sie 50 Seiten weiter endlich entschlossen sagt: „Ich suche meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Die Antwort ist eher deprimierend: „den Schlüssel zur Vergangenheit hat sie gefunden. Aber vielleicht ist das Bild auch nicht richtig.“ Vielleicht ist das Bild nicht richtig, weil es keine einzige, klare Lösung gibt, weil wir alles aus einer Sicht sehen, welche nicht notgedrungen die allein mögliche und damit richtige sein muss.
Susanne erwartet einen unglaublich faszinierenden Berg, der gleichzeitig erschreckt und in den Bann zieht. „Nicht die kahlen und schmucklosen Häuser sind das Unweibliche, sondern das Statische, die Zukunftslosigkeit. Nichts ändert sich, kein Kind läuft um die Ecke, keine Mutter keift hinterdrein. Unter dem großen Apfelbaum steht kein Paar und küßt sich.“ Lange Zeit hat Susanne große Angst, als Frau und damit als unverzeihlicher Fremdkörper entdeckt zu werden. Bis sie endlich selbst beginnt, sich dem Athos nicht mehr fremd zu fühlen. Nach einem mystischen Erlebnis im Kloster Lavra lernt nicht nur seine landschaftliche Schönheit schätzen, sondern das Wesen der Insel: Hesychia – die innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die den ganzen Menschen ändert. Ein Mönch sagt zu Susanne: „Du bist zu jung, um den Athos zu verstehen, […] Hier ist die Gegenwart Vergangenheit und Zukunft zugleich. Jede Zeit fließt in diesen einen Augenblick.“ Auf dem Athos hat die Zeit einen ganz anderen Wert; wer diese Erkenntnis macht und akzeptiert, findet Hesychia und damit vielleicht die erste Stufe zu Gott.
Susannes Leben als Gesamtheit sowie ihre Athosreise werden von mehreren Männern bestimmt: von Sebastian, von ihrem Vater, der sie in ihrer Kindheit ohne Erklärung verlassen und seither wie eine Fata Morgana ihr Leben mitbestimmt hat, Sven, der Portartis des Klosters Lavra, Elias. Lauter Männer, die sie gern hatten, sie aber doch aus irgendeinem Grund verlassen haben – oder umgekehrt. Dieses für sie so unverständliche, unverzeihliche Verlassenwerden, das durch nichts gerechtfertigt werden kann, weil es Dritte involviert und denen Schmerz zufügt, soll ihr verständlich werden. Und seltsamerweise tut sie – bewusst oder unbewusst – genau das Gleiche.

Ein interessantes Buch, das man gerne zur Lektüre weiterempfiehlt, auch wenn es vom Stil her oft von guter Literatur in Kitschnähe abfällt („Sie nähern sich rasch dem Bächlein, das sich durch munteres Plätschern verraten hat“). Viel intensiver und echter wirken da die Zitate von Lord Byrons Childe Harold’s Pilgrimage. Auch einige Unstimmigkeiten verunsichern, wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie anfangs recht erfolglos versucht, die griechischen Worte zu entziffern oder sich verständlich zu machen und danach problemlose Kommunikation mit allen führt. Die Österreicherin ist nicht zu übersehen, zahlreiche Redewendungen oder lexikalische Eigenheiten verraten sie, sogar dort, wo ein Berliner spricht, der zwar einerseits stark berlinert, andererseits aber einen „Bursch“ erwähnt.

Eine interessante Idee hingegen besteht darin, Odysseus durch das ganze Buch mitziehen zu lassen. Der große Reisende und Abenteurer, der seine Frau verlässt, um in den Krieg zu ziehen, wird eher zum negativen Symbol: „Kaum sind zwanzig Jahre vorbei, kaum ist eine neue Blüte von Männern herangewachsen, beginnt der Kampf für das Vaterland von neuem. Aber für welches Vaterland lohnt es sich zu kämpfen?“ Die Antwort ist ganz klar: Das ist eben männlich.
Und hierin ist Susanne weiblich, sie wird nie Odysseus sein, so wie sie nie Sebastian sein wird, sondern immer nur Penelope, die Verlassene. Bis sie am Ende im Madonnenbild, für das sie Modell sitzt, beides vereint: „Gott verbindet Männliches und Weibliches, warum nicht auch die Gottesmutter.“
Vielleicht ist das eigene Verlassen und In-Versuchung-Führen ein Zeichen ihrer neu erwachten Männlichkeit, denn: „Jeder lebt sein eigenes Fegefeuer am Athos, das ist der Sinn. Für mich gibt es kein anderes Leben mehr.“ Wer diesen Satz ignoriert, ist zum trojanischen Pferd geworden, das Odysseus in sich hat.


 

 


Claudia Mathis, schwarzer schnee.
Lyrik und Kurzprosa.
Innsbruck: Leviathan, 2002.

Quadratisches, handliches Büchlein, 13x13, in der Mitte zweigeteilt, der linke Streifen schwarz, der rechte weiß: das ist das neue Werk der Philosophin und Theologin Claudia Mathis. Im Untertitel steht lyrik und kurzprosa. Die Aufmachung ist sehr einladend, die gewählte Schriftart klar, schön leserlich und angenehm.
Der Inhalt ist etwas komplexer. Die Gedichte sind sehr persönlich, sie sprechen vom Verlust eines ungeborenen Kindes, von der Sinnlosigkeit des Tages, wenn es keinen Gott gäbe, von der Stadt Innsbruck, die Teil ihrer selbst geworden ist, und wieder von der Unerreichbarkeit eines Gottes, den man nur lieben kann, aber mehr nicht. All diese an sich sehr intimen Themen sind in einer vollkommen unsentimentalen Sprache verfasst, einer Sprache, die ebenso rein ist wie das äußere Bild des Büchleins und einen starken Kontrast zum Inhalt bilden. Schwarz-weiß.
Es ist nicht einfach, diese durchgehend klein und ohne Satzzeichen geschriebenen Verse zu verstehen, sie richtig zu interpretieren ist mitunter unmöglich. Dies liegt vor allem daran, dass der Inhalt nie banal, nie vorhersehbar ist, wie zum Beispiel das titellose Gedicht auf Seite 35 zeigt:

mangels an fixpunkten
uneigentlich
der blick
erfasst vom horizont
plötzlich erhellt
eine vision
der weltUNTERGANG
beruhigt
schließe ich die augen

Nur die groß geschriebenen Wörter verweisen darauf, was besonders wichtig ist, vielleicht befolgt Mathis auch die Internet-Regeln, nach denen die Großschreibung für Schreien steht.
Extrem ausdrucksvoll ist das einleitende Gedicht, das dem Band auch seinen Titel verleiht. Auf den ersten Blick hält man den Vers „ANGEBROCHENES LEBEN“, der es eröffnet, für den Titel. Vielleicht ist er es auch. Diese Zeile wiederholt sich zweimal, während der Vers „unsere liebe WAR“ sich dreimal wiederholt und eine Art Pendant dazu bildet. Die übermäßige Kraft in der Trägheit steht im Gegensatz zum brechenden Ast, zum zerberstenden Vogel, zum weißen Tod, der „unsere liebe WAR“. Und das Bindeglied zwischen diesen beiden Realitäten, zwischen dieser Unfähigkeit, im Schreien keine Rufe mehr zu hören, bilden die drei Verse

schwarzer schnee vor meinen augen
schwerer schnee auf meiner brust
stummer schnee in meinen ohren

Unmöglich, bei diesem Gedicht nicht an „an das verlorene kind“ zu denken, vor allem, da es nicht heißt, „lieber / wenn ich an dich denke“, sondern „liebes / wenn ich an dich denke“.

Ein sehr intensives, persönliches Gedicht, wo wie in allen guten Gedichten das Private zum Öffentlichen wird, ohne Peinlichkeiten hervorzurufen, im Gegenteil, hier empfindet der Leser das öffentlich Gemachte als sein ureigenes Privates.

In dieser Hinsicht ähnlich, aber viel weniger hermetisch, überaus flüssig ist die Kurzprosa. Auch hier geht es um Verluste, um den Verlust der Kontrolle über seinen eigenen Körper und über seine Umwelt in „das krokodil“ und über den in keiner Weise schmerzhaften Verlust einer flüchtig kennen gelernten Person am Strand in „treffen“.
In ersterem Fall hören wir die Stimme eines Ich-Erzählers, der in der Intensivstation der Neurologie Innsbruck liegt. Er kann sich an nichts erinnern, hat kein Zeitgefühl.

aber ich höre. ich schmecke. mit meiner Haut fühle ich und mit meinen augen sehe ich.

Jeder der folgenden Absätze ist einem dieser Sinneserlebnisse gewidmet, doch weder das, was er hört, noch fühlt oder schmeckt, gefällt ihm. Anders ist es mit dem, was er sieht:

und, was ich sehe, gefällt mir sehr.

es ist wie der rücken eines tieres. der rücken von einem krokodil. seine farbe ist grün, braun, manchmal auch ein wenig grau.

Er meint, das Krokodil, streicheln zu können, es ist sein Freund, findet er. Wenn er einschläft, wacht es über seinen Schlaf.
Gleichzeitig erklärend und ernüchternd wirkt da der letzte Absatz mit dem „patientenvermerk“.

francesco a. liegt nach einem autounfall bereits den 8. monat im koma. seit seiner überstellung in die universitätsklinik hält er den kopf ständig nach rechts gedreht mit dem gesicht zur nordkette.

Sehr interessant ist das perfekt zweisprachig geschriebene „treffen“, wo sich eine deutschsprachige Frau und ein italienischer Mann am Strand treffen, einander offen gestehen, wie gut sie einander gefallen, weil sie sich sicher sein können, dass der andere sie auf Grund der Sprachbarriere nicht versteht und damit jedes peinliche Moment wegfällt. Die Frau wundert sich, dass der Mann gar nicht versucht, sie zu berühren oder einzuladen, aber der Mann ist zu ernsthaft von ihr angetan, um die stereotypen Strandregeln des italienischen Machos zu befolgen.

Am Ende geht sie weg, ihre Augen treffen sich.

„ciao „ sagt sie und „ciao „ sagt er.

Da ist keine Sentimentalität drin. War schön, dich kennen gelernt zu haben. Wie intensiv die Begegnung aber in Wirklichkeit war, drückt der letzte (vielleicht auch etwas künstliche) Absatz aus:

dann geht sie weg. der mann setzt sich. es ist ein abend am meer. im sand sitzt ein mann und schreibt.

Das genaue Gegenstück hierzu hatte einleitend die Frau gebildet.

Dieses Werk stellt vielleicht die einzige wahre Liebesbegegnung zwischen einem Mann und einer Frau in diesem Band dar.

Eine Begegnung ganz anderer Natur hingegen bietet uns die gleichnamige Kurzprosa. Hierin berichtet die Erzählerin (und Autorin?) in einer Presseaussendung, wie zwei Priesterseminaristen aus Afrika, die in Innsbruck ihr Theologiestudium absolvieren, absichtlich auf ihrem Nachhauseweg von einem Auto überfahren werden. Der Grund ist ganz klar: Fremdenhass. Die körperlichen Verletzungen heilen in wenigen Tagen, was aber nicht heilen wird, sind die seelischen Wunden, die auch die Erzählerin verspürt, als sie erfährt, dass die Polizei von einer Anzeige abrät („das war aber sicher keine absicht, oder? werden halt zuviel getrunken haben.“). Die Presseaussendung muss revidiert werden: „rassisische attacken entsprechen nicht der art der innsbrucker, nicht der art der tiroler und nicht der art der österreicher.“
Und diese Tatsache, die Vorstellung eines Bildes „von einem land, in dem ein schwarzer überfahren wird und nicht darüber reden darf“, betrifft die Innsbruckerin vielleicht noch mehr als die Afrikaner, denn

- stadt! -
ist es mir möglich
dich zu hassen
ohne MICH?

Und so kann die Autorin Innsbruck nur hassen, lieben und beweinen.


 
 

Aurelia Seidl-Todt,  ... und es blättern aus den Bäumen.
Lyrik.
Innsbruck: TAK, 2002.

„… und es blättern aus den Bäumen“. Irgendwie mutet hier alles „falsch“ an: dieser Titel, bei dem man gerne das Verb korrigieren möchte (sagt man denn nicht es blättert?), das hübsche Passfoto der Autorin, die ausgewogene Struktur, die das Inhaltsverzeichnis verrät.
Der Untertitel heißt: LYRIK. Nicht „Gedichte“, sondern Lyrik. Das klingt knapper, weniger musikalisch. Und da erwacht die Neugier.

Das Buch ist in vier Teile unterteilt, welche mehr oder weniger alle gleich lang sind: „im Windschatten der Zeit“, „…und es blättern aus den Bäumen“, „Tauziehen“, „und kannst es wenden wie du willst“.
Absolutes Hauptthema ist die Zeit, ein roter Faden, der den gesamten Band durchzieht. Das ewige Fließen der Zeit, gegen die man zwar ankämpfen, aber nicht gewinnen kann. Bereits das erste Gedicht empfiehlt, nicht allzu viel Gas zu geben, sondern im Windschatten der Zeit zu fahren. Auch das einleitende Gedicht des dritten Teiles („Tauziehen“) erinnert den Leser oder die Autorin daran, dass man dieses Spiel verlieren muss, so sehr man sich auch dagegen sträubt:

da täuscht kein
Makeup hilft kein straffer
BH denn du landest
im Bach springst du da
rüber und steigst du auf
Bäume schlägst du hart
auf rien ne va plus.

Die Beispiele, die man zitieren könnte, sind endlos. Diese Angst vor der Zeit überrascht, wenn man an das Alter der Autorin denkt (1948 geboren). Dabei ist diese Angst ein globales Gefühl aller Zeiten, und insbesondere unserer modernen Zeit, wo Mann wie Frau nicht mehr nur den Tod, sondern vor allem die Spuren des Alter(n)s fürchten. Wenn in „Tauziehen“, „Zeit für Raben“ oder „eingeschneit alles“ die Resignation sich noch in Grenzen hält, so hört man aus „Gründlich“ schon Angst heraus. Trotzdem lehnt sich die Autorin immer wieder gegen den Feind auf: „für langsames Sterben / bleibt noch Zeit genug“ meint sie in „wieder haben“. Und aus diesem Motto scheint dieses Buch geboren zu sein.

Ein weiteres Thema ist die mit jeder Faser ihres Seins erlebte Natur, die etwas Allgegenwärtiges, Großes und gleichzeitig auch „Natürliches“ ist.

[…] doch etwas war anders
heute früh hat die Amsel
ihre Stimme wiedergefunden
und ich aus der Hüfte
neuen Schwung

Diese große Liebe zur Natur verleiht vielen Werken eine ungeheure Intensität, führt aber dort, wo die Metaphern allzu üppig eingesetzt werden, auch aufs Glatteis: das sind die wenigen eher schwachen Gedichte dieses Bandes.

Seidl-Todt schreibt sehr persönliche Gedichte, aber keine „Frauengedichte“, die Gedichte könnten gleichermaßen von einer Frau wie von einem Mann geschrieben sein, was den Stil betrifft: straff, unsentimental. Gerne benutzt die Autorin das zusammenfassende, abschließende Partizip Perfekt, wie zum Beispiel in „der Durchreisende“: „dem Vieh das Heu eingeholt / dem Bauer die Scheune gefüllt / den Raben wieder geräumt das / Feld […].
Die Dichterin verzichtet auf sämtliche Satzzeichen, behält aber die Groß- und Kleinschreibung bei, mit Ausnahme der Tatsache, dass ein Gedicht ohne Weiteres auch klein beginnen kann (wie z.B. der Titel).
Diese Stilmittel sorgen dafür, dass der Leser sich konzentrieren muss, er kann nicht einfach die Sätze mal schnell überlesen, weil er ansonsten den Faden verliert. Andererseits aber ist der Stilbruch nie so extrem, dass die Gedichte hermetisch oder unverständlich würden. Mit ein bisschen Konzentration versteht man den Satzbau. Um den Sinn zu verstehen, verlangt die Autorin aber auch ein bisschen Kopf (und Herz?).

Eine einfache Sprache also, sagten wir. Dies gilt auch für die Bilder und Symbole, welche direkt dem Alltag entnommen sind. Wie Roland Jordan im Buchumschlag hervorhebt, versucht die Autorin, „Gegenstände des unmittelbaren Erlebens (…) und selbst der scheinbar grauen und gräulichen Alltäglichkeit (…) in Sprache zu fassen.“ Dies führt dazu, dass die zahlreichen Symbole, die Seidl-Todt verwendet, selten gekünstelt wirken, sondern immer realistisch und damit eine erhöhte Wirkung erzielen. Einen Raben als Todessymbol herzunehmen ist nicht sehr originell, in seinem natürlichen Kontext aber wirkt er absolut überzeugend:

das Licht im Rücken eilt
voraus mein Schatten lang
wo länger noch die blind
vertrauten Wege und ihr
die ihr im Vorübergehen
mein Leben längst berührt
heraussteigt aus Erinnern
fremde Statisten – so
wandelt ihr durchs Feld
seid verwunschne Raben […]

Die Österreicherin Seidl schreibt bestes Deutsch, nur die oft eingeschobenen „mein Bester“, „meine Liebe“ stören die Reinheit dieser Sprache, was aber durchaus positiv zu verstehen ist, denn sie lockern sie auf, wodurch die Autorin eine aseptische Sprachschule vermeidet. Sie sorgen dafür, dass die Gedichte noch persönlicher wirken als sie es ohnehin schon sind. Wie bei allen guten Gedichten ist das Persönliche aber so verfasst, dass es nie peinlich anmutet, sondern zum Öffentlichen wird.
Dies gilt auch für ein zweites auflockerndes, sehr persönliches Thema, das den Band durchzieht: ihre Liebesgeschichte, wo sich diskrete Erotik und Gefühl, auch Verlustgefühl, abwechseln, aber nie einer leicht zu erwartenden Sentimentalität Platz lassen.

immer wieder zurücklassen
dich abstreifen vor der Tür
und so tun als hätt es dich
nie gegeben

Überraschend wirken im Rahmen dieser an sich doch eher sanften Gedichte, die Gedichte „vielleicht nur Zufall“ und „noch einmal Zufall“: das respektlose Sinnen über das Autokennzeichen GOTT 1, das vor ihr im Morgenverkehr herfährt („als ob es einen zweiten gäb“) erinnert an die Beerdigung von W.D. Schnurre, wo ein „gewisser Gott oder Klott“ begraben wird.

Ein interessanter Lyrikband also, wo zwar auf den ersten Blick alles „falsch“ anmutet, wie wir eingangs sagten, der Inhalt aber absolut stimmt.

Druckversion: http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/tirol/rezensionen/kuppelwieser.html | gedruckt am: 17.09.2014