Rezensionen von Milena Meller
- Anton Molling,
- Georg Decristel,
„Auch die Erinnerung gewinnt mit jedem Jahr, indem sie älter wird. Bin nun 77 Jahre alt. Kann mich noch so gut erinnern. Gott sei Dank. Wahrscheinlich, indem ich immer wieder die Lebensweise unterscheide von damals und heute.“(S. 29) So beginnen die Aufzeichnungen des ladinischen Hotelportiers Anton Molling (1901-1987), der seine „Lebensbilanz“ auf den Rechnungsformularen des Salzburger Hotels ‚Traube’ festgehalten hat. Mitherausgeber Hans Heiss nennt diese Aufzeichnungen einen „Glücksfall Südtiroler Erinnerungsarbeit, ein Selbstporträt, hinter dessen eigenwilliger Diktion und subjektiven Zügen die Konturen der Landesgeschichte hervortreten“, würden doch die „Eckpunkte“ von Mollings Leben als „Ladiner, Hotelmann, Optant, Auswanderer vier zentrale Entwicklungsmomente Südtirols im letzten Jahrhundert berühren“.(S. 10) „Zum Kirchtag, zweiter Sonntag im Juli, sind wir, ich und Kathi, zum Kirchtag kommen. Wie ich meine liebe Mutti sah, konnte ich das Weinen nicht mehr verheimlichen. Ja Tonerl, was hast denn? Ich: Fußweh. Mutti: Ich bereite dir sofort ein Fußbad. Liebe Mutti, wenn du wüsstest, warum ich weine, von Untermoi sind es fünf Gehstunden.“(S. 37) Früh zeichnet sich schon ab, was sein Leben prägen sollte: Sein Geschick, sich in einer neuen Situation alleine zurecht zu finden und überall Menschen kennen zu lernen, die ihn nicht vergessen. „Es ist mir sehr gut gegangen im Sommmer, fleißig geholfen bei der Arbeit. Frühling: Schafe gehütet. Schafe kamen auf die Alm, dann Kühe gehütet. Im Winter: Schule besucht, nach der Schule wieder im Stalle geholfen.[…]“(S. 37) So beschreibt Anton Molling seinen Weg zunächst als Knecht, daraufhin als Kutscher bei einem bekannten Bauernarzt bevor er 1923 seinen ersten Job im Gastgewerbe antritt, ebenso wie alle späteren Lebensabschnitte mit einem deutlichen Fokus auf die Menschen, denen er begegnet ist. „Mitte April 1928 fing ich wieder im Hotel Elefant an. Herr Cabal, ein französischer Major, ein Stammgast mit seiner Mutter. Seine Schwester, die war im Sanatorium. Er fragte, wo ich [gewesen] war? Ich war in Rapallo, sagte ich. Er sagte, ob ich nicht nach Frankreich möchte? Ich habe sofort ja gesagt, aber das wird schwer sein, denn ich habe keine Verbindung. Herr Cabal: Das werde ich besorgen: Soll sofort um einen Paß ansuchen. […] Habe ich Winter fleißig französische Stunden genommen […]“(S.63) Tatsächlich tritt Anton Molling schließlich in Monte Carlo im Hotel ‚Mirabeau’ seinen Dienst an. Nach guten Jahren und Erfahrungen, die ihn immer weltmännischer werden lassen, trifft er nach seiner durch den Kriegsausbruch erzwungenen Rückkehr die Entscheidung zur Option, nicht so schwer für ihn, da er „faktisch schon seit über 15 Jahren ‚Heimatferner’“ ist, außerdem „ledig, in Südtirol weder Vermögen noch Grundbesitz“ aufweist und keine familiären Rücksichten“ (S. 16) zu nehmen braucht, wie Hans Heiss vermutet. „[…] Habe mir immer wieder gedenkt, wie viele von den Insassen werden heute zum ersten Mal die teure Heimat verlassen, was das heißt und ins Blaue. Ich habe das schon oft erlebt.[…]“(S. 16) Anton Molling erinnert sich an manch einen, den er vielleicht nur einmal irgendwo in der Fremde getroffen hat sogar namentlich, besonders auch an diejenigen, die ihm in seiner Funktion als Hotelbediensteter Eindruck gemacht haben. Anekdotenhaft berichtet er von komischen, aber auch traurigen Begebenheiten und Begegnungen mit Menschen, die ihn interessiert oder fasziniert haben. Auch von den schrecklichen Jahren in russischer Gefangenschaft in einem sibirischen Lager bleiben ihm Erinnerungen an Einzelne. „Die Russen waren sehr schlau, haben [sich ganz] auf die Gefangenen verlassen [und diese] verantwortlich gemacht. Unser Lagerkommendant war ein Welser, war in Stalingrad gefangen worden. Alle Ehre, er hat es verstanden, er hat mit uns herumgeschrien, aber wir wußten es. Das hat den Russen gefallen. Vor ihm war ein Bozner – gebürtig – Major […] der Herr Masera […] Ein Gefangener hat sich irgendwie in ein Stück Brot vergriffen und Lagerkommandant Masera hat gesat, er wird halt Hunger gehabt haben. Sofort wurde er entlassen, mußte als Strafe jeden Morgen die Brotkammer, den Boden feucht mit Glasscherben abkratzen. Er ist heimkommen nach Wien, aber bald gestorben.[…]“(S. 16) Unzweifelbar hat Anton Molling seinen Beruf im Hotelwesen mit Leib und Seele ausgefüllt, wie maßgeschneidert scheint diese Arbeit auf ihn, kommt sie doch seiner Kontaktfreudigkeit und seinem Interesse an Menschen und deren Schicksalen entgegen. So etabliert er sich nach dem Krieg, indem er schließlich im berühmten ‚Weissen Rössl’ am Wolfgangsee und zuletzt in Salzburg als Portier waltet. Mit der Pensionierung und ein paar Zeilen zum nachfolgenden Urlaub in der Heimat, wo er seine damalige Gastfamilie besucht, endet Molling seine letztendlich in mehrfacher Hinsicht berührenden und eindrücklichen Aufzeichnungen, die Zeitgeschichte aus der ganz speziellen Sicht eines Einzelnen und seiner Art, dem Leben zu trotzen, erzählen und zugleich wertvoll und einzigartig sind, da es sich eben nicht um ein transkribiertes Interview, sondern um ein eigenständiges, unter Anstrengung hervorgebrachtes Schreiben handelt: „[…]Ein lang ersehnter Wunsch, noch von der russischen Gefangenschaft aus, ging in Erfüllung. Noch mal im Leben [am] Würzjoch möchte ich bei dem Kreuz stehen. So oft dort gestanden, den herrlichen, gesegneten Aussichtspunkt erlebt.[…] Habe den Bauern aufgesucht, ein alter Herr – seit dem Krieg 1914 nicht mehr gesehen, 53 Jahre – haben uns beide so gefreut, die alten Zeiten aufgefrischt.“ (S. 156) |
Eine Auswahl aus seinen Werken 2003 im scarabäus-Verlag Innsbruck erschienen. „WEGGEHEN VON…: konzentration auf die kategorie des sich entfernens, zum beispiel weggehen vom rauschen des wassers bis zum ende des hoerens des rauschens des wassers; dann stehen bleiben und maultrommeln. im verlauf entwickeln sich MYSTIFIKATIONEN DES WEGGEHENS VON… dem entsprechend etwa konzentration auf das rauschen eines tonbandes, weggehen vom rauschen des tonbandes bis zum ende des hoerens des rauschens des tonbandes …“[1] Dieses Buch widmet sich der Arbeit des Künstlers Georg Decristel (1937-1997), wurde von seiner Partnerin Sonja und den Söhnen Michael und Stefan Bahn in Zusammenarbeit u. a. mit Silvia Eiblmayr (Beratung) und Elisabeth Zimmermann (ORF-kunstradio – CD-Produktion) herausgegeben und präsentiert eine Sammlung von Texten (jeweils Deutsch und Englisch) jener oben genannten illustren Runde, sowie Arbeiten von Decristel selbst: Faksimiles von Texten und visuellen Arbeiten sowie eine Audio-CD. Milena Meller. [1] Ausschnitt aus: Georg Decristel: „WEGGEHEN VON…“, Text, 1978 in: „Georg Decristel / weg bewegen / moving away“, Innsbruck, 2003: S. 7. |