Anton Molling, Wieder mit Sehnsucht nach Monte Carlo. Die außergewöhnliche Lebensgeschichte eines ladinischen Hotelportiers.
Herausgegeben von Hans Heiss und Margot Pizzini in der Reihe „Memoria_Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ der Edition Raetia, Bozen 2008.
Versehen mit einem deutschen Vorwort und editorischen Hinweisen der Herausgeber, einem ladinischen Vorwort von Giovanni Mischi, sowie einer Einführung von Hans Heiss und etlichen Schwarz-Weiß-Abbildungen.
„Auch die Erinnerung gewinnt mit jedem Jahr, indem sie älter wird. Bin nun 77 Jahre alt. Kann mich noch so gut erinnern. Gott sei Dank. Wahrscheinlich, indem ich immer wieder die Lebensweise unterscheide von damals und heute.“(S. 29)
So beginnen die Aufzeichnungen des ladinischen Hotelportiers Anton Molling (1901-1987), der seine „Lebensbilanz“ auf den Rechnungsformularen des Salzburger Hotels ‚Traube’ festgehalten hat. Mitherausgeber Hans Heiss nennt diese Aufzeichnungen einen „Glücksfall Südtiroler Erinnerungsarbeit, ein Selbstporträt, hinter dessen eigenwilliger Diktion und subjektiven Zügen die Konturen der Landesgeschichte hervortreten“, würden doch die „Eckpunkte“ von Mollings Leben als „Ladiner, Hotelmann, Optant, Auswanderer vier zentrale Entwicklungsmomente Südtirols im letzten Jahrhundert berühren“.(S. 10)
In einer „Einführung“ fasst Heiss nicht nur die Stationen des Lebens von Anton Molling übersichtlich zusammen, sondern kommentiert und interpretiert diese auch feinfühlig und diskret. Etliche Fotografien aus Mollings Leben tragen dazu bei, dieses plastisch werden zu lassen ebenso wie die Einführung von Heiss, die durchaus hilfreich ist, liest sich der originale und von den Herausgebern auch weitgehend als solcher belassene Text selbst doch aufs erste nicht ganz leicht.
So lobenswert und unverzichtbar es ist, dass die Herausgeber sich auf „kleine Eingriffe und behutsame Korrekturen beschränkt“ und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die „Mühen des Schreibprozesses zu respektieren und ihn nicht durch nachträgliche Beschönigung nachzubessern“, da mit einer „geglätteten Textfassung, in der die Anstrengung, aber auch der Erfolg der Verschriftlichung verschwunden wären“ (S. 26) niemand gedient wäre, so sehr fordert der Text in dieser Form vom Leser:
Man ist gefordert, sich einzulassen auf eine Erzählweise, die aus dem Mündlichen zu kommen scheint – laut (vor-)gelesen würde der Text vermutlich direkter zugänglich sein. Verstärkt wird dies vielleicht noch durch Mollings Zugehörigkeit zur ladinischen Sprachgruppe: „Die Spannung zwischen einer mündlichen Praxis des Ladinischen und der in der Schule erlernten, aber auch im Alltag häufig verwendeten deutschen Schriftsprache des Verfassers tritt im Manuskript deutlich hervor“(S. 26) – merken die Herausgeber an.
Sich trotzdem einzulassen lohnt sich auf alle Fälle: So beeindrucken einen Details aus einem bereits für den kleinen Bauernbuben oft entbehrungsreichen Leben und man beginnt bei der Lektüre Eigenschaften des Erzählers wie Geschick, Tapferkeit, Humor, Zähigkeit, Disziplin und Flexibilität zu erahnen, die ihn dieses Leben so leben haben lassen, dass er stolz davon erzählen kann.
In Untermoi im Gadertal geboren, werden der erst zehnjährige Anton Molling und seine drei Schwestern aufgrund der Überschuldung der Familie bei anderen Familien untergebracht, Anton und seine Schwester Kathi in Villnöß.
„Zum Kirchtag, zweiter Sonntag im Juli, sind wir, ich und Kathi, zum Kirchtag kommen. Wie ich meine liebe Mutti sah, konnte ich das Weinen nicht mehr verheimlichen. Ja Tonerl, was hast denn? Ich: Fußweh. Mutti: Ich bereite dir sofort ein Fußbad. Liebe Mutti, wenn du wüsstest, warum ich weine, von Untermoi sind es fünf Gehstunden.“(S. 37)
Früh zeichnet sich schon ab, was sein Leben prägen sollte: Sein Geschick, sich in einer neuen Situation alleine zurecht zu finden und überall Menschen kennen zu lernen, die ihn nicht vergessen.
„Es ist mir sehr gut gegangen im Sommmer, fleißig geholfen bei der Arbeit. Frühling: Schafe gehütet. Schafe kamen auf die Alm, dann Kühe gehütet. Im Winter: Schule besucht, nach der Schule wieder im Stalle geholfen.[…]“(S. 37)
So beschreibt Anton Molling seinen Weg zunächst als Knecht, daraufhin als Kutscher bei einem bekannten Bauernarzt bevor er 1923 seinen ersten Job im Gastgewerbe antritt, ebenso wie alle späteren Lebensabschnitte mit einem deutlichen Fokus auf die Menschen, denen er begegnet ist.
„Mitte April 1928 fing ich wieder im Hotel Elefant an. Herr Cabal, ein französischer Major, ein Stammgast mit seiner Mutter. Seine Schwester, die war im Sanatorium. Er fragte, wo ich [gewesen] war? Ich war in Rapallo, sagte ich. Er sagte, ob ich nicht nach Frankreich möchte? Ich habe sofort ja gesagt, aber das wird schwer sein, denn ich habe keine Verbindung. Herr Cabal: Das werde ich besorgen: Soll sofort um einen Paß ansuchen. […] Habe ich Winter fleißig französische Stunden genommen […]“(S.63)
Tatsächlich tritt Anton Molling schließlich in Monte Carlo im Hotel ‚Mirabeau’ seinen Dienst an. Nach guten Jahren und Erfahrungen, die ihn immer weltmännischer werden lassen, trifft er nach seiner durch den Kriegsausbruch erzwungenen Rückkehr die Entscheidung zur Option, nicht so schwer für ihn, da er „faktisch schon seit über 15 Jahren ‚Heimatferner’“ ist, außerdem „ledig, in Südtirol weder Vermögen noch Grundbesitz“ aufweist und keine familiären Rücksichten“ (S. 16) zu nehmen braucht, wie Hans Heiss vermutet.
Molling heiratet allerdings bald die ebenfalls aus dem Gadertal stammende Marie Flöss, gemeinsam wandern sie aus und lassen sich in Salzburg nieder, wo sie zwei Kinder bekommen. In Erinnerung an die Züge der Auswanderer merkt er an:
„[…] Habe mir immer wieder gedenkt, wie viele von den Insassen werden heute zum ersten Mal die teure Heimat verlassen, was das heißt und ins Blaue. Ich habe das schon oft erlebt.[…]“(S. 16)
Anton Molling erinnert sich an manch einen, den er vielleicht nur einmal irgendwo in der Fremde getroffen hat sogar namentlich, besonders auch an diejenigen, die ihm in seiner Funktion als Hotelbediensteter Eindruck gemacht haben. Anekdotenhaft berichtet er von komischen, aber auch traurigen Begebenheiten und Begegnungen mit Menschen, die ihn interessiert oder fasziniert haben. Auch von den schrecklichen Jahren in russischer Gefangenschaft in einem sibirischen Lager bleiben ihm Erinnerungen an Einzelne.
„Die Russen waren sehr schlau, haben [sich ganz] auf die Gefangenen verlassen [und diese] verantwortlich gemacht. Unser Lagerkommendant war ein Welser, war in Stalingrad gefangen worden. Alle Ehre, er hat es verstanden, er hat mit uns herumgeschrien, aber wir wußten es. Das hat den Russen gefallen. Vor ihm war ein Bozner – gebürtig – Major […] der Herr Masera […] Ein Gefangener hat sich irgendwie in ein Stück Brot vergriffen und Lagerkommandant Masera hat gesat, er wird halt Hunger gehabt haben. Sofort wurde er entlassen, mußte als Strafe jeden Morgen die Brotkammer, den Boden feucht mit Glasscherben abkratzen. Er ist heimkommen nach Wien, aber bald gestorben.[…]“(S. 16)
Unzweifelbar hat Anton Molling seinen Beruf im Hotelwesen mit Leib und Seele ausgefüllt, wie maßgeschneidert scheint diese Arbeit auf ihn, kommt sie doch seiner Kontaktfreudigkeit und seinem Interesse an Menschen und deren Schicksalen entgegen. So etabliert er sich nach dem Krieg, indem er schließlich im berühmten ‚Weissen Rössl’ am Wolfgangsee und zuletzt in Salzburg als Portier waltet. Mit der Pensionierung und ein paar Zeilen zum nachfolgenden Urlaub in der Heimat, wo er seine damalige Gastfamilie besucht, endet Molling seine letztendlich in mehrfacher Hinsicht berührenden und eindrücklichen Aufzeichnungen, die Zeitgeschichte aus der ganz speziellen Sicht eines Einzelnen und seiner Art, dem Leben zu trotzen, erzählen und zugleich wertvoll und einzigartig sind, da es sich eben nicht um ein transkribiertes Interview, sondern um ein eigenständiges, unter Anstrengung hervorgebrachtes Schreiben handelt:
„[…]Ein lang ersehnter Wunsch, noch von der russischen Gefangenschaft aus, ging in Erfüllung. Noch mal im Leben [am] Würzjoch möchte ich bei dem Kreuz stehen. So oft dort gestanden, den herrlichen, gesegneten Aussichtspunkt erlebt.[…] Habe den Bauern aufgesucht, ein alter Herr – seit dem Krieg 1914 nicht mehr gesehen, 53 Jahre – haben uns beide so gefreut, die alten Zeiten aufgefrischt.“ (S. 156)
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