Universität InnsbruckUniversität Innsbruck

Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Kerstin Mayr 

 
  

Martin Kolozs: Immer November. Roman
Mitter-Verlag, 2012

Große Romane müssen nicht lang und schon gar nicht langwierig sein! Ein beeindruckender Erzählfluss, ein Strom, der diejenigen, die sich hineinwerfen, mit sich reißt. So lässt sich der neue Roman von Martin Kolozs, erschienen 2012 im mitter|verlag, wohl am ehesten beschreiben.
Was ist es, was uns Leser und Leserinnen zu einem Buch greifen läßt, was ist es, weshalb wir ein Buch nicht mehr aus der Hand legen, uns bereitwillig die Nacht zum Tag machen, uns hineinstürzen und erst auf der letzten Seite wieder auftauchen – manchmal wie neu und gewandelt, manchmal erschöpft und voller Fragen und manchmal auch erleichtert, weil wir Antworten auf Fragen gefunden haben, die uns bis dahin unlösbar schienen?

Ein Buch ist zuallererst ein Versprechen. Ein Versprechen, dass wir etwas Neues erfahren, wir fremden Figuren begegnen, von denen wir lernen können - wenn wir uns einlassen. Ein Buch ist die Verlängerung der Wirklichkeit, in der wir leben, ein Raum, in den wir uns bewegen, um zu reflektieren, vielleicht um mehr über das Leben und die Menschen darin zu erfahren, vielleicht aber auch um ein wenig mehr über uns selbst zu lernen.

In Kolozs‘ Roman treffen wir auf John Salten, einen ewig Suchenden, der nach einem Selbstmordversuch den Entschluss fasst, dem Versprechen, das er seiner Großmutter vor ihrem Tode gegeben hat, nachzukommen und nach Amerika zu reisen. Diese Reise gleicht der uns aus Entwicklungsromanen oder frühen epischen Erzählungen bekannten. Sie dienen den Protagonisten meist dazu, sich zu entwickeln und ihre wahre Bestimmung zu finden. Vergleichbar etwa mit Parzival, der seinen Lehrer in Gurnemans findet, so trifft auch Kolozs‘ Hauptfigur, John Salten – seines Zeichens „verhinderter Schriftsteller -, auf seinen selbsternannten Mentor, den Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Norman T. Nach einer unglücklichen Affäre mit einer verheirateten Barkeeperin und dem vergeblichen Versuch, in einer Arbeit als Jugendbetreuer Fuß zu fassen, nimmt Saltens Weg einen anderen Lauf. Er macht sich auf, Norman T. zu suchen, getragen von der Hoffnung, dieser würde ihm ein Wegweiser in die richtige Richtung sein, und das heißt zunächst einmal ihm zu helfen, den Weg zu sich selbst zu finden. Nur leider bleibt der Versuch, eine Antwort im Außen zu finden, wie so oft, vergeblich.

Die Kunst Kolozs‘ besteht nun darin in dem Leser, der Leserin dieselbe Hoffnung zu erzeugen, die Saltens Triebfeder ist, sie zu hegen und zu pflegen. Die Enttäuschung darüber, dass Salten aber letztlich auf sich selbst zurückfällt und klar wird, dass das Außen niemals das Innere ersetzen wird können, ist groß.
Wenn wir ein Buch lesen, begegnen wir ihm mit einer Hoffnung. Manchmal mit der Hoffnung auf Antworten oder in der Hoffnung etwas zu entdecken, das uns gleicht, das uns weiterhilft. Wir besuchen eine Figur, ihr Leben, ihre Welt. Eine Figur, die uns ein Zeichen ist, die uns etwas spiegelt. Ein Zeichen, ein Symbol ist immer etwas, das über sich selbst hinausweist, etwas, das wir als Leser und Leserinnen deuten können. Zu Beginn der Lektüre von Martin Kolozs‘ Roman, hegt der Leser, die Leserin noch große Hoffnungen. Das Gefühl hier entspinne sich eine großartige Geschichte um einen komplexen Charakter, die zweifelsohne in der Komposition komplex und salopp in der Sprache ist, endet jedoch in Enttäuschungen. Zweifelsohne fein gewoben, gut durchdacht und gut gesponnen, wunderbar gezeichnet und geformt, ist dieser Text. Gedankensprünge, die zugleich auch oftmals Zeitsprünge sind, Handlungssprünge, Ortswechsel lassen sich wunderbar verfolgen. Jeder Satz bietet ein Sprungbrett und doch scheint es „immer November“ zu bleiben. Es ist neblig um die Figur, sie tastet im Trüben nach etwas, von dem sie nicht wirklich weiß, was es ist. Eine Figur, die nach Bedeutung in ihrem Leben sucht, die sie ihm nicht geben kann, die in ihre Erfahrungen der Vergangenheit verstrickt und verflochten ist, in denen Menschen wie die Großmutter oder später der Schriftsteller auftauchen, die Affäre, die Barkellnerin, die versuchen ein Zeichen zu setzen oder zu sein, wodurch der Protagonist sich entwickelt. Salten aber ist und bleibt ein Antiheld, dessen Welt – wie es im Klappentext so schön heißt – nicht seine Vorstellung und keinesfalls sein Wille ist. 

[Bild: nach oben]

 


 

 

 
Herbert Rosendorfer, Huturm
. Nachrichten aus der Tiefe der Provinz. Roman
Wien - Bozen: Folio, 2012

Erinnern Sie sich vielleicht an diese ersten sprachexperimentellen Versuche aus der Kindheit, bei denen ein Wort oder eine Phrase so lange bei sich steigerndem Sprechtempo wiederholt werden, bis sie befremdlich klingen und scheinbar ihren Sinn verlieren!? Ich denke an Dinge wie: „Blumento Pferde“ (Blumentopferde) oder „Kuhliefumtenteich“ (die Kuh lief um den Teich). So oder so ähnlich verhält es sich auch bei der Lektüre des unlängst erschienenen Romans von Herbert Rosendorfer „Huturm – Nachrichten aus der Tiefe der Provinz“. Rosendorfer rückt der Historie eines Dorfes und dessen Bevölkerung quasi so auf die „Pelle“, dass man als Leserin das Gefühl bekommt, man reise durch einen Minimundus, in dem das Leben nur so wuselt. Für jüngere Leserinnen und Leser, die mit der virtuellen Welt vertraut sind, eignet sich vielleicht der Vergleich mit PC-Spielen wie „Die Siedler“ oder „Die Sims“. Für erfahrene Leserinnen ist „Huturm“ eher in der Nähe von Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ anzusiedeln.

Nehmen Sie einmal an, sie lebten in einem Dorf. Sie leben in einem? Dann nehmen Sie weiters an, sie nähmen ein Mikroskop zur Hand und sähen sich Ihr Leben aus der Nähe an – wie nahe kann man seinem Leben kommen? Rosendorfers Roman kommt dem Leben so nahe, wie man ihm sprachlich und literarisch wohl kaum näher kommen kann. In gewohnt sartirischer Weise zeichnet der Autor hier eine Karikatur der Entwicklung des Dorfes „Huturm“ über mehrere Generationen hinweg, ohne sich dabei in historischen Details  oder epischer Breite zu ergehen. Kurz, prägnant und auf den Punkt gebracht sind sowohl Rosendorfers Sprache wie auch sein in 37 Kurznachrichten verpackter Roman.

Im Zentrum des Geschehens stehen vor allem der Fürst des Dorfes Huturm und der Zuwanderer Friedrich Guggemot – seines Zeichens Totengräber zu Huturm. Als „Zugewanderter“ (also nicht-gebürtiger Huturmer) muss Guggemot sich zunächst damit begnügen, die Schnur der hinteren Fahne halten zu dürfen, als Huturm zu Ehren seiner selbst den Aufstieg vom Dorf zur Marktgemeinde feierlich begeht. Auch aus dem Leben weiterer Lokalprominenzen wie dem des Doktors (Stanislaus Zoderer), des Lehrers (Hahn) oder des Apothekers wird berichtet. Mit einigem Augenzwinkern und etlichen Randbemerkungen (meist in Klammern gesetzt) kommentiert der Erzähler gekonnt und mit lakonischem Witz das Leben und Treiben der Huturmer aus der Perspektive eines – ja, so könnte man sagen – Berichterstatters.  Dies zeigt sich besonders eindrücklich in der Beschreibung der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Bevölkerung und das Leben im Dorf:

„Dann 1925 sogar der Schilling statt Kronen. Ein Kriegerdenkmal: 153 Gefallene aus Huturm und den umliegenden Weilern. Mancher ist zwar zurückgekommen aus Galizien, vom Isonzo, aus Sibirien, ist aber nicht derselbe wie vorher. […] Das Leben geht weiter. Das Leben ist weitergegangen, trotz Krieg, trotz Inflation, trotz des Heeres von Toten – obwohl es keinen Kaiser mehr gibt“ (S.86).

Auch der Zweite Weltkrieg bleibt bei Rosendorfer ein Ereignis, das wie beiläufig geschieht, in seinen direkten Auswirkungen aber auf das Leben in der Provinz und die zwischenmenschlichen Beziehungen in Erscheingung tritt:

„Silberstein griff in seine mit dem Judenstern ‚gezierte’ Jacke, in die Brusttasche, und zog eine kleine Medaille in einem rot-weiß-roten Band hervor, hielt sie dem Kommerzialrat hin: ’Wo ich doch…’. Er steckte die Medaille wieder ein. ‚Wo ich doch ein alter Kaiserjäger bin. Wo ich doch… drittes Regiment, hat mir Exzellenz Generaloberst Křitek selber…’ Die Stimme versagte ihm. […] Daß der Kommerzialrat eines Tages vergeblich auf Silberstein wartete, hing nicht damit zusammen, daß der etwa unzuverlässig geworden wäre“ (S.128).

Mit nur einem Satz an der richtigen Stelle, einem kaum merklichen Kommentar, vermag Rosendorfer einen ganzen Kosmos, die Geschichte, die eine ganze Generation geprägt hat, zu verpacken. Schnell wird klar, dass das vergebliche Warten bedeutet, dass besagter Silberstein eben auch – wie andere im Dorf respektive Stadt „ja, Stadt[,] [p]olitisch-juristisch schon, aber Kleinstadt und im Kern immer noch Dorf“ (S.115) - Opfer des Nationalsozialismus geworden ist.

Trotz der äußeren Veränderungen und Neuerungen über die Jahrzehnte hinweg zeigt Rosendorfer, dass auch ein Dorf „nicht aus seiner Haut kann“. Mögen es auch die Nachfahren des einstigen Totengräbers Guggemots zu etwas gebracht haben, so bleiben die Menschen letztlich doch dem Vertrauten, Bekannten und Bewährtem verhaftet. Bei all der Geschichte, bei all der Entwicklung ist es doch so wie Herr Doktor es beschreibt: „Das Menschliche, das Allzu-Menschliche schimmert immer durch“ (S.96).

Bei all dem Geschichtlichen fehlt es dem Roman nicht an Märchenhaftem. Die sieben Töchter des Wirts, die das Schicksal gleichsam in „sieben Winde zerstreut“, erinnern an „Sieben auf einen Streich“ oder an „die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen“ aber auch   daran, dass es sieben Todsünden gibt oder aber die sieben apokalyptischen Reiter …wie man es auch betrachten möchte, auf sieben Jahre der Dürre folgen immerhin sieben Jahre des Glücks. Es besteht also Hoffnung für die sieben Töchter des Kreuzwirts aus Huturm wie auch für Huturm selbst.

Wer also einen historisch anmutenden Roman lesen möchte, dem es weder an hintersinnigem Humor noch an literarischem Gespür mangelt, dem sei Huturm ans Herz und in die Hände gelegt – in dem Wissen, dass eine Leserschaft, die einen solch amüsanten, sprachwitzigen wie intelligenten Roman zu würdigen weiß, ihn trotz oder gerade wegen seiner Komplexität zu genießen versteht.  

[Bild: nach oben]

 


   

  


Sonja Steger, keine details 
Innsbruck: Skarabäus Verlag, 2009

Bedeutsam für die Atmosphäre eines Bildes ist die Abstufung der Lichter. Und einmal mehr gilt für die Lyrik, was auch für die bildende Kunst, Malerei und Fotografie gilt:  Mal mehr, mal weniger Licht, fällt auf die von der Autorin beleuchteten „taten, orte, worte, zeiten“.
     „keine details“, proklamiert der Titel des erst kürzlich erschienenen Gedichtbandes der Südtiroler Autorin Sonja Steger. Verleitet der Titel zunächst dazu, zu glauben, die Gedichte seien eben nicht von der Genauigkeit des dichterischen Blicks durchdrungen oder sie enthielten keine durch schärfste Beobachtung geprägten Bilder, so wird bei der Lektüre rasch klar, dass der Titel um das Adjektiv „unnötig“ erweitert werden könnte: keine unnötigen „details“ zeigt uns die Autorin, alles hat Gewicht. So präsentiert uns Sonja Steger „details“, poetische Bilder in reduzierter, knapper Form. Miniaturen, die sich auf die (Netz)Haut legen. Kleine Mosaike, die sich zu ganzen Städten, und Landstrichen zusammenfinden. Sie entwirft, verwirft aber auch Sehnsuchtsbilder, die den Fensterblick der Romantik evozieren. Der sehnsuchtsvolle Blick in die Natur bricht sich aber an Überlandleitungen, grauen Stadthimmeln und Fischleichen im Fluss. Es zeigt sich den LeserInnen ein urbaner Lebensraum, in dem zwar noch ein tiefer Wunsch nach Ursprünglichkeit und Natur treibt, für den zwischen Häuserfronten, Schuttkegeln und Geröllanschwemmungen jedoch kein Raum mehr bleibt - den nur die Dichterin noch in der Sprache lebendig hält. Sich aufmalen, davonfliegen, landen für einen Moment bloß, ein Augenschlag und weiterfliegen, dann den Ballast des eben Erlebten abwerfen – ein Streifzug, zu dem diese Gedichte einladen.
     Die Texte „orte“ führen die LeserInnen von Mals über den Reschenpass ins Ötztal, nach Sonnenberg, aber auch nach Salzburg und die Toskana. Auf dem Weg strömen die Bilder, die den Text-WanderInnen begegnen, ungefiltert in die Augen. Mit jedem Schritt, jedem Blick macht sich das lyrische Ich zu eigen, was es berührt und sieht. Landschaft und Natur werden Teil seiner selbst, so wie es seinerseits Teil der Umgebung wird.

gehend wurzeln bilden
landzuwachs in innenwelt
verinnerlichter sonnenberg
[…]

So vermischen sich Gehender und Begangenes, der Blick ins Außen wird mehr und mehr ins Innere gezogen, ohne introspektiv zu werden. Vielmehr zeigt sich, wie der Blick des lyrischen Ichs in der ewig gleichen Bewegung immer enger wird und sich schließlich in einem Brennpunkt sammelt.

bis zur erschöpfung gehen
mikroskopierte landschaft
erde
moos
stein
starrer blick zu boden
streut geröllaugen
auf das gesicht es weges
(sonnenberg II)

     Anders verhält es sich in Gedichten wie „ötztal“ oder „reschen“, in denen sich „das Leben […] tot an[fühlt]“, die Natur zurückgedrängt wird und nur mehr als vermietetes Stück Land erscheint. So zeigen sich schließlich in „haide“ die Menschen als Spiegelbild der urbanisierten Natur. Ihre Bräuche und Riten, die dem Natürlich-Kreatürlichen am nächsten standen, sind verkommen zu bloßen Gesten, zu Spielerei und Gaukelei. Die Menschen sind Schausteller und zu Händlern für ihr einst ureigenstes Bedürfnis nach Gott, nach Halt und Gemeinschaft geworden. Sie sind Zeugen und Zeichen einer säkularisierten Religion, des Ausverkaufs traditioneller Zeremonien, der Vermarktung von Brauchtum, Kultur und letztlich des Verlustes ihrer Identität. Kommerzialisierter Glaube hält sich an den Werbebannern, die ehemals Schärpen und priesterliche Talare waren.

im haus der zelebranten der macht
erschlägt der prunk aus jahrhunderten
[…]
Eine wellness-festung
[…]
motivationstrainer für manager
knien auf kirchenbänken

Übertüncht von Schmuck und Zier, lässt doch nichts darüber hinwegtäuschen, was nicht zu übersehen ist. Da erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass in dem Gedicht „sexten“ Grabinschriften als das einzig „lebendige Wort“ erscheinen, weil sie - den Tod eines Menschen bezeugend - zu seinem alleinigen Lebenszeugen werden. Und langsam verlässt der Blick der Autorin die „orte“ und wendet sich den „worte(n)“ zu.
Aber auch die Orte der Sprache, die Worte erweisen sich als bodenlos, haltlos bloße Instrumente der „dauerheuchelei“. „alles viel zu wirklich“ – heißt es – und doch setzt Steger dem unermüdlich das Wort der (Ver-)Dichterin entgegen. Gehen äußere Bezugssysteme verloren, wird der Ruf nach einem Du lauter. So sind unter dem Untertitel „für“ all jene Dus zu finden, denen das lyrische Ich begegnet und in Worten begegnen möchte. Sind es gerade diese Gedichte, die Helmut Schönauer in seiner Rezension zu dem vorliegenden Gedichtsband kritisiert, sollte dabei nicht übersehen werden, dass ohne Bezugspunkte - seien es Orte, Worte, Zeiten oder aber Personen - ein Großteil an Dichtung nicht entstanden wäre und auch in Zukunft nicht entstehen würde. Das „du reizt die netzhaut“ wie die Feder. Das Verlangen nach Ausdruck, der Wunsch zu ordnen, was nicht zuordenbar scheint, sich dem zu nähern, was unnahbar ist, und das zu würdigen, was längst vergessen wurde – all das ist Dichtung, all das ist es, was Dichtung lebendig macht und immer wieder neu entstehen lässt.
     Was dann noch bleibt ist „stille“. Und so endet auch Stegers Band. „nie genug“, heißt es, aber aus der Distanz, welche die Dichtung erreicht, nachdem sie sich der Welt, den Menschen und den Dingen darin genähert hat, erscheint alles in einem neuen Licht. Lösungen bieten Gedichte niemals, wohl aber die Möglichkeit, einen neuen Standpunkt einzunehmen, sich den Dingen von einer anderen Seite zu nähern. In eine Stille treten - Gedichte schreiben, Gedichte lesen - , um aus ihr mit Mut und Kraft erneut herauszutreten – so könnte der Aufruf Stegers verstanden werden, mit dem dieser Band schließt.

dreh dir einen strick aus stille
und häng dein wort daran  

[Bild: nach oben]

 



   

 
Herbert Rosendorfer, "Monolog in Schwarz" und andere dunkle Erzählungen 
Langen Müller, 2007

„Monlog in Schwarz“, zählt zu Rosendorfers phantastischen Reisen jüngeren Datums. Hat er seine Leserinnen und Leser in Briefe in die Chinesische Vergangenheit (1985) noch wie bei H.G. Wells in der Zeit reisen lassen, so bereitet Rosendorfer ihnen diesmal den Weg in die Tiefen und Untiefen menschlichen und unmenschlichen Fühlens, Denkens und Verhaltens. Entgegen dem Glauben an den Menschen als vernunftbegabtes, rationales Wesen präsentieren sich die Figuren ganz und gar ungeschönt und nackt. In Anlehnung an seine Vergangenheit als Richter vielleicht legt der erfolgreiche Südtiroler Schriftsteller mit diesem Erzählband ein weiteres Werk vor, das bis an die Grenzen einer vorstellbaren Realität und bisweilen auch darüber hinaus reicht.

Nicht so finster, wie man meinen möchte, aber dunkel, weil Rosendorfer, als fabelhafter Geschichtenerzähler Einblick gewährt in die Hinter- und Abgründe des Menschlich-Allzumenschlichen. Wortwörtlich „hinter’s Licht“ führt der Erzähler seine aufmerksamen Leserinnen und Leser. Wenn seine Geschichten zunächst wirken wie beiläufig erzählt. Der neueste Nachbarsklatsch - möchte man meinen. Weit gefehlt. Tatsächlich sieht man sich bereits nach wenigen Seiten in ein an David Lynch erinnerndes Kaleidoskop von bizarren und scheinbar alltäglichen Begebenheiten verstrickt. Eine Lektüre mit „Zog-Effekt“, erst einmal hineingezogen in die Bodenlosigkeit dieser Figuren gibt es kein Entkommen mehr. Was sich zunächst als banale Alltagssequenzen noch unspektakulärerer Lebensgeschichten präsentiert, ist durchzogen von Skurrilität und dunkelstem Humor. Die in dem Erzählband versammelten fünfzehn unglaublichen Geschichten zeigen alle Schattierungen der Farbe Schwarz – und dass Schwarz eine Farbe mit unterschiedlichen Nuancierungen ist, darüber lässt Rosendorfer keinen Zweifel aufkommen. Detektivische Beobachtungsgabe gepaart mit düsterer Atmosphäre, unvorhersehbare Wendungen und eine Spur Zynismus lassen Rosendorfers Erzählungen zu einem ebenso spannenden wie unterhaltsamen Geschichtenkarussell werden. Sowohl die Originalität der einzelnen Erzählungen, als auch die gut gesetzten Pointen zeichnen diesen Erzählband aus. Auch thematisch bietet Rosendorfer eine ganze Reihe an Einfällen und abwechslungsreichen Szenarien. Sprachlich nicht so reißerisch wie Dan Brown, bleibt der Autor dem Hemingway’schen Eisberg-Prinzip treu, das wahrhaft Monströse bleibt unter der Decke; auch wenn sie mancherorts durchbrochen wird.

So bereits in der ersten Geschichte „Monolog in Schwarz“, in der ein Mann von einer an Paranoia grenzende Angst getrieben wird, sein Nachbar würde ihn von der gegenüberliegenden Wohnung aus unentwegt beobachten. Dass er außerdem Eier mit Schraubenziehern zu öffnen beliebt und ihm die Frage, was denn mit dem Licht im Kühlschrank geschehe, wenn er die Tür schließt, zu einer wahrhaften Existenzfrage zu werden droht, ist nur ein erster Blick darauf, was und wem wir hier begegnen. Wäre den Figuren zu helfen, wüssten sie, dass die Antwort auf all ihre Fragen (frei nach Douglas Adams) „42“ lautet? Zumindest würden sich die LeserInnen nicht darüber wundern. Ein Mix aus Geisterbahn und Spiegelkabinett mit Blick auf die Bewohner einer Irrenanstalt – so oder so ähnlich könnte die Beschreibung dieser Rosendorfer’schen Parallelwelt menschlicher Abgründe lauten. Was geschieht, wenn Menschen sich ihrer dunklen Seite zuwenden, ohne Bedacht auf mögliche Konsequenzen zu nehmen? Statt gesund- wird dann voodoo-gleich totgebetet, wie in „Der Totbeter“ oder Nachbars „Lumpis“ allnächtliches Bellen führt zu einer verheerenden Explosion, wie „Die Hunde-Vernichtung“ zeigt.

Unter dem Deckmantel des Gewöhnlichen blitzt die menschliche Natur hervor, wie sie mit weniger Humor vielleicht aber nicht weniger scharfsinnig von Literaten wie Edgar Allan Poe („Das verräterische Herz“), E.T.A. Hoffmann („Der Sandmann“) und nicht zuletzt von Howard Phillips Lovecraft (Geschichte und Chronologie des Necronomicons) bereits beschrieben wurde. Rosendorfer erinnert mit diesem Erzählband an dieses traditionsreiche Genre des Schauerromans - allerdings mit etwas neuzeitlichem „South-Park-Flair“.
  

nach oben


 

 

 
Günther Loewit,
 Krippler
Roman
Innsbruck: Skarabaeus 2006

Günther Loewits neuer Roman weist mit seinem polyvalenten Titel Krippler bereits auf die Multidimensionalität der Hauptfigur voraus und präsentiert sich im manchmal auch sakralen Tonfall zunächst als eine harmlos anmutende Dorfpfarrergeschichte. Die Zwischentöne allerdings sind unmissverständlich – und auch wenn die Analogie zunächst befremdend erscheint – der Pfarrer Krippler geht mit etwas schwanger. Bereits das Buchcover und der dem Roman vorangestellte Leitsatz „Himmel und Hölle sind keine Gegensätze“ deuten darauf hin, dass der Protagonist von zwei einander scheinbar entgegen gesetzten Kräften getrieben ist. Die Gestaltung des Covers erinnert an das aus der chinesischen Philosophie bekannte Prinzip des Yin und Yang. Die Harmonie von Yin und Yang versinnbildlicht das Leben beziehungsweise die Möglichkeit dazu. Eben diese Möglichkeit zu leben verwehrt sich Krippler, indem er aus den falschen Gründen das vermeintlich Richtige tut.




Was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, das weiß Krippler, seit er als Junge die Mutter vom Pfarrer und von dessen Nützlichkeit für die anderen Menschen schwärmen hörte. Die Nützlichkeit und das Dienen am Nächsten, das sind die Maximen, die der kleine Krippler verinnerlicht. Sein Bestreben, der Mutter genügen und dem Alkoholismus des Vaters entkommen zu wollen, nährt seine Angst nutzlos zu sein. Die Antwort auf seine Angst ist die Flucht in das Priesteramt. Seine Entscheidung aber ist keine zum Glauben an das Leben, keine zum Leben bekennende, sondern wohl eine Flucht in den Glauben, den er längst verloren hat.

Hinter heiligen Mauern, in heiligen Hallen entsagt er der Liebe und macht sich schuldig an ihr, an Johanna Hofinger, seiner Geliebten, und seiner eigenen Lebendigkeit. Ausliefern will und kann Krippler sich nicht, zu groß ist seine Angst, die Kontrolle zu verlieren. Die Liebe ist ihm eine Bedrohung, ein Sich-Ausliefern. So hat Krippler seine erste Beerdigung, längst bevor er in Amt und Würden tritt. Mit der Beerdingung der Verbindung zu Johanna stirbt die Liebe und mit ihr ein Teil von ihm. Johanna wird ihn als schmerzvolle Erinnerung ein Leben lang begleiten. Schuldig wird Krippler an Johanna wie an sich selbst. Sein Leben als Pfarrer wird überschattet von einer Liebe, die ihn an das irdische Leben bindet – die Lebendigkeit der körperlichen Liebe ist dabei nur ein Bild. Die Frage ist nicht, ob Krippler mit Johanna ein glückliches Leben geführt hätte, vielmehr stellt sich die Frage, ob er seinem Auftrag als Mensch gerecht geworden wäre, indem er sich dem Leben und seinen Ängsten gestellt und sein Menschsein, mit allem Wohl und Übel, annehmen hätte können. Seine Angst, im Leben zu nichts nütze zu sein, zu nichts zu gereichen, verhindert ein Leben in Lebendigkeit. Kripplers nächtliche Phantasien von Johanna, sein Gedenken an die Stunden der körperlichen Hingabe, der Vereinigung und der Selbstvergessenheit, das ist es, wonach Krippler sich ein Leben lang sehnt, das ist es, wovor er sich fürchtet und was ihn an Johanna bindet. Die Frage, die er sich selbst nicht stellt, ist die nach seiner Liebesfähigkeit. So wenig, wie er sich Johanna hingeben kann, so wenig gibt er sich letztlich Gott hin. Zu sehr bindet ihn der Wunsch nach Kontrolle, Selbstbeherrschung und Macht an die weltliche Seite seines kirchlichen Amts, als dass er wirklich frei wäre für die bedingungslose Liebe und den Dienst an seinem Herrn. Statt einer Zeit der Ruhe, des Ausgefülltseins und der inneren Zufriedenheit beginnt für Krippler eine lebenslange, rastlose Suche nach Erfüllung. Krippler ist unfrei, er hält seine Liebe gefangen. Der Frage, die sich ein treuer, gläubiger Katholik nie stellen würde, mag sich doch der eine oder andere Leser stellen: Stellt Gott oder die Kirche Krippler vor die Wahl? Stellt sich die Frage nach einer Entscheidung für Yin oder Yang? Yang das männliche, aktive, zeugende, schöpferische Prinzip, Yin das weibliche, passive, empfangende, hingebende - ein jedes die Ergänzung des anderen. Das Eine bedingt das Andere. Die Entscheidung also für das Eine unter Ausschluss des Anderen ist gegen das natürlich-göttliche Prinzip. Die klangliche Analogie von „Krippe“ und „Krüppel“ im Namen Krippler verweisen auf den innern Widerstreit der beiden Prinzipien: Ein Krüppel wird Krippler durch die emotionale Selbstverstümmelung, als er der Liebe den Rücken kehrt und den einzigen Menschen der ihn liebt, verstößt. Die Starrheit der Kirche und ihrer Riten werden ihm zur einzig verbleibenden Zuflucht und Herberge (Krippe). Die Kirche gibt Krippler den – wenn auch nur vermeintlichen - Halt, den ihm weder sein Elternhaus noch die Beziehung zu anderen Menschen bisher geben konnten. Die Sicherheit bleibt aber eine vermeintliche nur, weil er seine Entscheidung für die Kirche und den Dienst an den Menschen unter den falschen Prämissen und aus den falschen Beweggründen wählt. Angst ist ein schlechter Berater und der Anspruch an sich selbst, einer Hälfte des Lebens zu entsagen, macht das Leben zu einer Hölle im Himmel, oder – wie es der Autor es so treffend dem Arzt, der sich um das leibliche Wohl der Menschen kümmert, in den Mund legt: „ … aber letztlich ist jedes Leben nur die Summe aller Verdammnis, die entsteht, wenn der guten Vorsätze zu viele sind.“ 

 

nach oben