Universität InnsbruckUniversität Innsbruck

Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezension von Hubert Lengauer

 
 

Sepp Mall, Wundränder [Okt. 2004]
Roman.
Innsbruck: Haymon 2004.

Wieviel muß man wissen, als durchschnittlicher Leser, als Nicht-Tiroler, wenn man auf einen Roman zur Bumser-Zeit zugeht? Wie viel und was erfährt man von ihm? Sind das überhaupt berechtigte Fragen zu einem historischen Roman?
Tatsache ist, man kommt als Leser an dem eigenen Wissen nicht vorbei, aber es kann auch nicht der Maßstab sein, an dem der Roman gemessen wird. Neben dem historischen Wissen ist da noch das literarische: die Erinnerung an den holzgeschnitzten Chauvinismus in Tumlers „Tal von Laussa und Duron“, an die quälende, bußfertige Abmühung in der „Aufschreibung in Trient“; an Josef Zoderers „Walsche“. Und andere werden noch mehr wissen oder dabei gewesen sein oder „betroffen“ in irgend einer Weise. Was wußte Sepp Malls Vater (1929-1998), dem der Roman gewidmet ist? Was wusste der Sohn? Sosehr diese Widmung Teil des Textes ist, wir müssen ihr nicht biographisch nachspionieren.
Aber: eben davon handelt der Roman: was man als Sohn oder auch als Schwester wissen konnte von den geheimen männerbündischen Aktionen, deren Resultate gefällte Strommasten, gesprengte Denkmäler, zerfetzte Körper waren. Er begibt sich auf die Ebene der Jugendlichen von 1966, denen der Lattenpendler in der Fußball-WM und die Pässe des Sandro Mazzola manchmal näher standen als die fremden, unverständlichen oder abwesenden Väter (einer sitzt ein und wird Verräter, ein anderer war nie da, ein dritter verachtet seinen sprachbehinderten Sohn und jagt ihn aus dem Haus); vielleicht noch deutlicher oder erzählerisch triftiger: der Roman begibt sich auf die Ebene der Töchter, denen die eigenen Väter ebenso fremd sind, deren Kontakte zu den italienischen Polizisten als „Fraternisieren“ mit dem Feind ausgelegt wird. Kann sich der Roman auf diese Wissens-Ebene zurückbegeben und alles andere, das politische und historische Wissen beiseite lassen? Er kann es und tut es, und der Effekt ist, dass das Absurde der terroristischen Aktionen krasser hervortritt als das eine historisch wissende Erläuterung je begreiflich machen könnte: so wie die Augen des Simplizius uns Brandschatzung und Vergewaltigung im Dreißigjährigen Krieg genauer sehen und die Groteske einer verkehrten Welt nachdrücklicher spüren lassen als alle nachgetragenen Erläuterungen.
Und natürlich ist es nicht so, wie der Klappentext meint (warum haben Klappentexte immer dieses breit Umarmende, dieses nett „Tolerante“, das allen recht geben und keinen vergraulen möchte?), dass dies „keine Interpretation zeitgeschichtlicher Ereignisse“ sei und dass der Leser (!) die Chance habe, „sich seine eigene Meinung zu bilden“ usw. usf.
Der Leser – mag sein, die LeserIN wird da hoffentlich klüger sein und jene Schlüsselstellen wahrnehmen, in denen die Tochter eines Ideologen (und Geliebte des Sprachgestörten, später zerfetzten „Terroristen“) wahre Worte sagt: „dieses Geschwätz von der richtigen Sache, alle diese Luftschlösser, Verbohrtheiten. Befreiungskampf, haben sie sich gegenseitig zugebrüllt, Freiheit, gerechte Sache,...“ (130). Dagegen haben die Männerbündler, die den Sprachgestörten zu ihrem „glühenden“ Instrument gemacht haben, kein Argument: „Davon versteht ihr nichts. Von der Liebe zum Volk, vom Opfergang, und schon gar nichts davon, wie einer zum Mann wird, ein armer Teufel, ein Stotterer ...“ (150).
Die Erzählung ist bei den Geschädigten dieser historischen Ereignisse, und das ist nicht die italienische Industrie oder der Staat, das sind die, welche die Absenz der Väter und Brüder ausbaden mussten, bei den Adoleszenten, ihren Verlusten und ihrer „Kälberliebe“, die keine nationalistische Verachtung kennt. Die Behutsamkeit, mit der Sepp Mall ihre Perspektive zur dominanten macht, ist nicht bloß „tolerant“; sie ist mehr als das.

nach oben